Kurz nachdem der neue Innenminister Hans-Peter Friedrich sein Amt angetreten hatte, korrigierte er Christian Wulff und sprach aus, was vielleicht ein Großteil der Deutschen denkt: der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Um die Frage, wie mit der muslimischen Präsenz in Deutschland umzugehen sei, kreisen sowohl migrationspolitische Diskussionen als auch die sogenannte Integrationsdebatte.
Anders gelagert sind hingegen sicherheitspolitische Erwägungen, zuletzt im Zusammenhang mit dem blutigen, islamistisch motivierten Anschlag auf amerikanische Soldaten am Frankfurter Flughafen. Neben den bisher vereitelten Attentaten zeigt ein solcher Fall, dass es tatsächlich eine Bedrohung durch den radikalen Islamismus gibt. Allein der Blick auf all diese Themenfelder zeigt jedoch, dass die unreflektierte Rede von der Islamdebatte in die Irre führt. Zwar geht es in allen Fällen um den Islam oder jene, die sich ihm zugehörig fühlen. Der Islam als Religion sowie seine (vermeintlichen) Anhänger_innen spielen jedoch in jeder dieser Debatten eine höchst unterschiedliche Rolle. Gleiches gilt für die Rede von »den Muslimen«. Es ist ein verheerendes Ergebnis der Überlagerung verschiedener Diskussionen um den Islam, dass in den Medien eine Homogenisierung von in Deutschland lebenden Menschen mit einem arabischen Hintergrund dominant ist; ob Alevit, säkularer Türke der ersten Einwanderergeneration oder Exil-Iranerin – sie alle werden umstandslos zu »Muslimen« und »Migranten« gemacht. Verschiedenes wird auf einen Nenner gebracht und so unzulässig verallgemeinert und stigmatisiert. Diese Debatte wurde von den Ereignissen in der arabischen Welt – die Aufstände in Tunesien, Ägypten und derzeit in Libyen – vorläufig zwar verdrängt, ob das allerdings dazu führt, dass generelle Annahmen über das Verhältnis von Islam und Demokratie, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten, ins Wanken kommen, bleibt abzuwarten. Die Aufstände, so unklar ihr jeweiliger Ausgang ist, sollten allerdings all jenen zu denken geben, die nicht nur die Muslim_innen in Europa, sondern auch die arabische Welt bisher für unvereinbar mit der Demokratie gehalten haben. Noch vor gut drei Monaten wären Ereignisse wie sie sich in Tunis oder Kairo abspielten, kaum denkbar gewesen.
Bis die mediale und politische Aufmerksamkeit sich auf die arabische Welt richtete, hatte sich allerdings auch in der Linken die Diskussion über den Islam und seine Kritik verschärft. Überspitzt formuliert, scheinen zwei Positionen immer wieder durch: Für die einen ist das Sprechen über den Islam und die Kritik an seinen politischen und ideologischen Ausprägungen aus postkolonialer Perspektive verzerrt durch einen »westlichen Blick«, »rassistisch« und homogenisierend. Für die anderen ist der Islam – in Verteidigung der Werte der Aufklärung – gerade deswegen zu kritisieren, weil er in Kultur, Religion und politischer Praxis regressive, antiemanzipatorische Elemente beinhaltet. Auch wenn in dieser Konfrontation durchaus auch andere politischen Differenzen eine Rolle spielen mögen, sind diese Positionen doch zunächst grundsätzlich antagonistisch. Dabei scheinen sich die Positionen zunehmend zu polarisieren und erschöpfen sich nicht selten in Vorwürfen, die keine weitergehende Analyse mehr zulassen. So wurde beispielsweise über dem Vorwurf, Befürworter_innen des Islamophobiebegriffs vertreten einen falsch verstandenen Antirassismus, vergessen zu fragen, welche Qualität die tatsächlich existierenden Ressentiments gegenüber Muslim_innen zukommt und welchen Gehalt die Rede vom Rassismus heute eigentlich noch hat. Es scheinen vor allem unklare Begriffe zu sein, wenn eine kulturalistische Position der Islamkritik einerseits Rassismus vorwirft, die Gegenseite jedoch darauf besteht, gerade im Bezug auf das Subjekt jenseits seiner Kultur und ethnischen Herkunft, komme wahrhaft aufklärerisches und somit antirassistisches Denken zur Geltung.
In diesem Spannungsfeld zwischen Kritik und Ressentiment untersucht der Schwerpunkt der Phase 2 die aktuellen Diskussionen über den Islam und versucht, eine verhärtete Konstellation zu entflechten. Ziel ist es dabei, die verwendeten Begriffe zu schärfen und die Perspektive einer Kritik des Islam als gesellschaftlicher Praxis aufzuzeigen, ohne in Essentialismen und Rassismus zu verfallen. Ohne ein Verständnis des Islam als religiöse und politische Alltagspraxis und seiner Rolle in Deutschland und den europäischen Gesellschaften scheint uns dies nicht möglich.
Dass wir in der Planung des Schwerpunktes von den Ereignissen in der arabischen Welt buchstäblich überrascht wurden, zeigt sich auch in den Themen unserer Artikel. Ein Großteil der Texte unternimmt im strengen Sinne des Wortes Begriffsarbeit sowie den Versuch einer Grenzziehung zwischen Kritik und Ressentiment. Schlagwörter wie »Islamophobie«, »antimuslimischer Rassismus« oder auch »der Islam« werden inhaltlich gefasst und in der gegenwärtigen Diskussion verortet. Dabei wird auch versucht, einer unterstellten Überkomplexität, die politisch handlungsunfähig macht, entgegenzuwirken. Gemeinsam ist vielen Texten die Betonung des religionskritischen Moments, allerdings nicht als abstrakte Kritik religiöser Vorstellungen, sondern als bestimmte Negation in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang. Sowohl der Kontext der Islamkritik, der Einfluss des Islam auf politische Prozesse und Entscheidungen als auch die historische Entwicklung der islamischen Religion und ihrer Gesellschaft geraten so ins Blickfeld der Analyse.
Religionskritik am Islam, so Jörn Schulz in seinem Beitrag, kann sich nicht in Koranexegese erschöpfen. Außerdem zeige ein Blick auf den historischen Umgang mit den religiösen Schriften, dass eine Säkularisierung des heiligen Textes in Ansätzen bereits begonnen hat. Die Differenziertheit der Islamforschung wird in der Diskussion heute vornehmlich ignoriert, so Schulz, und stattdessen eine Rückprojektion aktuell gültiger moralischer Vorstellungen auf das Frühmittelalter mit Ideologiekritik verwechselt. Darüber hinaus macht Jörn Schulz deutlich, dass die starke Verbindung von Religion und Politik, die orthodoxe Ideologie des Islam mit dem aufkommenden arabischen Nationalismus im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen hat. In dieselbe Zeit fällt auch der immerhin ansatzweise unternommene Bruch mit eben jener Orthodoxie.
Auch Floris Biskamp setzt in seinem Beitrag mit der Marxschen Religionskritik ein, bewertet sie aber für die heutigen Debatten als zu abstrakt. »Von der Religionskritik zur Kritik der Religiösität« ist dann auch die programmatische Überschrift seines Textes. Es reiche eben nicht, eine atheistische Position zu beziehen, vielmehr müsse der Blick tatsächlich auf die verschiedenen Ausformungen der Religion im Alltagsleben gelenkt werden. In der sowohl kritischen als auch befürwortenden Auseinandersetzung mit Thomas Maul argumentiert Biskamp gegen eine essentialistische Sicht auf monotheistische Religionen, und plädiert für die Anerkennung und das Aufgreifen historischer Veränderungen religiöser Praxis. Die Glaubenspraxis, d.h. die je individuelle Auslegung und Anwendung religiöser Überlieferungen werde bislang in ihrer Relevanz für eine Auseinandersetzung verkannt. Zu kritisieren ist sie freilich da, wo sie reaktionär sei.
Der irreführende Vergleich zwischen Islamophobie und Antisemitismus ist das Thema des Artikels von Udo Wolter. Nicht nur die Genese des Begriffs der Islamophobie aus dem Kontext der Iranischen Revolution, sondern auch seine heutige Verwendung seien kritisch zu betrachten. Im Bezug auf eben diese Diskussion schlagen Markus Mersault und Lothar Galow-Bergemann den Begriff des »antimuslimischen Ressentiments« vor, dem es gelingen soll, derlei falsche Vergleiche zu vermeiden und gleichzeitig die Diskriminierung gegenüber Muslim_innen ernstzunehmen. Es geht den Autoren dabei vordergründig darum, Menschen vor Anfeindungen zu schützen, also jene, die unter der (Selbst)Beschreibung »muslimisch« Anfeindungen, Repressionen und Vorurteilen ausgesetzt sind. Neben einem unverkennbaren verschwörungstheoretischen Gehalt, haben antimuslimische Ressentiments in Deutschland die Funktion, »die deutsche Identität zu rehabilitieren«. So können Antisemitismus oder auch ein antiindividualistisches Weltbild leichter dem Fremden zugeschoben werden. Auch Dan Diner hält den Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie für nicht stichhaltig. Das von Phase 2 Leipzig geführte Interview behandelt außerdem ausführlich die Bedeutung der Aufstände in Ägypten. Hier vollziehe sich, soweit sich das bis jetzt erkennen lässt, das erste Mal in der Geschichte die Konstitution dessen, was in unseren Breiten Zivilgesellschaft genannt wird. Im zweiten Teil des Interviews geht Diner auf die Frage nach der Rolle des Islam in Europa ein: Hier stelle sich nicht nur die Frage nach der Neukonstitution des öffentlichen Raumes. Die Präsenz des Islam in Europa stellt gleichzeitig noch einmal den christlichen Wertekanon zur Debatte. Daraus erwächst eine zweifache Herausforderung: Während sich der Islam über kurz oder lang wird konfessionalisieren müssen, steht für Europa die kritische Reflexion auf die Universalität seiner freiheitlichen Werte an. Ob sie sich als universell erweisen, wird sich erst noch zeigen müssen.
Klaus Blees von der Initiative 3. Welt Saar befasst sich in seinem Artikel mit dem explizit rassistischen Gehalt sicherheitspolitischer Maßnahmen gegenüber Muslim_innen in Deutschland. Ihnen wird dadurch die Möglichkeit abgesprochen, eine religiöse Praxis jenseits terroristischer Verschwörungen auszuüben und andererseits unterstellt, den Islam kritiklos und umfassend anzuerkennen und auszuüben. Konkret wird diese Gemengelage an der Diskussion um die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an Schulen diskutiert, die nicht zu einer gleichen Stellung der Lehre, sondern nur zu weiterer Segregation führe.
Mit den Motiven deutscher Islamkonvertiten beschäftigt sich Christoph Kasten. Anhand drei junger Männer, die medial als prominente Beispiele der Konversion zum Islam behandelt wurden, analysiert er die jeweiligen biografischen Erweckungsmomente und die gesellschaftstheoretischen Implikationen. Die Sehnsucht nach dem Aufgehen im islamischen Kollektiv wird dabei in der Tradition der Kritischen Theorie einerseits durch gesellschaftliche Widersprüche denen das Subjekt ausgesetzt ist, begründet und anderseits durch eine spezifische Anziehungskraft des Islam. Gerade im Kontext einer kruden Kritik an der Entfremdung in westlichen Gesellschaften entfaltet der Islam durch seine angebliche Ursprünglichkeit eine beunruhigende Attraktivität.
Für einen klaren Standpunkt in Sachen Islamkritik plädiert zum Abschluss Magnus Henning. Das Unvermögen der Linken in Deutschland, eine Position in der Diskussion zu entwickeln, gehe dabei mehrheitlich auf ein falsches antirassistisches Selbstverständnis zurück. Indem sich diese Linke der Kritik am wenig progressiven Projekt des Islam verweigern und sich stattdessen lediglich auf die Mehrheitsgesellschaft konzentrieren, verraten sie das Erbe der Aufklärung, so Magnus Hennig.
Die Frage, die Magnus Henning so selbstbewusst beantwortet – Warum ist es eigentlich so schwer mit der Islamkritik? – hätte durchaus das Motto dieses Schwerpunkts sein können. Dass es nicht nur um die klare Verwendung von Begriffen geht, sondern letztlich auch um die Möglichkeiten einer Veränderung religiöser und politischer Praxis im Bezug auf den Islam, ist allen hier versammelten Texten gemein. Eine Analyse wird falsch, wenn sie unzulässig verallgemeinert. Eine Kritik gibt sich auf, wenn sie antiemanzipatorische Standpunkte und Praktiken ignoriert. Zur Vermeidung beider Konsequenzen möchte dieser Schwerpunkt der Phase 2 einen Beitrag leisten. Ob dies gelingt oder ob in einiger Zeit mit dem Blick auf die arabische Welt ganz andere Fragen zu diskutieren sind, wird – wie immer – die Geschichte zeigen.