»In der avancierten Popkritik genießt Transzendenz keinen guten Ruf. Im frühen Punk wurde ein explizites Transzendenzverbot ausgerufen; das bewegungslinke Lager denunzierte das ›Ausklinken‹ als konterrevolutionär oder verklärte es im Reggae zum ›antiimperialistischen Befreiungskampf‹.« So heißt es programmatisch in der Presseankündigung zur 23. Ausgabe der Testcard.
Doch was kann überhaupt unter einem Titelthema Transzendenz verstanden werden? Als am Punk geschulter, in bewegungslinken Subkulturen sozialisierter Leser lässt sich – wie eingangs erwähnt – zunächst Schlimmes vermuten. Assoziationsketten zu anti-intellektueller Esoterik, okkulten Ritualen, spirituellen Heilsuchern und quasi-religiösem Kitsch zwingen sich geradezu auf. Zugegebenermaßen wirkt die thematische Auswahl früherer Ausgaben wie »Sex«, »Linke Mythen« und »Extremismus«, »Sound« und »Retrophänomene« oder »Zukunftsmusik« deutlich dringlicher. Und tatsächlich droht in der aktuellen Testcard der eigentliche Untersuchungsgegenstand stellenweise aus dem Fokus zu geraten. Aber wer die Anthologie kennt, weiß sehr wohl, dass sie stets auf unterhaltsame Art und Weise ihrem Anspruch der nicht gerade theoriearmen, aber umso progressiveren, emanzipatorischen Popkritik gerecht wird, ohne dabei im akademischen Elfenbeinturm zu zirkulieren.
Dementsprechend wird bereits im Editorial eine differenzierte Betrachtung hinsichtlich jenseitiger Transzendenz-Bezüge vorgenommen, wenn von »unsterblichen Terminologien« die Rede ist. Was in der Geschichtsschreibung des modernen Pop als reine Diesseitsfeier begann und transzendente Momente – wenn überhaupt – nur ironisch gebrochen repräsentierte, wandelte sich Mitte der sechziger Jahre zunehmend durch den aufkommenden Indien/Krishna-Boom (nicht zuletzt dank George Harrison) und damit einhergehenden Drogenexperimenten, durch Free Jazz und Afrofuturismus (am präsentesten natürlich bei Sun Ra), durch Anfänge von Krautrock und Kosmischer Musik (Popol Vuh, Can, Faust, Cluster o.ä.). Damit verbunden waren jedoch stets kritische Stimmen, die auf den zelebrierten Exotismus, Eskapismus und die Esoterik abzielten. Heutzutage haben sich in so gut wie allen Genres transzendenzaffine, meist ätherische Sparten gebildet, die weniger der Provokation als vielmehr einer ästhetischen Distinktion dienen.
Als epistemologisches Fundament überprüft Johannes Ullmaier die Diesseits/Jenseits-Dialektik auf ihren ontologischen Gehalt und nähert sich in einer einleitenden und bereits in tiefste Tiefen vordringenden Analyse dem Diskurs der Transzendenz und ihrer Rolle in Musik und Popkultur. Ausgerechnet Motörhead-Chef Lemmy Kilmister muss dem deutschen Feuilleton den Unterschied zwischen institutionalisierter Religion und Transzendenz erklären. Weiter geht die wissenserweiternde Reise von der Transzendenz im Säkularpop hin zu naheliegenden Themen wie Psych- und Dronemusik (und spätmoderner Zeiterfahrung), Moondogs Oberton-Kontinuum und Sun Ra‘s kosmischem Noise (sogar einer Séance mit ihm!). Darüber hinaus reicht das hiesige Spektrum von einer medizinisch-neurologischen Betrachtung von LSD-Konsum über die obligatorisch umfangreiche und durchaus witzig generierte Diskografie bis hin zur Rolle von sogenanntem Vaporwave und Marius Hendersons Faszination für »Black Metal Theory« bzw. einer queer-feministischen Lesart dessen. Besonders hervorzuheben sei an dieser Stelle auch das von Hendrik Otremba (Sänger der Gruppe Messer) erstellte, eindrucksvoll emotionale Porträt des leider viel zu früh verstorbenen Hamburger Underground-Musikers Tobias Gruben. Bereits Anfang der Achtziger sollte dieser mit dem jungen Christoph Schlingensief die Band Vier Kaiserlein gründen und anschließend mit Cyan Revue und Die Erde stets eine musikalische Sonderstellung einnehmen. Höhen und Tiefen eines Lebens werden ausgebreitet, das von Drogen, der Suche nach Wahrheit, aber insbesondere auch von Glück geprägt war.
Abgerundet wird auch diese Testcard wie alle 22 Ausgaben zuvor mit kompetenten und umfassenden Rezensionen. Im Auge des jeweiligen Rezipienten bzw. der Rezipientin könnte nun fraglich bleiben, ob die Redaktion ihrem Ziel der Untersuchung des Transzendenten in der gegenwärtigen Entgrenzung der Stile gerecht wird. Es scheint ein uferloses Unterfangen zu sein, verschiedenste Akteur_innen und ihre Transzendenz-Diskurse bzw. -Erfahrungen auf ihren Gehalt der Ernsthaftigkeit zu überprüfen und der Frage nach der Kompensation der Unterdrückung eigener Transzendenz-Bedürfnisse zu untersuchen.
Fest steht jedoch, dass die Testcard in einer gewohnt multiperspektivischen Herangehensweise die »Karriere der Transzendenz« in der Popkultur kritisch nachzeichnet, kommentiert und – wo nötig – relativiert. Äußerst erhellend werden insofern neue Sichtweisen geschaffen und Grenzen überschritten – folglich ist das neue Heft (Meta-)Transzendenz in Reinform.
Hannes Stutz
Holger Adam u.a. (Hrsg.): Testcard #23: Transzendenz – Ausweg, Fluchtweg, Holzweg?, Ventil Verlag, Mainz 2013, 336 S., € 15.