Gewaltig ragen die Granitpfeiler des Kunstwerks »Dodekalitten« auf einem Hügel an der Nordküste der dänischen Insel Lolland empor. Zwölf Figuren mit einer Höhe von sieben bis neun Metern stehen in einem Kreis von 40 Metern Durchmesser. Die steinernen Gesichter sind nach innen gerichtet, ihre ernsten Mienen halten dem Blick der Betrachterinnen regungslos stand. Im Takt von zehn Minuten ertönt aus versteckten Lautsprechern sphärische, abwechselnd mit Trance- und Elektrobeats untermalte Musik. Wer im Innenkreis dieser bewusst artifiziellen Imitation einer prähistorischen Kultstätte steht, wird vom Sound sowie von der Größe des Steinarrangements überwältigt. Mit etwas Ruhe und im richtigen Licht lässt sich ein Gefühl erahnen, das sich irgendwo zwischen Wohlgefallen und Bammel, Wirklichkeitssinn und Mystik, Welt und Geist abspielt. Der Bildhauer Thomas Plesner Birch Kadziola und der Komponist Wayne Siegel errichteten mit ihrer monumentalen Installation nicht nur einen Tourist:innenmagneten. Zwar scheitern die »Dodekalitten« in ihrem Versuch der Nachbildung eines religiösen Ortes nicht zuletzt wegen ihres allzu beherzten Griffs in die Effektkiste. Doch kommt man nicht umhin, sich beim Anblick der auf den Hügel pilgernden Menschen die Frage zu stellen, was hier, neben der Möglichkeit ein Fleckchen Weizenfeld am Meer zu einem Spektakel werden zu lassen, eigentlich für ein Bedürfnis angesprochen werden soll. Ist es die Sehnsucht nach Zauber, Magie und Kult? Nach einem Höheren, Ewigen, Absoluten?
Dass auf breiter Ebene ein Wunsch existiert, sich dem rationalen, funktionalistischen und kurzsichtigen Treiben moderner Gesellschaften zu entziehen, wird nicht erst anhand des immer noch ungebrochenen Glaubens Vieler an schicksalhafte Momente der Liebe und der Lebensentwicklung, an Horoskope, Globuli, Tarot-Karten und Glückskekse deutlich. Auch die theistischen Religionen von Katholizismus bis Islam enthalten diesen Wunsch als unversiegbare Quelle ihrer persönlich-individuellen Überzeugungskraft, entgegen aller logischen Einwände und Argumente. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung und Hoffnung, dass das Leben mehr ist als es ist, dass es etwas gibt, das sich unserem direkten Zu- und Eingriff entzieht, unsere Geschicke lenkt und unserer profanen Geschäftigkeit Sinn verleiht. Der sich den Natur- wie Gesellschaftsgewalten ausgeliefert fühlende Mensch sucht Trost und Sicherheit in der Berufung auf eine übergeordnete Instanz. Diesen Gedanken hat auch der Schriftsteller Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud anschaulich festgehalten. Er erklärt darin, dass Religion sich als Gefühl der Weltverbundenheit beschreiben lässt, als »ozeanisches Gefühl«: eine körperliche, sinnliche und grenzauflösende Allverbundenheit mit der Natur und den Stoffen dieser Welt. Freuds Antwort auf Rollands Ausführungen fällt jedoch nüchtern aus. Ein Gefühl der Allverbundenheit ist ihm fremd: »Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen«. Gottesvorstellungen und metaphysische Gewissheiten verortet er im Bereich der »Illusion«. Aufgabe von Wissenschaft und Psychoanalyse sei es, den Menschen mit der schwer erträglichen Einsicht in die Begrenztheit und Endlichkeit des Lebens zu konfrontieren. Für Freud ist es demnach nicht wichtig zu klären, was Religionen sind und worauf sie hinauslaufen. Wichtig ist vielmehr die tieferliegende Frage, warum Menschen glauben.
In der Linken werden Religion und Glaube traditionell skeptisch gesehen. Die Hinwendung zu einer höheren, metaphysischen Macht wird wahlweise als infantiler Eskapismus der bedrängten Kreatur vor dem menschengemachten Elend der Realität abgetan oder als wirkmächtiges Herrschaftsinstrument zur Unterwerfung derselben durch die Institution Kirche verurteilt. Besonders Mystik und Orthodoxie, die fromme Ausrichtung von Leben und Anschauung auf ein Nicht-Erklärbares, nicht Menschgemachtes, Absolutes, erfahren Ächtung unter allen, deren Ziel ein freier Verein gleichberechtigter Individuen ist. Dafür lassen sich gute Gründe anführen: Wer glaubt, legt eine Haltung an den Tag, die eine bedingungslose Unterwerfung unter eine außerweltliche Autorität einschließt und Kritik als profanes, endliches und der Sache nicht angemessenes Unterfangen annulliert. Was für das Wissen gilt: dass es stets seine Rechtsgründe anzugeben und über seinen Ursprung Rechenschaft abzulegen hat, ist im Glauben per Begriff außer Kraft gesetzt. Er ist damit das Prinzip der Legitimation von Macht an sich selbst. Glaubende kündigen die Verantwortung und Selbstbestimmung auf, die auf den Schultern autonomer Subjekte lastet, und suchen Teilhabe an einem übergeordneten Sinn. Nicht umsonst war die Religion der erste und wirkmächtigste Kontrahent der historischen Aufklärung und nicht ohne Grund ist die Kritik der Religion noch nach Karl Marx die Voraussetzung aller Kritik. Von der uneingeschränkten Macht eines theistischen Gottes zur profanen Herrschaft seiner selbsternannten oder gewählten Vertreter:innen auf Erden führt kein weiter Weg. Individuelle Unterordnung wie institutionelle Zurichtung widersprechen dem Anspruch einer offenen und selbstbestimmten Gesellschaft, weshalb die Überwindung der Religion als ideologisches Blendwerk zu deren zentralen Prämissen gehört.
Während individueller Glauben, sofern er sich auf den privaten Bereich beschränkt, noch bei Manchen auf bedingte Akzeptanz stoßen kann (»Wem es hilft…«), richtet sich linke Kritik vor allem gegen die Kirche, zumal in ihrer katholischen Ausprägung. Letztere ist schließlich für nicht weniger verantwortlich als Jahrhunderte der Ständehierarchie, Kreuzzüge, Hexenverfolgung, Inquisition und Verächtlichmachung des Menschen. Nach wie vor steht sie für patriarchale und undemokratische Strukturen, eine rigide, altbackene Sexualmoral samt sexistischer Stereotype und ist zuletzt durch eine unrühmliche Intransparenz im Umgang mit Missbrauchsskandalen in den eigenen Reihen sowie öffentlichen Geldern aufgefallen. In der fortschreitend säkularen bürgerlichen Welt haftet ihr damit der Stempel des Überholten und Anachronistischen an. Auch ihre ablehnende Haltung zu Reformbewegungen wie Maria 2.0. lässt die katholische Kirche zunehmend als weißen Altherrenverein in Schockstarre wirken, dem mit steigenden Austrittszahlen in den letzten Jahren allmählich die gesellschaftliche Akzeptanz abhanden zu kommen droht. Zuwachs hingegen können hierzulande zahlreiche vermeintlich unkonventionelle Glaubensbewegungen wie früher einmal die Jesus Freaks und heute die vor allem unter Jugendlichen beliebter werdenden Freikirchen wie etwa die Hillsong Church verzeichnen. Letztere sogar mit popkulturellen Repräsentant:innen, deren liberales Image die tatsächlich vertretenen dogmatischen Wert- und Moralvorstellungen verschleiert. Mit der Idee einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft ist auch hier die Notwendigkeit von Unterwerfung und sozialem Zwang nicht vereinbar.
Ist damit aber schon alles über die Religion und ihre gesellschaftlichen Manifestationen gesagt? Ist das »ozeanische Gefühl« dazu verdonnert, zum Plantschen in einer Pfütze zu werden? Zwar mag in den westlichen Gesellschaften die numerische Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften insgesamt abnehmen und sich die Lebenswirklichkeit der Menschen beharrlich säkularisieren, der religiöse Einfluss auf das Leben der Menschen bleibt dennoch stark. Nicht nur zahlreiche gesellschaftlich relevante infrastrukturelle Systeme wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Jugendeinrichtungen und Kindergärten bauen auf die Unterstützung durch ihre kirchlichen Träger, die ihre Steuern auf der Grundlage staatlicher Sondergesetze erheben dürfen. Sichtbar wird der Einfluss der Religion ebenso in den Diskussionen um das Recht auf Abtreibung, um Kreuze in Behörden oder in der Auseinandersetzung um Migration und den Umgang mit Geflüchteten. Besonders an letzterem Beispiel wird deutlich, dass eine christliche Position nicht notwendigerweise die regressive Seite vertritt. In einigen Ländern Osteuropas und in Russland hingegen setzt die Mehrheitsreligion im offenen Schulterschluss mit autokratischen und illiberalen Regimen ihren Wertekanon und Machtanspruch gegenüber Individuum und Gesellschaft rigoros durch und bedroht massiv das Leben Einzelner. Gleiches gilt für viele islamische Länder wie den Iran, in denen sie als Staatsdoktrin die Menschen ganz unmittelbar terrorisiert. Die Diskussion um eine Religionskritik auf der Höhe der Zeit wird dabei gerade unter Linken nicht selten dadurch erschwert, dass die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften den Individuen als Ethnie, Kultur oder Identität angeheftet und zur indisponiblen Eigenschaft erklärt wird.
Die Phase 2 hält die Tatsache, dass Religion im 21. Jahrhundert über Ländergrenzen und kulturelle Unterschiede hinweg Einfluss auszuüben in der Lage ist, für erklärungsbedürftig. Wie lässt sich verstehen, dass nach der Aufklärung und der festgeschriebenen Trennung von Staat und Kirche in einer durch Wissenschaft und Technologie nahezu entzauberten Welt, das religiöse Angebot weiterhin angenommen wird? Weshalb ist die Kritik der Religion als illusorisches Glück bisher so fruchtlos geblieben und weshalb haben die Versuche, den Menschen von der Erreichbarkeit eines besseren Lebens im Diesseits zu überzeugen, nicht gezündet?
Ebenjene Fragen diskutiert JustIn Monday im Beitrag Gegen uns und formuliert sein Unbehagen an den neuen Formen der Religionskritik in der Ausprägung des Neuen Atheismus sowie als linke Herrschaftskritik. Er findet dabei Gründe, warum die Wiederbelebung einer allgemeinen linken Religionskritik derzeit wahlweise ins Leere oder in die Barbarei führen muss. Ausführlich nimmt sich Koschka Linkerhand in Pro Kopftuch und kontra Abtreibung einer der zentralsten politischen Diskussionen innerhalb der großen Religionen an: der Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper. Dass sowohl die Debatten über das islamische Kopftuch als auch die rechtspolitischen Kämpfe um das christliche Abtreibungsverbot das schmerzliche Fehlen einer universalistischen feministischen Religionskritik offenbaren, zeigt sie unter anderem anhand einer Erinnerung an die Historikerin Gerda Lerner. Unter dem Stichwort Mythos komplexe Welt erörtern Erwin Fraenkel und Alex Struwe, warum die Rechnung nicht aufgeht, dass die Menschen gerade in Krisenzeiten ihr Heil in der Religion oder – zeitgenössischer – in Verschwörungsideologien suchen. Anhand der im letzten Jahr stark angewachsenen QAnon-Bewegung machen sie deutlich, dass sich eine Kritik von Religion und Verschwörungsdenken nicht bloß auf die Kritik vermeintlicher Vereinfachung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge zurückziehen darf. Stattdessen muss sie verständliche Worte und Formulierungen finden, um ebenjene Komplexität von Gesellschaft erklärbar zu machen und damit den reaktionären Appellen von Rechtsaußen entgegenzutreten.
Dass auch die geschichtsphilosophische Auseinandersetzungen um den Begriff der Säkularisierung nicht unumstritten ist, zeigt Inka Sauter in Streitfall Säkularisierung anhand der Diskussionen zwischen Hans Blumenberg, Hermann Lübbe und Karl Löwith auf dem siebten Deutschen Kongress für Philosophie 1962 in Münster. Bei genauer Betrachtung gibt die Debatte Aufschluss über die Sicht der Philosophie auf die deutsche Geschichtspolitik nach 1945, die zwischen Schuldabwehr und Leugnung der deutschen Verbrechen wankt. Der Gegenwart eines fehlgeschlagenen Säkularismus widmet sich Rainer Trampert in seinem Beitrag Der grüne Schöpfungsmythos. Trampert bebildert den bunten religiösen Reigen der Partei Die Grünen, bei dem ökologische Erdrettungsphantasie und altbackene Schöpfungsgeschichte ohne jeden Widerspruch ineinander greifen. Religion wird hier zum Ass im Ärmel, das die Partei immer dann zu zücken weiß, wenn es Wahlerfolge verspricht. Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein, konstatiert wiederum der Befreiungstheologe Paul Martin. Im Gespräch mit Martin fragt die Phase 2 nach dem ambivalenten Verhältnis von christlicher und linkspolitischer Praxis. Martin führt aus, welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, als gläubige Person in linken Zusammenhängen aktiv zu sein und wie es funktionieren kann, Religion als Grundlage des eigenen politischen Handelns zu verstehen. Unter dem Titel Ein anderer Bibelfilm war möglich erläutert Christian Schmidt, warum die artifizielle Übersetzung der Jesusgeschichte in Milo Raus Film Das neue Evangelium zum bloßen moralistischen Kitsch verkommt. Die Suche nach einem neuen Jesus in Gestalt des Hauptdarstellers Yvan Sagnet, der sich in der italienischen Stadt Matera für die Verbesserung der Situation von Migrant:innen einsetzt, misslingt vor allem deshalb, weil der Bibelgeschichte ein gegenwärtiges politisches Bedürfnis übergestülpt wird, ohne auf deren Gehalte zu reflektieren.
Bei aller Rede von Illusionen, Krisenbewältigungsstrategien und ozeanischen Empfindungen hatte zumindest Freud die Nachsicht, dass sich im Glauben ein Quäntchen Positives und Tröstliches finden lässt. Dass der Weg durch die Weizenfelder zu den »Dodekalitten« oder wahlweise entlang des Jakobswegs für so Manche:n mehr als nur ein weiterer Touri-Hotspot oder eine gesundheitsfördernde Grenzerfahrung ist, ließe sich damit als Nebenschauplatz der allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse abtun. Dahinter steckt aber eine Sicht auf die Welt, die sich lieber in Phantasiegeschichten verliert, als sich dem selbstverschuldeten Katastrophenzustand der Welt zu widmen. Darüber kann man den Kopf schütteln oder noch ein bisschen mehr verzweifeln. Notwendige Kritik und politisches Handeln sollten trotzdem nicht auf der Strecke bleiben. Sind sie es doch, die uns vielleicht als einzige die Kränkung erleichtern können, dass dieses Leben am Ende das einzige ist, was uns zur Verfügung steht. Zu guter Letzt sind wir alle schließlich nur ein Stäubchen im Wind.
Phase 2