»Die Vertreibung ist das am meisten gedeutete und am wenigsten erforschte Gebiet der deutschen Zeitgeschichte« (Hans Henning Hahn). Angesichts der öffentlichen Präsenz des Themas mutet diese Aussage merkwürdig an. Doch in ihrem Buch Die Vertreibung im deutschen Erinnern zeigen die HistorikerInnen Eva Hahn und Hans Henning Hahn, warum es sich bei »der Vertreibung« vor allem um einen Mythos handelt. Die gängigen Erinnerungsbilder, Redeweisen und Stereotype sind im Wesentlichen seit den fünfziger Jahren unverändert und stammen nicht selten noch aus der NS-Zeit. Zugleich halten sie keinerlei wissenschaftlicher Überprüfung stand, wie bereits das »Zahlenlabyrinth« zeige: Die Angaben über die Zahl der vertriebenen Deutschen variieren zwischen drei und 20 Millionen. Nur selten würde überhaupt danach gefragt, »wann und warum die Betroffenen ihre Heimat verlassen haben«.
Ziel des Buches ist eine »analytische Bestandsaufnahme des bisherigen Erinnerns an die Vertreibung« und eine »Anregung für eine weiterführende Erforschung« zu liefern. Im ersten Teil werden populäre Bilder der Vertreibung sowie gängige Erklärungsansätze aus dem aktuellen deutschen Diskurs unter die Lupe genommen. Der zweite Teil behandelt »aus dem deutschen kollektiven Gedächtnis bisher weitgehend verdrängt[e]« Erinnerungen, dazu gehören neben den Ansiedlungen sogenannter Volksdeutscher in besetzten Gebieten auch die von den NS-Behörden veranlassten Evakuierungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Im dritten Teil geht es um die Entstehung des Mythos in der frühen Bundesrepublik. Das durch den damaligen »staatlichen Interventionismus« geprägte Bild von »der Vertreibung« sei in seinen Grundzügen bis heute populär geblieben. Der vierte Teil widmet sich der oft übersehenen Vielfalt von Erinnerungen. Dazu gehört ein Abschnitt zu Erika Steinbach und »ihren« Historikern genauso wie einer zum Journalisten Kurt Nelhiebel, selbst aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt und einer der schärfsten Kritiker des Bundes der Vertriebenen (BdV). Ein ausführlicher Anhang versucht schließlich Licht in das Zahlenlabyrinth zu bringen und offenbart dabei zahlreiche Forschungslücken.
Exemplarisch für die dekonstruktivistische Arbeit des Buches steht das angebliche Massaker von Nemmersdorf: Anhand einer Gegenüberstellung unterschiedlichster Forschungsliteratur und Quellen zeigen Hahn und Hahn, wie gering das tatsächliche Wissen über die Vorgänge in dem ostpreußischen Dorf im Oktober 1944 ist. Ungeachtet dessen wird Goebbels' Kriegspropaganda über die Gräueltaten der Roten Armee bis heute mehr oder weniger unhinterfragt übernommen, selbst von einem durchaus als kritisch geltenden Wissenschaftler wie Micha Brumlik. An anderer Stelle weisen Hahn und Hahn nach, wie bei Guido Knopp während der deutschen Besetzung ermordete Tschechen in einer Bildunterschrift zu »ermordeten Sudetendeutschen« werden.
Erfreulich ist, dass die AutorInnen bei solchen detaillierten Analysen das Gesamtbild nicht aus den Augen verlieren. Insgesamt gäbe es in Deutschland wenig Interesse daran, die Vertreibung in ihrem historischen Zusammenhang zu verstehen. Vielmehr verwiesen die meisten Darstellungen auf »Emotionen, unsichtbare Gewalten und unfassbare Kräfte«, die das Beschriebene letztlich unerklärbar erscheinen lassen. Die Vertreibung würde nicht als Teil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs verstanden, sondern als »mit den NS-Verbrechen verwandtes historisches Phänomen«, dessen sich die Alliierten nach ihrem Sieg über das NS-Regime schuldig gemacht hätten. Neben leeren Begriffen wie »Unrecht« oder »menschliches Leid« kritisieren Hahn und Hahn vor allem die üblichen Erklärungsansätze: Immer wieder würden »irrationale Gründe« wie Rache, Vergeltung oder die angeblich in ganz Europa vorherrschende Wahnvorstellung von ethnisch-nationaler Homogenität angeführt, während etwa die politische Rationalität der Alliierten überhaupt nicht erwähnt wird.
Fast schon arglos mutet zum Teil der Glaube der AutorInnen an die aufklärerische Wirkung von Fakten an. Obwohl Erinnern in der Einleitung als »konstruktiver Akt« beschrieben wird, werden die Vergangenheitsbilder durchgängig am Maßstab sorgfältiger empirischer Forschung gemessen und mitunter zu »Irrtümern« erklärt. An einer Stelle äußern Hahn und Hahn gar die Hoffnung, »dass sich irgendwann einmal die Politik aus dem Erinnern an die Vertreibung zurückziehen wird«. Die Frage, warum die beschriebenen Vergangenheitsbilder so wenig hinterfragt werden und welche politischen Interessen der gewünschten sachlichen Herangehensweise an das Thema entgegenstehen, wird leider nur am Rande gestellt.
Das schmälert indes nicht im Geringsten den großen Verdienst der beiden AutorInnen, deren jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Thema dem Buch deutlich anzumerken ist. Die akribische Dekonstruktion verschiedener Vertreibungsmythen basiert auf unzähligen Materialien wie Zeitzeugenberichten, Studien, Quelleneditionen, öffentlichen Reden, literarischen Werken, Schulbüchern etc., die oft zu Unrecht völlig unbekannt sind. Wegen seines Umfangs von über 800 Seiten und der oft recht kleinteiligen Darstellung eignet sich das Buch nicht unbedingt zum Auf-einmal-Durchlesen. Als eine Art Nachschlagewerk stellt es aber einen enormen Schatz dar – nicht nur für ExpertInnen. Wie zu erwarten, trifft ein solche Infragestellung der Paradigmen des hiesigen Vertreibungsdiskurses nicht immer auf Gegenliebe. Erste Rezensionen aus Fachkreisen nehmen bereits Anstoß am Ausmaß der Kritik. Allein das zeigt schon, wie wichtig das Buch ist.
LARS BREUER
Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010, 839 S., € 88,00.