Im Frühjahr 2010 traten die Arbeiter_innen der Honda-Fabrik von Foshan, Provinz Guangdong, in den Streik. Sie überwanden ihre Spaltung in Festangestellte und Arbeitspraktikant_innen und brachten Hondas gesamte Produktion in China zum Stillstand. Das transnationale Unternehmen sah sich gezwungen, die Arbeiterlöhne um 30 Prozent zu erhöhen. Diese Auseinandersetzung löste eine Streikwelle aus, die über mehrere Sektoren und Regionen rollte und etwa zwei Monate anhielt. Im Herbst 2011 übernahmen die Einwohner_innen von Wukan, Provinz Guangdong, die Kontrolle über ihre ländliche Kleinstadt und warfen die lokalen Partei- und Regierungsvertreter_innen hinaus. Korrupte Beamt_innen hatten ohne angemessene Entschädigung der Bauern Land verkauft. Nachdem die Einwohner_innen Polizeiangriffe abgewehrt und über Wochen auf dem zentralen Platz Versammlungen abgehalten hatten, sagte die Regierung eine Untersuchung der Landverkäufe und die Neuwahl der Lokalregierung zu.
Diese prominenten Beispiele stehen für den Erfolg und das Scheitern von Chinas Aufstandsbekämpfungsstrategien. Die Zahl sozialer Unruhen steigt seit Mitte der neunziger Jahre und schließt drei Klassen ein – Bauern, städtische und migrantische Arbeiter_innen. Landkonflikte, Streiks und Aufstände auf dem Land wie in den Städten können Vorboten einer Explosion der Kämpfe sein, die die derzeitigen sozioökonomischen Machtstrukturen sprengen. Die Aufstandsbekämpfungsstrategien waren aber bisher erfolgreich, sodass diese Explosion noch nicht stattgefunden hat – trotz der Spannungen und der Unzufriedenheit. Soziale Unruhen üben einen enormen Druck auf das Regime aus, aber sie haben dessen Machtposition bisher nicht schwächen können. Die neue herrschende Klasse aus alten Parteioffiziellen, ihren kapitalistischen Nachkommen und deren Verbündeten hat nicht nur den Aufstandsbekämpfungsapparat modernisiert und gestärkt, sie hat auch eine Reihe von Institutionen geschaffen, mit deren Hilfe sie soziale Auseinandersetzungen schlichten, befrieden und integrieren kann.
Zwar hat die Explosion nicht stattgefunden, aber das kann noch kommen. Weder die Repression noch die Integration – und auch nicht die relative Verbesserung der Lebensbedingungen – haben die Bewegung aufhalten können. Die Gründe dafür, weiter zu kämpfen lesen sich als Liste gravierender sozialer Missstände: riesige Einkommensunterschiede, Vertreibungen, Niedriglöhne, lange Arbeitszeiten, ein Mangel an Arbeitssicherheit mit Millionen Toten und Verstümmelten als Folge, kein funktionierendes Sozialversicherungssystem, Massenentlassungen, Altersarmut, weit verbreitete Korruption und Unterschlagungen. Daraus ergeben sich zwei Fragen, die Proletarier_innen, Bauern und alle anderen Betroffenen in China und darüber hinaus letztendlich zu beantworten haben: Da der Kapitalismus diese sozialen Missstände reproduziert, wie kann man ihn loswerden, und was kommt danach?
Vorher schon kein Kommunismus, oder kein Kommunismus mehr?
1978 begann Chinas Kommunistische Partei (KP) ihren langen Marsch vom kapitalistischen Staatssozialismus zum sozialistischen Staatskapitalismus. Das alte sozialistische System hatte den modernistischen Glauben an die industrielle (tayloristische und fordistische) Entwicklung, eine Landreform und die medizinische wie soziale Versorgung der Massen mit der Apartheid zwischen Stadt- und Landbewohner_innen, mit Nationalismus, Militarismus, Autoritarismus und dem Patriarchat gebunden. Die politische, wirtschaftliche und soziale Krise des Staatskapitalismus in den sechziger und siebziger Jahren zwang das Regime zu trial-and-error Reformen. Es wusste nicht, wo der Weg enden würde. Der Prozess kann als die drei langen Jahrzehnte der Reform und Entwicklung bezeichnet werden.
Im ersten langen Jahrzehnt von 1978 bis 1992 begannen die KP und die staatlichen Strukturen mit dem transnationalen Kapital zu kooperieren, um die Bedingungen der Kapitalakkumulation und die Reproduktion der Arbeitskraft zu verändern. Ausländisches Kapital durfte ins Land strömen und der chinesische Staat schaffte die Voraussetzungen für eine profitable Industrialisierung, indem er zum Beispiel die strengen Migrationsbeschränkungen lockerte und dadurch die Versorgung der neu geschaffenen Sonderwirtschaftszonen mit neuen Arbeitskräften sicherte. Die Eiserne Reisschale – eine Reihe sozialstaatlicher Leistungen hauptsächlich für die Minderheit der städtischen Arbeiter_innen – bekam erste Sprünge. Darüber hinaus begann die KP ihre bisherige Klassenkampfrhetorik abzulegen und durch reaktionäre Konzepte sozialer Schichtung zu ersetzen.Die KP folgte damit einem globalen Trend des »Abschieds von der Arbeiterklasse«, Pun Ngai/Chris King-Chi Chan, Die Subsumtion des Klassendiskurses in China, in: Pun Ngai u.a. (Hrsg.), Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Berlin 2010, 258–276. Gleichzeitig wurden andere Elemente des maoistischen Sozialkitts, wie der chinesische Nationalismus und die umfassende Repression, beibehalten. Währenddessen führten die verstärkte Kommodifizierung der Arbeit, die wirtschaftlichen Krisen und der gestiegene Arbeitsdruck in vielen Teilen des Landes zu Massenbewegungen, die ihren Höhepunkt in der Tian‘anmen-Bewegung 1989 fanden. Anders als häufig angenommen handelte es sich dabei nicht nur um eine Studierenden- und Demokratiebewegung, sondern um einen Massenaufstand gegen die soziale Situation und das Regime. Die Zerschlagung der Bewegung mit Tausenden von Opfern, Verhaftungen und Todesurteilen schwächte die Opposition und ebnete den Weg zu noch härteren Angriffen auf die Arbeiter_innenklasse.
Im zweiten langen Jahrzehnt von 1992 bis 2002 strukturierte der Staat seine Wirtschaft um, indem er kleine und mittlere Staatsunternehmen privatisierte oder schloss und die großen Staatsunternehmen in profitorientierte Konzerne verwandelte. Millionen von Arbeiter_innen verloren ihre Jobs; viele von ihnen konnten im Privatsektor keine neue Anstellung finden und bildeten die neue Klasse arbeitsloser Armer. Die Zerschlagung des Sozialstaatsmodells der Eisernen Reisschale führte Ende der neunziger Jahre zum Aufbegehren der städtischen Arbeiterklasse, die die Umstrukturierung zwar nicht stoppen konnte, sie aber verlangsamte und materielle Zugeständnisse durchsetzte. Zur gleichen Zeit schwoll der transnationale Kapitalstrom in die chinesischen Ostprovinzen in enormem Maße an. Im Laufe der neunziger Jahre wanderte die Mehrheit der jungen Landbevölkerung in die Städte ab, um in den Fabriken, auf den Baustellen und im städtischen Dienstleistungssektor zu arbeiten. Das Regime erkannte, dass es die Formen der Repression und der Konfliktlösung modernisieren musste. Es baute eine große Bereitschaftspolizei zur Aufstandsbekämpfung auf, schuf aber zugleich einen neuen arbeitsrechtlichen Rahmen und Mechanismen zur Schlichtung von Arbeitskonflikten.
Das dritte lange Jahrzehnt begann etwa im Jahr 2002. Die KP erlaubte der neuen Elite den Parteieintritt, was sie zu einer Kommunistischen Partei der Kapitalist_innen machte. Die zweite Generation der Wanderarbeiter_innen kam in den zweitausender Jahren in die Städte. Sie lernte aus den Erfahrungen der älteren Migrant_innen aus ihren Dörfern. Sie will in der Stadt bleiben, über einen Teil des von ihr geschaffenen Reichtums verfügen können und ist bereit, dafür zu kämpfen. Die Migrant_innen werden weiterhin als »Landbevölkerung« gesehen und müssen Wege finden, das immer noch existierende Haushaltsregistrierungssystem (hukou) zu unterlaufen, das ihnen einen ähnlich unsicheren sozialen Status verleiht, wie ihn »vorübergehende« Migrant_innen in westlichen Ländern haben. Darüber hinaus gab es in den zweitausender Jahren zahlreiche Bauernkämpfe gegen Enteignung, Landraub, industrielle Umweltverschmutzung und staatliche Korruption. All diese Reaktionen zwingen das Regime zu Feuerwehr-Aktionen. Wenn es zu großen proletarischen oder bäuerlichen Kämpfen kommt, schickt die Regierung nicht nur die Bereitschaftspolizei, sondern auch Regierungsbeamt_innen mit Koffern voll Geld. Wieder wurden neue Gesetze und staatliche Agenturen geschaffen, die die soziale Unzufriedenheit kanalisieren sollen. Das Ganze wird unterstützt durch die konfuzianisch begründete staatliche Propaganda einer »harmonischen Gesellschaft« – eine Drohung an alle, die den sozialen Frieden »brechen« und die Herrschaft der Kommunistischen Partei gefährden.
Ein viertes langes Jahrzehnt oder der Anfang vom Ende?
In einigen Jahren werden wir das Jahr 2010 vielleicht als Anfang des vierten langen Jahrzehnts ausmachen. Die globale Krise und die weltweit zunehmenden sozialen Kämpfe haben die Rahmenbedingungen verändert und können in China neue Möglichkeiten der Veränderung schaffen. Der Honda-Streik und die anschließende Streikwelle haben – zusammen mit der Selbstmordserie beim Elektronikhersteller Foxconn – großen Einfluss auf die öffentliche Debatte über Arbeitsunruhen und soziale Gerechtigkeit in China gehabt. Während ein Teil der Proletarier_innen Streiks als Kampfmittel einsetzen (weil sie in industriellen Einheiten mit Hunderten oder Tausenden anderen arbeiten, die ähnliche Interessen haben), setzen andere weiter auf Massenaufstände und Riots als Mittel, ihre Wut auszudrücken: eine Form der »Tarifverhandlung durch Randale«. Die steigende Zahl autonomer Organisierungsformen unter Arbeiter_innen und Bauern hat innerhalb der Machtstrukturen zu einer Debatte darüber geführt, wie sie mit dem sozialen Druck von unten zurechtkommen können.
Im Zusammenhang mit dem verschärften Klassenantagonismus haben sich seit den achtziger Jahren viele der die chinesische Gesellschaft abstützenden Institutionen dramatisch verändert. Dies hat zu einer Krise der sozialen Reproduktion und des Geschlechterverhältnisses sowie zu neuen (Frauen-)Kämpfen um die Organisation der Reproduktion und um soziale Freiheit geführt. Migration, Ein-Kind-Politik und das latente Auseinanderfallen der biologischen Familie hat den Status der Frauen in den Familien und in der Gesellschaft verändert und eine tiefe »Versorgungskrise« geschaffen. Wie üblich nutzt das Kapital das Verlangen der Unterdrückten nach einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, um neue Formen der Kontrolle und Ausbeutung einzuführen. In diesem Fall nehmen viele Frauen, die durch die Migration geschaffene Möglichkeit war, der patriarchalen Unterdrückung im Dorf zu entkommen, nur um sich dann in einer neuen Industriewelt mit einem anderen patriarchalen Regime wiederzufinden. Dies hat zusammen mit der Kommodifizierung und den steigenden Kosten für häusliche Arbeit, medizinische Versorgung und Bildung enormes soziales Elend und verstärkte Existenzängste erzeugt. Arbeiter_innen in China sehen sich gezwungen, ihr persönliches suzhi (d. h. ihre sozialen Fähigkeiten oder ihr Humankapital) zu verbessern, um damit ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen und die Anforderungen der Reproduktion zu erfüllen.Für eine Darstellung von suzhi als neoliberalem Konzept, ähnlich dem »lebenslangen Lernen« oder »Selbstmanagement« siehe Yan Hairong, Zwischen Ruralität und Autonomie im Arbeitsprozess. Migrantische Hausangestellte im heutigen China, in: Pun Ngai, Aufbruch der zweiten Generation, 161–190. Außerdem haben die langen Arbeitszeiten und die Migration über weite Entfernungen zu dramatischen »Zeitkrisen« im Alltagsleben der Arbeiter_innen geführt.Dazu aus feministischer Perspektive Liu Jieyu, Gender and Work in Urban China. Women Workers of the Unlucky Generation, London/New York 2007. Weitere soziale Spannungen entstanden durch die gleichzeitige Existenz von Arbeitslosigkeit, Prekarität, Ausbeutung, rassistischer Diskriminierung von Migrant_innen bzw. sogenannten Minderheiten und der altenfeindlichen Spaltung durch industrielle Strategien, die junge Arbeitskräfte bevorzugen.
Der Staat weiß, dass er diese sozialen Spannungen weiter orchestrieren und soziale Technologien anwenden muss, um die sozialen Revolten zu schwächen. Er versucht die Mechanismen der Konfliktregelung an die neuen Arbeitsverhältnisse anzupassen. Dies schließt eine weitere Modernisierung des Migrationsregimes (hukou), neue Arbeitsbestimmungen und die strenge Konfliktkanalisierung durch staatliche Behörden und Gewerkschaften ein. Vor allem versucht das Regime das Wirtschaftswachstum abzusichern – trotz der katastrophalen Folgen für Natur und Menschen. Es muss sicherstellen, dass die selbstgesetzte Acht-Prozent-Wachstumsrate erreicht wird, um genug Arbeitsplätze für alte und neue Proletarier_innen zu schaffen und damit weitere soziale Turbulenzen zu verhindern. Es braucht dieses Wachstum auch, um den kapitalistischen Traum des kontinuierlichen materiellen Fortschritts und das Versprechen auf ein besseren Leben für die unterdrückten Klassen erhalten zu können.
In der möglichen vierten Phase der Reformen agiert ein sich selbst als »marktsozialistisch« verstehender Staat, der sich weiter auf kapitalistisches Wachstum und Modernisierung konzentriert und die »Privatisierung« der landwirtschaftlichen Flächen auf dem Land plant. Diese Reform könnte die Proletarisierung der Landbevölkerung abschließen, indem ihr die (begrenzten) Subsistenzmittel genommen werden. Der Staat mischt Strategien kapitalistischer Ausbeutung und workfare mit sozialen Techniken repressiver Toleranz, die sich von jenen unterscheiden, mit denen sich die Proletarier_innen in »westlichen« Staaten auseinandersetzen müssen. Wenn wir eine Perspektive sozialer Umwälzung einnehmen, sind Chinas Aufstandsbekämpfungsstrategien und die kapitalistischen Reparaturversuche – wie Kapitalverlagerung, Automatisierung, Spaltung der Belegschaften entlang des Geschlechterunterschieds, usw.Beverly Silver, Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin 2005. – offensichtliche Angriffsziele. Andere Ziele dagegen verschwimmen hinter den diffusen Interessen linker Akteur_innen und ihren Ideologien.
Linke Sackgasse versus destruktive Kritik
Die Ausbreitung der Kämpfe in China könnte neue soziale Veränderungsperspektiven eröffnen. Vor zehn Jahren gingen viele Kämpfe noch auf Organisationsformen zurück, die auf verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhten. Oft waren sie auf zellulare Mobilisierungen in einer Firma oder Nachbarschaft begrenzt. Innerhalb eines Jahrzehnts sind neue Gruppen von Arbeiteraktivist_innen sowie sogenannter Bürgeranwält_innen und -journalist_innen entstanden, und Freundes- und Interessengruppen haben die Verwandtschaftsnetzwerke ergänzt.Pun Ngai/Chris King-Chi Chan, The making of a new working class: a study of collective actions of migrant workers in South China, in: The China Quarterly 198 (2009), 287–303. Obwohl sich die hukou-Spaltung (in ländliche und nicht-ländliche Arbeiter_innen) und Arbeits- und Community-Hierarchien in den Streikkomitees und selbstorganisierten Initiativen widerspiegeln, zeigt sich eine erstaunliche, von der Klassen(neu)zusammensetzung ausgehende soziale Dynamik: Streikwellen, Nachahmungs-Streiks, Domino-Widerstand von unten (der sich z.B. in einem Industriegebiet fortsetzt), Debatten über Bedingungen, Organisierungs- und Veränderungsstrategien in der digitalen Wolke der Chatrooms und Websites, aber auch entlang der realen Migrationsrouten und innerhalb der proletarischen Communities. Dies wirkt sich auf die ländlichen, migrantischen und urbanen Arbeiterklassen aus, einschließlich der sogenannten Ameisen (yizu), gut ausgebildeten aber prekären Angestellten, die auf eine Karriere hofften, sich aber in unqualifizierten Jobs wiederfinden. Das chinesische Regime fürchtet, dass diese neue Unterklasse mit den Proletarier_innen mit manuellen und Dienstleistungs-Jobs zusammenkommen und die jetzige Ordnung untergraben könnte.
Was wir im weitesten Sinne als »Linke« bezeichnen können, ist in China unterdessen klein und gespalten. Ein bedeutender Teil wird von verschiedenen Interpretationen des Maoismus beeinflusst. Er unterstützt Arbeiter_innenkämpfe, klebt aber weiter an Parteikonzepten und nationalistischen Positionen. Aktivistische NGOs, von denen viele von Stiftungen, Gewerkschaften oder Kirchen aus Hongkong oder dem Westen unterstützt werden, oszillieren zwischen Sozialarbeit und staatsorientiertem Reformismus. Eine gewisse Verbreitung neomarxistischer und feministischer Ideen in jungen, studentischen Kreisen sowie ein neues Interesse an Arbeiter_innenkämpfen und das Verlangen, darin mitzumischen, sind vielversprechende Zeichen. Diese kleine »Linke« muss sich aber einerseits mit Zensur, Repression und Drohungen von Seiten der Sicherheitsbehörden auseinandersetzen und andererseits dem starken Druck der Staats- und Parteiapparate standhalten, die verlangen, dass sie der Linie der »sozialen Harmonie« folgen und dabei helfen, Klassenmacht in Sozialpartnerschaft zu verwandeln.Lance Carter, A Chinese Alternative? Interpreting the Chinese New Left Politically, in: Insurgent Notes 1 (Juni 2010), zit. n. http://insurgentnotes.com/2010/06/chinese-new-left/.
Ein Beispiel für linke Illusionen und Lobbypolitik ist die Debatte über Gewerkschaften, die ein Instrument zur Kontrolle und Befriedung von Arbeiter_innenkämpfen sein können. Sie repräsentieren zwar materielle Interessen von Arbeiter_innen gegen die Interessen von Kapital und Staat, aber lediglich in bestimmten systemischen Grenzen und unter Anerkennung kapitalistischer Mechanismen – andernfalls müssten sie aus ihrer gewerkschaftlichen Rolle ausbrechen. In China sind die Gewerkschaften immer noch Massenorganisationen der KP. Sie sind direkt abhängig von der finanziellen Unterstützung durch den Staat und den Anordnungen der Regierung unterworfen. Sie wenden sich gegen alle Streiks und greifen unabhängige Formen der Organisierung an. Das hindert linke – maoistische oder andere – Verfechter_innen kämpferischer oder reformistischer Gewerkschaften nicht daran, eine »Reform« der staatlichen Gewerkschaften zu fordern, damit diese als wahre Gewerkschaften gegenüber Kapital und Staat auftreten können. Andere linke Vorkämpfer_innen bevorzugen den Aufbau unabhängiger Gewerkschaften nach westlichem Modell und meinen, diese würden im Interesse der Arbeiter_innen handeln. Sie ignorieren die lange Geschichte gewerkschaftlicher Kompromisse in Ländern rund um den Globus.
Statt »linke« Reparaturwerkzeuge für auseinanderfallende kapitalistische Sozialstrukturen zu schaffen, die Zahnräder der Befriedung sozialer Kämpfe zu fetten oder gar dem Mythos vom »Arbeiterstaat« neues Leben einzuhauchen, sollte die chinesische Linke Prozesse der Klassen(neu)zusammensetzung unterstützen. Sie sollte dazu die Zensur unterlaufen, mehr Informationen über die Kämpfe in China verbreiten, ihre konstruktive Rolle in den Grenzen des Kapitalismus aufgeben und stattdessen Werkzeuge destruktiver Kritik entwickeln. Solche Form der Kritik muss die staatliche Propaganda ebenso angreifen wie die kapitalistische Ausbeutung und Perspektiven jenseits des Kapitalismus eröffnen können. Konkrete Methoden sollten wenigstens zwei Elemente umfassen, von denen sich auch in Chinas Geschichte revolutionärer Politik Spuren finden lassen: Die Analyse der Klassen(neu)zusammensetzung aus dem Blickwinkel der Proletarier_innen und den Versuch, die Grenzen zwischen Proletarier_innen, Aktivist_innen und sogenannten Intellektuellen in China aufzubrechen.
Globalisierte Perspektive
Dies ist natürlich nicht nur eine Herausforderung für die Linke in China, sondern in der ganzen Welt. Es ist verblüffend, dass nach Jahrzehnten gescheiterter Projekte linker Parteien, nationaler Befreiungsbewegungen, des Staatssozialismus und der Sozialdemokratie ein großer Teil der Linken immer noch an der alten Erzählung der Staatenbildung, an parteibasiertem Parlamentarismus, Paternalismus und Machtpolitik festhält – und das in einer Zeit der globalen Krise und des weltweiten Elends. Es ist an der Zeit, sowohl das Billiglohnmodell als auch sozialstaatliche Kompromisse anzugreifen. Die Linke muss Strategien des Konsument_innenboykotts, der Unternehmensverantwortung und des linken Lobbyismus hinter sich lassen und sich für nicht-paternalistische Solidaritätsformen über die materiellen wie virtuellen Grenzen hinweg engagieren. Der überholte Internationalismus muss der Perspektive einer globalen Arbeiter_innenklasse weichen. Diese Klasse ist bisher noch entlang des Nord-Süd-Gefälles, durch nationale Arbeitsmärkte (wie auch sexistische und rassistische Arbeitsteilung innerhalb dieser Märkte) und entlang der globalen Migrationsketten gespalten, aber die globale Kampfwelle eröffnet Möglichkeiten, diese Grenzen von unten anzugreifen.
Das globale Kapital hat in China eine Koalition mit dem Parteistaat gebildet, der seine Herrschaft verteidigen wollte. Daraus entstanden zunächst Konflikte in den Sonderwirtschaftszonen entlang der chinesischen Ostküste, die jetzt aber auch den Routen der Kapitalverlagerung nach Zentral- und Westchina folgen. Wenn der Druck von unten zunimmt und das Regime erfolgreich zu mehr Zugeständnissen zwingt, und wenn sich die globale Krise auch in China auswirkt, dann könnten die sozialen Kämpfe auf die globale Ebene zurückschwappen, mit Sozialrevolten woanders zusammenkommen und das kapitalistische Krisenmanagement durcheinander bringen. Soziale Kämpfe haben oft keine politischen Forderungen – in China genauso wenig wie anderswo –, aber wenn sie eine Massenbewegung bilden, können sie das kapitalistische Netz von Ausbeutung und Unterdrückung überdehnen und so einen Weg in eine Welt jenseits kapitalistischer Verhältnisse ebnen. Dieser Prozess könnte gerade begonnen haben und die Kämpfe in China werden eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Richtung festzulegen und den Ausgang zu bestimmen.
Freund_innen von gongchao.org
Bei diesem Text handelt es sich um die redaktionell bearbeitete Übersetzung eines englischsprachigen Beitrags für Mutiny, Ausgabe 65 (2012), einzusehen unter: jura.org.au/mutiny