Bini Adamczak fordert in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution (Suhrkamp 2017) ein anderes Verständnis von Revolutionen ein. Sie legt den Fokus auf revolutionäre Beziehungen und auf Revolution als Prozess statt als plötzliches Ereignis. Die Phase 2 hat sich mit Bini Adamczak in Berlin-Kreuzberg zu einem Gespräch über das Verhältnis von Emanzipation und Revolution getroffen.
Phase 2 In Deinen Veröffentlichungen trittst Du stets für die Suche nach einer revolutionären Perspektive in der gegenwärtigen linken Politik ein. Zugleich hat man den Eindruck, dass sich viele radikale Linke heute eher als »emanzipatorisch« verstehen denn als »revolutionär«. »Emanzipatorisch« scheint ein unverdächtiger Begriff zu sein, der die Abgrenzung von negativen historischen Bezügen erleichtert. Kann es sein, dass der Erfolg des Emanzipationsbegriffs eine Fernwirkung der Geschichte linker Revolutionen ist, deren Scheitern das Bedürfnis nach einem unbelasteten Begriff weckt?
Bini Adamczak Ich gehe nicht davon aus, dass der Begriff »emanzipatorisch« jenen von »revolutionär« ersetzt, sondern dass er quer dazu liegt: Es gibt Formen reformistischer oder subversiver Politik, die ich als emanzipatorisch bezeichnen würde, genauso wie es Formen revolutionärer Politik gibt, die äußerst autoritär sind, denken wir etwa an maoistische oder stalinistische Gruppen. Deswegen glaube ich, dass die Fernwirkung eher von 1968 oder den siebziger Jahren herrührt, in denen das Verständnis von Emanzipation stark von der feministischen Bewegung geprägt wurde. Auch in der Homo-Bewegung ist der Begriff zentral. Ich vermute, dass sich heute am ehesten jene Linke auf den Begriff »emanzipatorisch« beziehen, die in dieser Tradition verortet sind: eine antiautoritäre Tradition, die in Abgrenzung zur traditionalistischen Haupt- und Nebenwiderspruchslogik versucht, Herrschaft in ihrer Komplexität zu verstehen, und sich also gegen verschiedene Herrschaftsverhältnisse gleichzeitig wendet.
Phase 2 Und welche Bedeutung hat der Begriff der Emanzipation dann konkret für eine Theorie der Revolution?
Bini Adamczak Eine Revolutionstheorie muss einerseits eine allgemeine Bestimmung von Revolution geben und andererseits unterscheiden können, ob es sich um eine reaktionäre oder um eine emanzipatorische Revolution handelt. Ich verstehe revolutionäre Politik als eine Politik, die nicht im Rahmen der vorgegebenen Bedingungen verbleibt, sondern diese Bedingungen selbst politisiert und dadurch transformiert. Das kann auch in einer rechten oder reaktionären Weise passieren, weshalb es sinnvoll ist, zumindest ein Adjektiv zu haben, das die Unterscheidung ermöglicht.
Phase 2 Die deutsche Linke beschäftigt sich insgesamt nur noch selten ernsthaft mit der Revolution. In Gestern Morgen schreibst Du, dass das in den sechziger und siebziger Jahren ganz anders war. Da ließ sich etwa anhand der Frage, in welchem Jahr die Russische Revolution gescheitert sei, ziemlich präzise bestimmen, welcher Fraktion jemand angehörte. Findest Du, dass die Linke sich zu wenig mit der revolutionären Vergangenheit auseinandersetzt?
Bini Adamczak Die Revolution verschwindet spätestens ab den siebziger Jahren aus der Theoriebildung. Jürgen Habermas und viele andere linke TheoretikerInnen vertraten die Auffassung, dass wir uns von diesem Transformationsmodell verabschieden müssten, da es einer Politik des 19. oder des beginnenden 20. Jahrhunderts angehöre und dem gewandelten Kapitalismus nicht mehr entspreche. Das findet sich auch bei aktuellen TheoretikerInnen wie Oliver Marchart, der sagt, die große Revolution sei ein Phantasma vom Bruch, von Stunde Null und Tabula rasa, dagegen müssten wir Politik ganz anders denken, etwa mit dem Begriff der »Mikrorevolution«.
Der Begriff der Revolution verschwindet aber auch, weil die Revolution verschwindet. Als ich angefangen habe, über die Revolution zu schreiben, gab es keine, nirgends—es war ein historisches Thema. Und während ich in der Berliner Staatsbibliothek sitze, bricht auf einmal eine Revolution aus: der »Arabische Frühling«. Plötzlich ist der Begriff wieder da. Die Hoffnungen sind in den allermeisten Regionen enttäuscht worden, der Emanzipationsprozess blieb stecken. Aber die Revolution erscheint wieder als Möglichkeit. Das hängt mit der Weltwirtschaftskrise 2007 zusammen, durch die die Stabilität des kapitalistischen Systems zweifelhaft geworden ist. Eine historische Veränderung, die wir auch bei den Gilets Jaunes sehen. Auf einmal ist es nicht mehr ganz so unrealistisch, dass ein Umsturz geschehen kann. Die Revolution kehrt zurück in das gesellschaftliche Imaginäre.
Phase 2 Was bedeutet das für die linke Diskussion?
Bini Adamczak Die Linke muss, wo der Anspruch ihrer Kritik radikal ist, die theoretische Möglichkeit der Revolution auch unter der historischen Bedingung ihrer Abwesenheit aufrechterhalten. Wie sonst sollte eine radikale Kritik des Bestehenden kulturell intelligibel sein können und nicht den Charakter von Wahnsinn tragen? Wenn wir gegen die bestehende Ordnung behaupten möchten, dass eine andere Welt nicht nur denkbar, sondern machbar ist, dann müssen wir die radikale Transformation zuallererst einmal denken. Dafür steht der Name Revolution. In dieser Funktion eines Platzhalters taucht der Begriff auch in der Kritischen Theorie auf, bei Adorno und Benjamin, er ist Garant der Möglichkeit einer radikalen Kritik.
Phase 2 Heißt das, Du würdest die Revolution nicht als einen großen Bruch verstehen?
Bini Adamczak Ja. Die TheoretikerInnen, die die Revolution als Phantasma des absoluten Bruchs und der Souveränität verwerfen, aber auch diejenigen, die die Revolution als theoretische Figur anrufen, als Statthalter für die Möglichkeit von Kritik, arbeiten mit einem ziemlich abstrakten Begriff von Revolution. Weder beschäftigen sie sich damit, wie Revolutionen historisch wirklich abgelaufen sind und ob sie diesem abstrakten Begriff überhaupt entsprechen, noch stellen sie die Frage, ob dieser Begriff von Revolution für eine revolutionäre Praxis sinnvoll ist oder sie nicht vielmehr behindert. Das sind meine zwei Perspektiven. Erstens untersuche ich, wie Revolutionen eigentlich funktionieren: Laufen sie nicht viel komplexer ab, als wir gemeinhin meinen, ein großes Durcheinander, in dem sich emanzipatorische Momente mit anderen Momenten in einem unübersichtlichen Strudel vermischen? Und zweitens frage ich: Welches Verständnis von Revolution ist sinnvoll? Und zwar nicht nur rein analytisch, also um Revolutionen besser und klarer verstehen zu können, sondern auch politisch, also um sie siegreicher und erfolgreicher zu machen.
Phase 2 Gerade mit Blick auf dieses Praktisch-Werden der Revolution scheint es uns wichtig zu sein, das Verhältnis von individueller und kollektiver Emanzipation zu bestimmen. Über welche Konzepte menschlicher Emanzipation verfügen wir, die nicht beim Einzelsubjekt stehen bleiben, aber das Individuum auch nicht zur Verfügungsmasse eines kollektiven Umsturzes reduzieren?
Bini Adamczak Ich glaube, dass die Fragestellung »Individuum oder Kollektiv?« immer in eine Sackgasse führt, und dass wir uns von ihr lösen sollten. Meine These ist, dass diese Gegenüberstellung in einer philosophisch verdichteten Weise die Konstellation von 1917–1968 wiederholt, aber keinen begrifflichen Ausweg aus dem Dilemma bietet. Wenn wir das Denken von 1968 als eine Reaktion auf die, wie Adorno sagt, »verwaltete Welt« verstehen, dann wird verständlich, warum die Fantasie entsteht, das Individuum könne der Prüfstein der Freiheit sein. Aber diese Vorstellung reproduziert die Ohnmacht, der sie entstammt. Ich halte Hannah Arendts Begriff der »totalen Herrschaft« zwar nicht für hilfreich, weil er Stalinismus und Nationalsozialismus auf einen einzigen Begriff zu bringen versucht, aber davon abgesehen erlaubt ihre Analyse einige zentrale Einsichten: Arendt bestimmt sehr präzise, dass die Verlassenheit—das heißt die Atomisierung, die Zerstörung sozialer Bindungen—die Grundlage totaler Herrschaft bildet. Individuum und Totalität sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig: Nur dort, wo die Individuen radikal vereinzelt sind, ist es überhaupt möglich, eine totale Form von Herrschaft zu etablieren. In diesem Sinn schlussfolgert ein Anarchist wie Gustav Landauer: Die Opposition besteht zwischen Individuum und Totalität einerseits und Beziehungen von Beziehungen, Bindungen von Bindungen andererseits.
Der Versuch, die Totalität oder die Zwangskollektivierung vom Individuum her zu kritisieren endet in einer Sackgasse. Das Problem an der Zwangskollektivierung ist nicht, dass sie zu kollektiv war, sondern dass sie es zu wenig war. Ein Zentralkomitee ist keine Kollektivherrschaft, sondern die Herrschaft über ein Kollektiv.
Phase 2 Wie lässt sich das theoretisch denken?
Bini Adamczak Einen wichtigen Versuch sehe ich in Jean-Luc Nancys Begriff der Gemeinschaft. Für Nancy zeichnet sich Gemeinschaft dadurch aus, dass Menschen auf der Grundlage von Gleichheit zusammenkommen, um gemeinsam zu leben. Denken wir Kollektivität jedoch als eine pyramidale Hierarchie oder als homogenes Subjekt, dann ist das Gemeinschaftliche verschwunden, das nämlich in den Verbindungen zwischen den Verschiedenen besteht. Deswegen kann die Nation nie eine Gemeinschaft sein. Gemeinschaft wäre etwas Demokratisches, in dem alle sprechen können und gemeinsam entscheiden. In eine ähnliche Richtung zielt mein Begriff der Beziehungsweisen: Es geht darum, anstelle der falschen Oppositionen »Totalität oder Subjekt« von Verbindungen aus zu denken.
Phase 2 Ist der Begriff der Emanzipation für dich aus diesem Grund nicht so zentral? Emanzipation meint ja die Befreiung aus vorgegebenen Bindungen, seien sie familiär, ständisch, herrschaftlich oder vermeintlich natürlich. Dein Begriff der Beziehungsweisen befasst sich hingegen gerade damit, wie neue Bindungen eingegangen werden können. Das kann der Begriff der Emanzipation aus seiner spezifischen Tradition heraus gar nicht leisten.
Bini Adamczak Ja, das ist interessant. So verstanden ist der Begriff Emanzipation Teil dieses negativen Universums: Ausgang aus, Abschaffung von, Befreiung aus. Er markiert die Flucht aus einer Situation der Bevormundung oder der Unterdrückung. Hannah Arendt hat sinngemäß geschrieben: Befreiung ist noch keine Freiheit. Nach der Befreiung stellt sich die Frage: Was nun? Diese Frage möchte ich ins Zentrum der Diskussion rücken, weil ich meine, dass das die eigentlich schwierigere Frage ist. Es kann zwar praktisch sehr schwer oder gar unmöglich sein, sich aus einer Bindung zu lösen, eine Beziehung zu beenden, aber theoretisch ist es relativ einfach. Du brichst die Beziehung ab, entziehst dich ihr, auch körperlich, beendest das Verhältnis. Das Erbe von 1968 hat sich auf eine spezifische Weise mit den Fliehkräften des Kapitalismus verbunden und war daher genau in diesen Bewegungen des Zerbrechens, der Fragmentierung, der Auflösung erfolgreich. Wir sind froh, dass die autoritären Institutionen, insbesondere des Patriarchats, der bürokratischen Herrschaft und der fordistischen Fabrik- und Familienorganisation gebrochen sind. Aber wenn an deren Stelle eine Situation der kulturellen Singularisierung und sozialen Fragmentierung getreten ist, dann ist das maximal ein halber Sieg.
Phase 2 Liegt die von dir beschriebene Ambivalenz des Erbes von 1968 auch darin, dass der Schritt von Selbstbestimmung zu Selbstbeherrschung und Selbstoptimierung gar nicht so weit ist? Ist das Moment der Selbstbeherrschung in der Idee der Selbstbestimmung immer schon enthalten?
Bini Adamczak So können wir es auch verstehen. Emanzipation geht hierin zwar nicht auf, aber es gibt dieses Moment, dass Emanzipation—als Befreiung, als Autonomie, als Selbstbestimmung—eher den Charakter eines Abbruchs von Beziehungen hat und noch nicht den einer Neukonstruktion von Beziehungen. Letzteres ist stärker im Begriff der Kommune oder dem der Solidarität enthalten. Vielleicht rührt daher auch unser unterschiedliches Verständnis von Emanzipation. Ihr betrachtet Emanzipation als eine transformative Perspektive und setzt sie in ein Verhältnis zur Revolution—»Revolution oder Emanzipation«—,während ich den Begriff normativ verwende: Es gibt einerseits reaktionäre oder herrschaftliche Revolutionen und andererseits emanzipatorische Revolutionen, also Revolutionen, die Beziehungen mit einem höheren Freiheitsgrad stiften.
Phase 2 In Beziehungsweise Revolution bestimmst Du Geschlecht bzw. geschlechtliche Arbeitsteilung als zentrale Frage der Emanzipation bzw. der Revolution und schlägst vor, Geschlecht als »Reichtum von Existenzweisen« zu begreifen, also von Möglichkeiten zu leben, die man sich aneignen müsse. Aber wie lässt sich dieser Reichtum individuell und kollektiv aneignen, wenn doch Geschlecht nicht nur Reichtum, sondern auch Zwang bedeutet?
Bini Adamczak Ich gehe davon aus, dass die feministische revolutionäre Antwort von 1917 und die feministische Antwort in der Folge von 1968 gegenteilige Antworten auf dasselbe Problem darstellen: auf die Spaltung der Gesellschaft im Modus des Geschlechts. 1917 wird versucht, den geschlechtlichen Reichtum kollektiv anzueignen auf der Basis universeller Gleichheit. Der geschlechtliche Reichtum wird aber zuvor halbiert. Die Gleichheit ist eine männliche. Das ist also eine kollektive Politik der Verarmung. Die Antwort, die unsere Gegenwart prägt, in der neoliberalen Aneignung von 1968, ist die Affirmation des Reichtums, der Vielfalt, die aber nur in der individualisierten Form des Privateigentums, das heißt der Identität angeeignet werden kann. Das bedeutet erstens keine Gleichheit und ist zweitens ebenfalls verarmend, weil das Individuum von seinen sozialen Beziehungen enteignet ist. Was wäre die Alternative? Eine Formulierung wie »kollektive Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums von Geschlecht« ist zunächst nur ein Slogan. Aber gemeint ist damit auch, dass eine Gesellschaft Entscheidungen treffen muss, also gemeinsam darüber zu beratschlagen hat, wie sie gesellschaftliche Arbeitsteilung organisieren will, welche Affekte sie stärken und welche sie schwächen oder zum Verschwinden bringen möchte, ob sie etwas tabuisieren will und in welcher Form; und darüber, wie es möglich wird, die Grenzen der Arbeitsteilung zu überschreiten.
Es ist allerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass Wörter wie »Individuum« und »Kollektiv« keine stabilen Begriffe sind. Das Kollektiv ist immer von massenhaften Linien und verschiedenen Beziehungsweisen durchzogen, unterschiedlichen Gruppierungen und Formierungen—aber das, was man Individuum nennt, ja ebenso. Die Singularisierung, die in der poststrukturalistischen Diskussion noch als emanzipatorisches Moment begrüßt wurde, ist heute Moment von Herrschaft.
Phase 2 Deine Perspektive auf Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit als Reichtum von Existenzweisen, den man sich aneignen kann oder muss, ließe sich als dekonstruktivistisch bezeichnen. Eine Theoretikerin wie Tove Soiland würde gegen sie vermutlich einwenden, dass bei diesem Zugang etwas übersprungen wird. Denn warum sollen zwei Geschlechter dekonstruiert werden, wenn es erstmal darum gehen müsste, dem weiblichen Geschlecht überhaupt erst den vollen Subjektstatus zu erkämpfen, also darum, dass Frauen sich als politisches Kollektivsubjekt umfassend emanzipieren? Würdest Du sagen, diese emanzipative Schlacht ist schon geschlagen und auch Aspekte von Männlichkeit können nun als ein »Reichtum« im positiven Sinne angeeignet werden? Oder ist schon die Annahme eines zeitlichen Nacheinanders falsch?
Bini Adamczak Ja, das halte ich für falsch. Genau diese Annahme ist das Problem, das ich anhand des Vergleichs der verschiedenen revolutionären feministischen Wellen zu skizzieren versuche. Wer fordert, dass es zunächst darum gehen müsse, dem weiblichen Geschlecht den vollen Subjektstatus zu erkämpfen, vertritt in dieser Hinsicht das Erbe des traditionell sozialistischen Feminismus. Dessen Antwort auf die Entrechtung und Unterprivilegierung eines Teils der Bevölkerung besteht in der Forderung nach Gleichheit mit dem anderen Teil. Gleichheit ist dann Gleichheit mit den sogenannten Männern, also Angleichung. Dadurch schleicht sich in den Begriff der Emanzipation eine teils implizite, teils explizite männliche Norm ein, mit der die nächste feministische Bewegung zu kämpfen hat.
Aus Sicht der zweiten Frauenbewegung ist es kein Zufall, dass die Utopien, die auf dieser Grundlage entwickelt wurden, durch Hyperrationalismus, Konkurrenz oder auch Militarismus gekennzeichnet sind, also durch einen Mangel an Sorge, an Bindungen, an Zärtlichkeit, Empathie und Solidarität. Es ist kein Zufall, dass das, was wir als Subjekt verstehen, selbst die Universalisierung einer bestimmten Armut ist und immer den Marker von Herrschaft tragen wird. In diesem Sinne wurde in der zweiten Frauenbewegung ein Gegenmodell entwickelt: Statt erst einmal Subjekt zu werden, gelte es, die Eigenheiten, die Frauen ausgebildet haben, aus der Subordination zu befreien, sie wertzuschätzen und ihnen Anerkennung zukommen zu lassen, ihre Besonderheit und Differenz herauszuarbeiten. Ich muss vielleicht nicht ausführen, welche problematischen Effekte dieser Ansatz mit sich bringt: wiederum eine Verarmung, wiederum die Reproduktion herrschaftlicher Positionen, aber auch eine Homogenisierung nach innen, ein Abschneiden von widersprechenden Aspekten, usw.
Phase 2 Und Dein Ansatz?
Bini Adamczak Ich glaube, dass diese Idee der Hierarchisierung—erstmal A und danach B—nicht funktioniert, weil auch Herrschaft nicht so funktioniert. Angesichts der neoliberalen Situation, die das Resultat einer fundamentalen Fragmentierungsbewegung ist, besteht unsere Aufgabe darin, die Verbindungslinien ausfindig zu machen, zu stärken und zu pointieren. Patriarchale Herrschaft, Zwangsheterosexualisierung, die Konstruktion geschlechtlicher Ausschließlichkeit, von Zwei- oder auch Dreigeschlechtlichkeit, ja, von Identität insgesamt und ein bestimmtes Sexualitätsregime sind sehr eng miteinander verwoben und lassen sich nur gemeinsam adressieren. Der Kampf wird nicht geschwächt, wenn wir das gleichzeitig angehen, sondern gestärkt.
Phase 2 Inwiefern?
Bini Adamczak Es leuchtet bereits logisch unmittelbar ein, dass die Unterdrückung eines Geschlechts durch ein anderes zur Voraussetzung hat, dass diese Geschlechter als existent und stabil angenommen werden. Man kann keine patriarchale Ordnung aufrechterhalten ohne die Annahme solcher voneinander geschiedenen Geschlechter. Das heißt aber andersrum genauso wenig, wir müssten erst alles dekonstruieren und könnten erst dann … Quatsch! Die Versuche, die Kämpfe zu hierarchisieren, die ja auch innerlinke Auseinandersetzungen um Ressourcen sind, sind selten produktiv und werden oft sehr unsolidarisch geführt. Die Herrschaftsverhältnisse existieren gleichzeitig, wir müssen sie also auch gleichzeitig angehen.
Phase 2 Eine kleine Abbiegung, wo wir bei innerlinken Kämpfen sind: Dein Buch hat viel Zuspruch erfahren, und zwar aus durchaus unterschiedlichen linken Spektren. Nicht zuletzt für antideutsche Linke sind Deine Vermittlungsversuche jedoch an bestimmten Stellen irritierend. Ausgehend von einer Reflexion auf das historische Scheitern der Linken schreibst Du gegen das Bilderverbot an, gegen die Schwäche der Linken, nicht aufs Siegen vorbereitet zu sein, gegen das Sich-Ergehen in Negativität und in Resignation. Aber auch die Kernpunkte der antideutschen Linken sind ja Ergebnis einer Reflexion auf die Geschichte, gewissermaßen eine Lehre aus der Vergangenheit—aus regressiver linker Theorie und Praxis, aus dem Autoritarismus auch in der ArbeiterInnenklasse und natürlich vor allem aus dem Nationalsozialismus. Du übst zwar Kritik an linken Revolutionsideologien, hältst aber dennoch an einem positiven Begriff der Revolution fest. Wie passen antideutsche Kritik und dieses politische Festhalten an der Revolution zusammen—also an Revolution nicht nur als abstrakter Chiffre, wie z.B. in der älteren Kritischen Theorie, sondern als ein auf die konkrete Praxis bezogener Begriff?
Bini Adamczak Was die antideutsche Tradition ins Leben gerufen hat, ist die Erfahrung einer Niederlage: 1990, die Wiedervereinigung, das Wiedererstarken des Nationalismus, die Revision der Nachkriegsordnung, die Wiederkehr des souveränen Deutschlands, dieser unglaubliche, mörderische und zugleich institutionell abgesicherte Rassismus. In dieser Situation auf die Niederlage zu reflektieren, auch auf die eigene Verantwortung, die Mitschuld der Linken, auf den eigenen linken Nationalismus, den eigenen linken Antisemitismus; in dieser Situation auch zurückzugehen auf den Nationalsozialismus, vor allem auf Auschwitz: Das ist die Radikalität und das Erbe der antideutschen Linken, das fortgeführt werden muss. Wir müssen jedoch zugleich darauf reflektieren, inwiefern in der Radikalität der Bewegung auch Reduktionen und Engführungen enthalten sind, Vereinseitigungen des Denkens von Geschichte, die es gar nicht mehr erlauben, noch Auswege finden zu können. Das trifft in hohem Maße auf die Begriffe Revolution und Kollektivität zu. Es gibt einen linksradikalen Verdacht, dass eine Revolution, an der sich eine Masse von Menschen beteiligt, in so etwas wie dem Nationalsozialismus enden müsse. Es gibt den Verdacht, Kollektivität wäre Volksgemeinschaft.
Für mich als Stalinismusforscherin ist das höchst irritierend. Wer will, kann der Linken sehr viel vorwerfen, insbesondere den Stalinismus, den Maoismus, den Pol-Potismus. Die Linke hat ihre eigene Geschichte von Verbrechen. Der Nationalsozialismus hingegen ist keine Geschichte des Scheiterns der Linken, sondern die Geschichte ihrer Niederlage. Die Linke hat es nicht geschafft, die faschistische Herrschaft zu verhindern, sie mit eigenen Mitteln zu besiegen, ja. Aber der Nationalsozialismus ist kein Sozialismus—wer das behauptet ist Geschichtsrevisionist. Wenn wir wirklich fragen, warum die Linke den Nationalsozialismus nicht verhindern konnte, stoßen wir auf andere Fragen. Die Niederlage der Linken lag nicht daran, dass sie zu mächtig war, sondern daran, dass sie nicht mächtig genug war. Nicht vor allem daran, dass sie zu kollektivistisch war, sondern eher daran, dass sie es zu wenig war. Nicht nur daran, dass ihre Kritik des Faschismus nicht scharf genug war, sondern mehr noch daran, dass sie den Unterschied zwischen regressiven Linken, bürgerlicher Mitte und Nazismus verwischt hat. Nicht nur daran, dass sie die notwendigen Spaltungen aufgeschoben hat, sondern mehr noch daran, dass sie unfähig war, in den richtigen Situationen Bündnisse einzugehen. Das sind andere Fragen als die der inneren Korrumpierung. Die Geschichte des Stalinismus ist die Geschichte des Scheiterns der Linken, die Verkehrung eines emanzipatorischen Traums in einen autoritären Alptraum. Wer sich von der Linken verabschieden will, kann dafür den Stalinismus als Grund anführen. Die Frage, wie es möglich ist, in einer kommunistischen Tradition zu stehen trotz der Erfahrung des Stalinismus, ist eine Frage, die eine ernsthafte, schmerzhafte und schwierige Auseinandersetzung verlangt. Hingegen zu behaupten, man wolle sich von der Linken verabschieden wegen der Erfahrung des Nationalsozialismus ist im besten Fall Schwachsinn.
Phase 2 Du hast gerade als ein wichtiges Motiv der antideutschen Linken die Kritik am tödlichen Rassismus im wiedervereinigten Deutschland herausgestellt. Andererseits rufst Du ins Bewusstsein, dass es damals in Ostdeutschland große Streiks gab, wenngleich sie überwiegend gescheitert sind. Sollte beides gleichzeitig gedacht werden, auch in seiner Widersprüchlichkeit: Ostdeutschland Anfang der 1990er als Ort rassistischer Pogrome und eines völkischen nationalen Taumels, aber gleichzeitig der Ort von Kämpfen, von revolutionären Beziehungen?
Bini Adamczak Ich denke es noch enger zusammen: Die Niederlagen der emanzipatorischen Kämpfe bilden die Grundlage für die Erfolge der Rechten. Denkt an Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands, darin gibt es ein Gespräch zwischen Vater und Sohn, das wie folgt montiert ist: Während die beiden im Zimmer auf und ab gehen und draußen die Lautsprecher der Nazis hören, reflektiert der Vater über die Kämpfe in Bremen fünfzehn Jahre zuvor, die Kämpfe der Matrosen. Immer ist klar: Dort, wo die Linken die Niederlagen erleiden, werden die Rechten stark. Die Niederlage von 1918–19 ist eine der Bedingungen von 1933. Und ähnlich: Hätte sich die Bewegung von 1989–90 weiter in eine emanzipatorische Richtung entwickelt, hätte es die Grundlage für den nationalistischen Taumel nicht gegeben. Das hängt miteinander zusammen. Als Vergleich: Die Niederlage von Syriza, das Zerschlagen dieses Emanzipationsversuchs der griechischen Linken für die griechische Bevölkerung, hat einen direkten Einfluss auf das Erstarken der Rechten in ganz Europa. Die Niederlage von Syriza und der rechte Brexit in Großbritannien hängen miteinander zusammen.
Phase 2 Aber bestand nicht die Niederlage von Syriza schon darin, eine Koalition mit der antisemitischen rechten Partei ANEL einzugehen? Das Bild, das Du entwirfst, ist eines von sehr klaren Fronten: Es gibt zwei Lager, die Linke und die Rechte, und da, wo die Linke sich zurückzieht, kann die Rechte sich Raum nehmen. Aber die Fronten verlaufen doch nicht so eindeutig. Innerhalb der Linken bestehen auch Fronten, finden sich Widersprüche und vor allem autoritäre und regressive Tendenzen, in denen die Niederlage schon enthalten ist.
Bini Adamczak Iannis Varoufakis beschreibt in seinem sehr empfehlenswerten Buch Die ganze Geschichte seinen machtpolitischen Kampf gegen Wolfgang Schäuble aus einer Insider-Perspektive. Aus seiner Schilderung geht hervor, dass dieses Bündnis, wenn überhaupt, keine Niederlage ist, sondern ein Scheitern. Laut Varoufakis will niemand in Syriza diese Koalition. Sie gehen sie mit größtem Widerwillen ein, im Bewusstsein, dass es keine andere Möglichkeit zu einer Regierungsbildung gegen die Austeritätspolitik gibt, zugleich mit der Hoffnung, verhindern zu können, dass der kleine Koalitionspartner Einfluss auf die zentralen Politikfelder nehmen werde. Worauf ANEL dann Einfluss hatte, waren vor allem die Bereiche der militärischen Symbolpolitik und des Nationalismus. Ätzend, aber ein Zeichen für den Nationalismus der Linken?
Phase 2 Das erinnert an die Diskussion, die etwa in der Analyse & Kritik um »linke Klassenpolitik« geführt wurde und wird. Wenn es da um die Frage geht, wie sich der rechte Erfolg erklären lasse, ist die Antwort oft: Die Rechten machten gerade das bessere Angebot, was Klassenpolitik betrifft. Wird da nicht ein sehr schematisches Bild vom rechten Erfolg gezeichnet?
Bini Adamczak Wer behauptet, die Linke sei schuld am Aufstieg der Rechten, betreibt eine große Entschuldungspolitik, vor allem der bürgerlichen Mitte. Ich halte allerdings die Analyse für richtig, dass eine emanzipatorische Politik auf der Ebene realer Machtverhältnisse das Substitut des Nationalismus überflüssig machen, ihm die Grundlage entziehen kann. Bis heute wird beispielsweise die Frage diskutiert, woher der krasse Rassismus insbesondere in Ostdeutschland kommt. Es gibt eine Vielzahl von Erklärungsversuchen und viele haben ihre Berechtigung. Harry Waibel etwa wird nicht müde, immer wieder auf den verdrängten Neofaschismus in der DDR hinzuweisen, auf das Fehlen eines ostdeutschen 1968. Yes, true. Aber gleichzeitig: Wäre die Wiedervereinigung unter entgegengesetzten Vorzeichen abgelaufen, hätte also die DDR die BRD geschluckt—unabhängig von den Wirtschaftsordnungen—,dann würden wir diesen Nationalismus und Rassismus heute im gleichen Maße in Westdeutschland sehen. Dieser Nationalismus ist auch eine Reaktion auf die Erfahrung einer Migration ohne Bewegung. Tatsächlich wurden die Ostdeutschen, wie Naika Foroutan festgestellt hat, in eine Situation von MigrantInnen gebracht, von »BürgerInnen zweiter Klasse«. Das von ihnen erworbene Wissen, etwa über den Umgang mit Institutionen, über die Organisation des Alltags, Bildung, Status, Tradierung usw. war entwertet, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit sind real. Das ist eine ähnliche Position, in der sich Gastarbeiter-Innen, MigrantInnen befinden. Es gibt wenig Möglichkeit, tatsächlich am gesellschaftlichen Reichtum zu partizipieren, weder ökonomisch, über Einkommen, noch politisch, über Mitbestimmung, gar Selbstbestimmung. Der Nationalismus ersetzt diese reale Macht auf der Ebene des Gefühls. Die Menschen in Ostdeutschland sind de facto in der Position von etwas besser gestellten MigrantInnen, aber ihnen wird das Angebot unterbreitet, zur Gemeinschaft der Deutschen zu gehören, den mächtigen weißen Männern in ihrem mächtigen Staat. Diese Fantasie einer falschen Gemeinschaft, die Fantasie, zu den Starken zu gehören, ja überhaupt dazuzugehören, wird erkauft durch den Ausschluss, das Abwerten, die Verachtung von anderen, die sich eigentlich in einer vergleichbaren Lebenssituation befinden. Die Rechten machen überhaupt keine Klassenpolitik. Sie bieten einen schlechten Ersatz für Klassenpolitik, ein Angebot imaginärer Zugehörigkeit zu einer autoritären Gemeinschaft, das Sicherheit gegenüber der Entwertung der eigenen Position verspricht.
Diese Operation verfängt weniger bei Menschen, die tatsächlich über die Möglichkeit verfügen, auf ihre Lebensverhältnisse Einfluss zu nehmen. Und das betrifft nicht nur die Fragen der Arbeit, sondern auch die Fragen des Wohnens, der Sexualität, des alltäglichen Lebens. Die Menschen sind gesellschaftlichen Transformationen auf der Ebene ihrer individuellen Lebensführung ausgeliefert, weil nur eine kollektive Organisierung ihnen ermöglichen würde, über die Bedingungen des geteilten Lebens zu verfügen. Einige dieser Machtfragen wurden in den ostdeutschen Streiks der frühen neunziger Jahre aufs Tablett gebracht. Die Auswirkungen ihrer Niederlagen spüren wir noch heute.