Wozu eigentlich mit auswärtigen Angelegenheiten befassen? Im Vergleich zu „Kohle, Frauen, Autos“(1) oder ähnlichen Freuden des Lebens finde ich sie nicht sehr wichtig. Internationale Berichte und Analysen lenken die Aufmerksamkeit auf ferne Kriege, Unglücke, Krisenherde; als einzig mögliche Schlussfolgerung bietet sich Einmischung an. Wenn Deutsche in aller Welt zwischen reaktionären Unterdrückern, Terroristen und Kriegstreibern bzw. fortschrittlichen Kräften, Freiheitskämpfern und Friedensstiftern zu unterscheiden wissen, müssten sie nur den entsprechenden Einfluss ausüben – etwa durch verbale Äußerungen, humanitäre Hilfe oder Militäreinsätze – und die Welt sähe besser aus. Der Chauvinismus, den Kritik an Bürgern(2) anderer Länder bedeutet, bestärkt das deutsche Wir-Gefühl, mit Hilfe dessen mich Regierung und Privatlobby zum Konsumverzicht aufrufen.
Verzicht ist Verrat an den eigenen Interessen und um Nationalismus entgegenzuwirken kann es nicht unterbleiben, Feindbilder gegenüber Ausländern zu widerlegen. Linke Gruppen beklagen z. B. seit langem einen „elementare Menschen- und Volksrechte mißachtenden Umgang Israels mit den Palästinensern und insbesondere die einer Mittäterschaft recht nahe kommende amerikanische Duldsamkeit gegenüber dieser Politik und ihrer gewohnheitsmäßigen Mißachtung von UN-Resolutionen“. Heute (am 19. September 2002) beklagt dies auch die „FAZ“. Arafat bekommt ebenfalls schlechte Noten, weil er palästinensischen Kämpfern nicht Einhalt gebiete, die USA fallen wegen ihrer „Abenteuer“ in Ungnade. Der frühere Verteidigungsminister Scharping wähnt die Deutschen von einem Zusammenschluss verschiedener Gegner umzingelt, „die jüdische Lobby“ übe in den USA zu großen Einfluss aus. Schon andere haben behauptet, Juden und Amerikaner seien ineinander verwachsen und erstere dominierten auf geheimnisvolle Weise über letztere. Demnach wedelt der Schwanz mit dem Hund. In Wahrheit mehrten sich in den 90er Jahren Anzeichen dafür, dass die USA von Israel abrücken.
Israel in der neuen Weltordnung
1969 gab Jean Amérie zu bedenken, „daß es mehr Araber gibt als Juden, mehr arabisches Öl als jüdisches, daß militärische Stützpunkte in den arabischen Staaten einen höheren strategischen Wert haben als in Israel.“ Noch sicherte Israels Rolle als unverzichtbares westliches Bollwerk seine Existenz, insbesondere nach dem Juni 1967. Damals hatte Israel in einem Überraschungsangriff einen Großteil der arabischen Luftstreitkräfte zerstört, die Sinai-Halbinsel, den Ostteil Jerusalems sowie das Westjordanland eingenommen und die arabischen Staaten durch diese vernichtende Niederlage in die Arme der Sowjetunion getrieben. Die USA sahen im jüdischen Staat von nun an den einzigen Verbündeten und lokalen Stellvertreter im nahöstlichen Frontabschnitt des Kalten Krieges und gingen zu einer strategischen Zusammenarbeit mit Israel über. Die Beziehungen zu den arabischen Staaten kühlten sich in der Folge ab: Ihr Anteil am US-Export fiel von 9 auf 6,6 %. Über zwanzig Jahre erhielten die USA gegen die UdSSR ein Patt aufrecht, dann kam die Wende: Russland verlor die Fähigkeit, nennenswerten Einfluss in Nahost auszuüben. Die Veränderung der Kräfteverhältnisse in Nahost offenbarte sich jäh im Golfkrieg 1991. Die USA schnitten Saddam von internationaler Unterstützung ab, beendeten die irakischen Besatzung Kuwaits und sicherten damit vorläufig die Stabilität der Ölpreise. Moskau blieb nichts übrig, als einer Entwicklung zuzustimmen, die nicht verhindert werden konnte. Um Washingtons Einfluss im Nahen Osten zu wahren, reichten von nun an militärische Präsenz sowie die Kooperation mit Saudi-Arabien und Ägypten aus. Der Persische Golf, schreibt Samuel P. Huntington, verwandelte sich in einen „amerikanischen Teich“.
Diese Wende hinterließ auch in den amerikanisch-israelischen Beziehungen ihre Spuren: Der jüdische Staat verlor an Bedeutung. Das amerikanisch-palästinensische Verhältnis wärmte sich über die 90er Jahre soweit auf, dass Clinton im Zusammenhang mit dem Vorhaben der PLO-Führung, im Mai 1999 einen eigenen Staat auszurufen, das Recht der Palästinenser anerkannte, ihre „Zukunft als ein freies Volk auf ihrem Land“ zu bestimmen. Sharon reiste im selben Jahr dreimal innerhalb eines Monats nach Moskau, israelische Politiker wollen sich offenbar nicht mehr allein auf die USA verlassen. In der Anti-Terror-Koalition nach dem 11. September wiesen die USA Israel keine prominente Rolle zu, um die Loyalität der arabischen Staaten nicht aufs Spiel zu setzen. Der israelische Premierminister Sharon befürchtete im Oktober 2001, Israel würde auf dem Altar der Anti-Terror-Koalition geopfert und verglich die amerikanische Annäherung an die arabischen Staaten mit der Politik des „Appeasement“ gegenüber Hitler. Am 13. März 2002 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Vorschlag der USA eine Resolution, die erstmals einen Palästinenserstaat zum Ziel der erklärte. Dieser symbolische Schritt wurde allgemein mit dem Ziel der Vereinigten Staaten erklärt, arabische Unterstützung für einen Krieg gegen den Irak zu gewinnen. Mit der Theorie vom maßgeblichen Einfluss einer „jüdischen Lobby“ auf den außenpolitischen Kurs der USA kann die reale Entwicklung schwer in Einklang gebracht werden. Dass die Entwicklung dennoch keine Einbahnstraße war, hat andere Gründe: Im Laufe der 90er Jahre gerieten die USA über die Sanktionen und Bombardements gegen den Irak in Konflikt mit den arabischen Staaten. Selbst Kuwait befürwortet die Zurückführung der Sanktionen. Die Ausweitung des Anti-Terror-Krieges auf den Irak und den Iran stößt in der arabischen Welt allgemein auf Ablehnung, eine Neuauflage der Golfkriegskoalition von 1991 scheint ausgeschlossen. Zudem haben sich zwischen Saudi-Arabien und den USA empfindliche Spannungen wegen möglicher saudischer Geldquellen für Al Quaida und der Herkunft vieler Attentäter des 11. September gebildet. Der jüdische Staat bleibt der einzig verlässliche Partner der USA im Nahen Osten. Die wirtschaftlichen Beziehungen der USA konzentrieren sich neben Ägypten vor allem auf ihn, in dessen relativer politischen und diplomatischen Nähe sie sich nach wie vor befinden.
Deutschland: einschleichen statt einmarschieren
Die deutsche Kritik an dieser Allianz wird lauter: moderat von Seiten der Regierung, polemisch aus den Reihen linker und rechter Extremisten. Auch das ist ein Ergebnis vom Ende des Kalten Krieges. Die entscheidende Klammer zwischen Deutschland und seinen antisowjetischen Bündnispartnern USA und Israel, die Verteidigung Berlins, riss mit dem Fall der Mauer. In der neuen Weltordnung versucht Deutschland, seinen ökonomischen und politischen Einfluss auf den Raum südlich und östlich des Mittelmeeres zu vergrößern. Alleine zu schwach, spannt es seine europäischen Nachbarn ein: „Nur mit ihnen zusammen haben wir auch die Möglichkeit, Einfluss im Nahen Osten auszuüben“, sagt Christof Moosbauer, Nahost-Experte der SPD-Fraktion. Darüber, wie deutsche Einflusssphären im Nahen Osten zu sichern seien, sind deutsche Außenpolitiker einer Meinung. Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat sie 2001 in dem Band „Deutsche Nahostpolitik. Interessen und Optionen“ dokumentiert. Deutschland sei als geographischer Nachbar der Region sicherheitspolitisch zumindest mittelbar betroffen und besitze mehr ökonomische als militärische Einflussmöglichkeiten; es sei wirtschaftlich und politisch an einer weitgehenden Integration des Nahen Ostens in das Einflussgebiet der EU interessiert, an Wachstum, Entwicklung, wirtschaftlicher Liberalisierung und Kooperation in der Region. Deutschland beteiligt sich daher an der „Euromediterranen Partnerschaft“, die 1995 auf der Konferenz von Barcelona vereinbart wurde. Ihr traten neben der EU die südlichen Mittelmeeranrainer außer Libyen, daneben Jordanien, Ägypten, Syrien, Israel sowie die palästinensische Autonomiebehörde bei. Zu ihren Zielen gehören eine Sicherheitspartnerschaft und eine Freihandelszone. Die EU-Länder sind zusammengenommen der wichtigste Handelspartner aller Staaten in Nahost und Nordafrika. Der Anteil der EU am Außenhandel Israels und seiner Nachbarn betrug 1999 52 % (USA: 27 %), der Anteil am Außenhandel der Golfstaaten betrug 23 % (USA: 11 %). Der weitere Abbau von Handelsbarrieren würde diesen Vorsprung in ökonomische Dominanz verwandeln und käme dem Exportriesen Bundesrepublik gelegen. Die Außenpolitiker raten, die geplante euro-mediterrane Partnerschaft auf die Golfstaaten, Jemen, Iran und später auch auf den Irak auszuweiten.
Dieses Projekt hemmt allerdings der israelisch-arabische Konflikt. Regionale Kooperation, ökonomische Liberalisierung und Integration vertragen sich nicht mit latentem Kriegszustand. Daher lautet das Urteil deutscher Außenpolitiker: „Deutschland hat ein klares eigenes Interesse am Frieden im Nahen Osten.“ Mit dem Vorbehalt, „dass Europa ein politisches und wirtschaftliches Eigeninteresse an regionaler Kooperation hat – namentlich um regionale Stabilität zu fördern und größere Märkte entstehen zu lassen –, und nicht das israelische Interesse an einer Normalisierung arabisch-israelischer Beziehungen fördern will.“ Da ein Friede im deutschem Interesse darauf hinausläuft, Israel zum Verzicht auf Westbank, Gazastreifen und Ostjerusalem zu bewegen, konzentriert sich die öffentliche Kritik vor allem auf Sharon, der sich diesem Plan widersetzt. Auch die USA behindern, indem sie Israel nicht zum Rückzug zwingen. Die arabischen Staaten können sich den deutschen Ambitionen gegenüber eher aufgeschlossen zeigen, da sie wie Volker Perthes darauf hoffen, dass so der Einfluss der USA „ausbalanciert“ würde. Doch auch ein Kontrahent Israels wie Arafat verstößt gegen deutsche Interessen und erntet entsprechend Kritik, wenn er Kräften innerhalb seines Lagers nicht Einhalt gebietet, die Israel abschaffen wollen. Die deutschen Außenpolitiker erkennen den „überwiegend arabischen Charakter des Nahen und Mittleren Ostens“ zwar an, Israel bleibt jedoch wichtigster einzelner Handelspartner Deutschlands in der Region. Eine akute Existenzgefährdung des jüdischen Staates brächte Deutschland und seine Beziehungen mit den arabischen Staaten aufgrund seiner historischen Verbrechen auch in ideologische Bedrängnis.
Internationale Solidarität für Deutschland
Deutschland verbündet sich mit allen gegen alle Staaten, kaum ein Staat gerät auf die Abschussliste, aber keiner verhält sich so, wie die Deutschen wollen. Kritik an Bush, Arafat, Sharon oder wem sonst, mag sie sich auch oppositionell gegenüber Schröder verhalten, funktioniert im Rahmen einer Arbeitsteilung zwischen moralisch unverdächtiger Agitation und realpolitischer Einmischung. Was ist Kritik an amerikanischer Unterstützung für Israel anderes als ein Lob darauf, dass Deutschland anders handelt? Der Vorwurf, Deutschland verhalte sich unterwürfig den USA oder freundschaftlich dem arabischen Islamismus gegenüber, schürt Aggression gegen die beiden. Treibt nicht die tiefe Besorgnis der Regierung angesichts israelischer Militärschläge auf die Spitze, wer Sharon als Kriegsverbrecher verunglimpft? Wer nach demselben Muster Arafat des antisemitischen Terrors bezichtigt, bemüht sich, Fischer verbal zu übertreffen. Allgemein: Wer an einem Ausländer Kritik übt (nicht einem als „Ausländer“ diskriminierten Deutschen) wird diese in einer patriotischen Zeitung, FAZ, Taz, Junger Welt oder Junger Freiheit, abgedruckt finden. Nicht, weil diese Blätter auch einmal einen richtigen Gedanken veröffentlichen, sondern weil sie damit gegen andere Staaten trommeln. Die Kritik wird dadurch nicht weniger ausländerfeindlich, dass sie sich hinter Bürgern derjenigen Staaten verschanzt, deren Repräsentanten sie angreift. Linke nennen dieses Manöver „internationale Solidarität“. Bizarre Hetze zugunsten höflicher Kritik gegenüber Ausländern ablehnen heißt, denselben Chauvinismus salonfähig auszudrücken. Darf ich einen Verdacht äußern, der mir gerade kommt? Feindlichkeit gegenüber Ausländern ist Ausländerfeindlichkeit, Kritik an nichtdeutschem Patriotismus ist deutscher Patriotismus. Kritik an ausländischem Imperialismus desgleichen, und Internationalismus Nationalismus. Man wird mir entgegenhalten: Man werde doch wohl noch sagen dürfen, dass... Oder: Als Linker müsse man doch Position beziehen, wenn... Leider darf man als Deutscher und als linker muss man vielleicht sogar. Aber muss man links und damit Nationalist sein? Notwendig ist, hierzulande für eine Spaß- und Konsumgesellschaft einzutreten; auch wenn das, im Vergleich zu globalen Aktivitäten deutscher Linker, eine begrenzte Aufgabe ist.
Fußnoten:
(1) Bohlen, Dieter: Nichts als die Wahrheit, München 2002 (Hörbuchfassung). Menschen anderen Geschlechts oder anderer sexueller Orientierung werden andere Prioritäten setzen.
(2) Hier und im Folgenden sind alle Geschlechter gemeint. Dem Wunsch des Autors entsprechend jedoch grammatisch nicht berücksichtigt.
Gerrit Brüning
Berlin, schrieb u.a. in Konkret