In dem einen Jahr ihrer Existenz hat die Band Pussy Riot mehr erreicht, als sich alle linken und feministischen Organisationen im postsowjetischen Raum je hätten erträumen lassen: weltweite Bekanntheit, Sympathie und Solidarität verschiedener politischer Kräfte in und außerhalb Russlands und eine ungeheure Resonanz auf die eigenen Aktionen. Freilich sind diese Ergebnisse weniger aufgrund der feministischen Inhalte, sondern eher ihnen zum Trotz erzielt worden. »Zugehörigkeit zum Feminismus stellt in der [Russischen Föderation] keinen Rechtsbruch und keinen Straftatbestand dar. [...] Und obwohl der Feminismus keine religiöse Lehre darstellt, dringen seine Vertreter in solche Sphären der gesellschaftlichen Verhältnisse vor, wie Anstand und Sittlichkeit«, verkündete die Richterin Marina Syrowa in der Begründung des Urteils gegen die Bandmitglieder vom 17. August 2012. In dieser heißt es auch, dass die »Idee von der Überlegenheit von einer Ideologie über die andere den Boden für die [religiöse] Feindschaft« böte. Bekanntlich lautet das Vergehen der drei Angeklagten »Rowdytum aus religiösem Hass«. Prigovor Pussy Riot. Citaty, Interfax vom 17.08.2012, http://0cn.de/r1pj. Währenddessen wurde bei den Solidaritätsbekundungen oft darauf hingewiesen, dass die Angeklagten kleine Kinder haben und es deswegen inhuman sei, sie zu einer Gefängnisstrafe zu verurteilen. Die harte Reaktion der Kirchenführung auf den Auftritt der Band Pussy Riot in der Erlöserkathedrale am 21. Februar 2012, der Anlass des Prozesses war, führte zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche – ein Teil der Gläubigen und der Priesterschaft appellierte an die christliche Milde, ein anderer wollte ein Exempel statuieren.Nikolaj Mitrochin, Rakol po prikolu, Grani.ru vom 22.03.2012, http://0cn.de/xutg.
Die aus unterschiedlichen politischen Lagern zu vernehmende Unterstützung für die drei Mitglieder von Pussy Riot hat in den meisten Fällen wenig mit Sympathie für die feministische Programmatik der Band zu tun. Vielmehr stellte die Kritik an einer zunehmenden politischen Einmischung der Kirche und an der Korruption der Kirchenoberhäupter den Minimalkonsens der russischen SympathisantInnen Sofern nicht ausdrücklich von einem Geschlecht die Rede ist, wurde bei den Bezeichnungen von der Redaktion das Binnen-I hinzugefügt. dar. Für ein weltweites Interesse an dem Prozess sorgte vor allem die Gegnerschaft der Angeklagten zu Wladimir Putin. Selbst diejenigen öffentlichen Figuren und politischen Organisationen, die Queer-Feminismus oder Kirchenkritik wenig abgewinnen können, beteiligen sich an der medialen Aufregung über den Prozess, solange es nur irgendwie gegen Putin ging. Gerade in Russland fallen oft Äußerungen, in denen Pussy Riot einerseits als dumm und geschmacklos bezeichnet werden, andererseits der Prozess aber als künstlich aufgebauschter Skandal mit maßlos hartem Urteil kritisiert wird.
Die Hintergründe
Haben also Pussy Riot mit ihrer Aktion einen Erfolg erzielt oder ist ihr Weltruhm, bezahlt mit langem Freiheitsentzug, eher der Anfang vom Ende der Band als linksfeministisches Projekt? Wer interessiert sich noch dafür, was die drei Opfer der russischen Justiz über die Geschlechterrollen und Gender-Trouble sagen, wenn die Debatte sich nur noch darum dreht, ob Russland das Prädikat »Rechtsstaat« verdient oder nicht?
Die Geschichte von Pussy Riot hat ihren Ursprung in der KünstlerInnen-Gruppe Woina (Krieg). Sie wurde im Februar 2007 unter anderem von Nadeschda Tolokonnikowa und ihrem Ehemann Pjotr Wersilow gegründet. Bekannt geworden ist Woina zunächst durch die Bemühungen des Philologen Alexei Pluzer-Sarno, der sich vor allem durch seine Studien über obszöne russische Lexik einen Namen gemacht hatte. Pluzer-Sarno trat als Art-Director der Gruppe auf und lieferte in seinem Blog zu allen Aktionen der Band lange Erklärungen. Die skandalöseste Aktion von Woina war ein inszenierter Gruppensex im Moskauer Museum für Biologie im Februar 2008. Damit sollte Protest gegen die faktische Benennung Dmitrij Medwedews durch Putin als Nachfolger im Präsidentenamt geübt werden, aber auch gegen Putins Appell, die Geburtenrate zu steigern. Die Aktion wirkte zwar wie eine Kopie von zahlreichen 68er-Happenings, bei denen Geschlechtsverkehr und Nacktheit demonstrativ der Öffentlichkeit dargeboten wurden. Sie zeigte aber auch, dass eine Provokation, die im Westen kaum noch als solche wahrgenommen worden wäre, im heutigen Russland ihre Wirkung nicht verfehlt.
Woina betrachtete sich von Anfang an als ein politisches Projekt und alle Aktionen trugen einen deutlich oppositionellen Charakter. Aus den Aktionen selbst aber ließ sich zumeist kaum erschließen, welche Richtung die Kritik an Putins und Medwedews Regierung einschlägt, wie etwa im Falle einer Aktion im Jahr 2010, als ein Mitglied der Gruppe sich in einem Supermarkt ein gefrorenes Huhn in die Vagina steckte. In der öffentlichen Debatte über diese Provokation fiel ihr zweideutiger Titel »Fotze futtert Krieg« schnell unter dem Tisch. Die Pointe war, dass die Teilnehmerin die Aufregung nutzte, den Supermarkt mit dem Huhn zu verlassen. Das auf diese Weise entwendete Geflügel sollte das Fressen für Woina sein und zugleich darauf hinweisen, dass es die Frauen sind, die das Kanonenfutter für die kommenden Kriege gebären. Daneben beteiligte sich die Gruppe im Jahr 2010 an der Kampagne für den Erhalt des Chimki-Waldes, an den alljährlichen Mai-Feiern der Vereinigen Demokratischen Bewegung Solidarnost Solidarnost wurde 2008 gegründet und versammelt vor allem liberale Gegner Putins. Angeführt wird es unter anderem vom langjährigen Mitglied der Jelzin-Regierung Boris Nemzow. und an den Versuchen, eine Gay-Parade in Moskau durchzuführen.
Schon bald begannen bei Woina harte Auseinandersetzungen über ihr Verhältnis zu Pluzer-Sarno, der an Aktionen kaum teilnahm, sich aber dennoch als oberster Interpret aller Aktionen von Woina in Szene setzte. In deren Folge kam es zur faktischen Spaltung der Gruppe in eine Moskauer und eine Petersburger Fraktion, wobei die erste die Keimzelle der zukünftigen Pussy Riot wurde. Die Moskauer Fraktion sammelte sich um Eheleute Pjotr Wersilow und Nadeschda Tolokonnikowa, die Petersburger Fraktion um die Eheleute Oleg Worotnikow und Natalja Sokol. Der Petersburger Fraktion spricht der Moskauer das Recht ab, den Namen Woina zu benutzen und beschuldigt sie, Provokateure des Geheimdienstes zu sein. Außerdem schied im Januar 2009 der bisherige Fotograf von Woina, der bekannte Philologe Alexei Kassjan, aus der Gruppe aus. Diesen Schritt begründete er in einem Abschiedstext unter dem Titel »Über die Schwuchteln« damit, dass die Gruppe sich vermehrt LGBT-Thematiken zuwende und mit der Antifa zusammenarbeite. Aleksej Kas’jan , O pidarasach, http://0cn.de/4t1r. In den letzten Jahren wurden die Aktionen zunehmend politischer und militanter. Noch im April 2011 bekam Woina den »Innovazija«-Preis des russischen Kulturministeriums in der Kategorie visuelle Kunst, Die Gruppe erschien nicht zur Preisverleihung und spendete das Geld an die Organisation Agora, die sich der Unterstützung von politischen Gefangenen widmet. aber bereits in der Silvesternacht soll die Gruppe angeblich ein Polizeiauto angezündet Es ist bis heute nicht geklärt, ob das tatsächlich so stattgefunden hat.und damit gedroht haben, diese Tat zu wiederholen.
Teil der Bewegung
Die Gruppe wurde zum festen Bestandteil der Protestbewegung gegen Putin, an der Liberale, Linke verschiedener Couleur aber auch viele radikale NationalistInnen teilnehmen. In ihren medialen Äußerungen betonte die Gruppe die Einheit der Protestbewegung. So äußerte sich beispielsweise Pjotr Wersilow durchaus positiv über den nationalistischen (oder besser gesagt: nationalliberalen) Anti-Korruptions-Blogger Alexei Nawalny. Pjotr Verzilov, »My sej?as ?ast‘ odnoj dvižuchi«, http://0cn.de/7vbr.
Das im August 2011 entstandene Projekt Pussy Riot ist zwar mit Woina personell verknüpft, über das Verhältnis der beiden Gruppen zueinander aber wurde bisher wenig gesprochen. So erwähnten die Mitglieder von Pussy Riot einmal, dass ihnen zwar einige Aktionen von Woina gefallen würden, sich andere aber zu sehr am konservativ-patriarchalen Geschmack orientierten. Vladislav Moiseev, Bunt feminizma, Russkij reportjor vom 24.02.2012, http://0cn.de/qhme. Als Abspaltung im eigentlichen Sinne kann Pussy Riot jedoch kaum gelten: Bis vor kurzem spielte Pjotr Wersilow, Ehemann von Tolokonnikowa und informeller Anführer der Moskauer Woina-Fraktion, eine ähnliche Rolle des medialen Oberdeuters wie Pluzer-Sarno. Neu waren die inhaltlichen und künstlerischen Schwerpunkte. Pussy Riot bekannte sich von Anfang an zur »dritten Welle« des Feminismus und zur Queer-Theory, griff auf die Ästhetik der linken Protestbewegungen zurück (die von Autonomen und ZapatistInnen bekannten Masken wurden durch bunte Strickästhetik entmaskulinisiert und verfremdet) und widmete sich vor allem der Musik, die zuvor bei Woina keine Rolle gespielt hatte. Als ihre Vorbilder nannten Pussy Riot neben den Guerilla Girls auch die Suffragetten und russische Sozialrevolutionärinnen, wie die Futuristin Olga Rosanowa, Olga Rosanowa (1886–1918), russische Malerin und Dichterin, war in verschiedenen Avantgarde-Strömungen aktiv. aber auch sowjetische Künstlerinnen wie Wera Muchina, Wera Muchina (1889?–1953), sowjetische Bildhauerin und eine der bekanntesten KünsterInnen der monumentalen Propaganda wurde mit insgesamt fünf Stalin-Preisen ausgezeichnet. zu deren Arbeiten unter anderem die berühmte Skulptur »Arbeiter und Kolchosbäuerin« gehört. Auf der Liste stehen ferner die Konstruktivistin Warwara Stepanowa, Warwara Stepanowa (1894?–1958), sowjetische Malerin und Designerin, war zusammen mit ihrem Ehemann Alexander Rodtschenko führende Theoretikerin des sowjetischen Konstruktivismus. Nina Hagen, Sulamith Firestone, Valerie Solanas, Sarah Lucas und Catherine Breillat sowie die zeitgenössische russische Feministin Wera Akulowa.Nadežda Parfan, Pussy Riot: »U nas gospodstwujut ravnye prava bez pontov«, in: Art Ukraine 2 (2012), http://0cn.de/bklz. Diese leicht eklektische Auswahl stellt vor allem den Versuch dar, einen eigenen Kanon nach feministischen Kriterien aufzubauen. Die künstlerischen Vorbilder vereinen dabei nicht so sehr ästhetische oder politische Gemeinsamkeiten, sondern, so Pussy Riot, deren Versuche dem »Machismo« in der Kunst zu trotzen. Ebd. Der Bezug der Band auf Riot Grrrls geht zwar schon aus dem Namen Pussy Riot hervor, es existiert jedoch ein wichtiger Unterschied. Riot Grrrl ist als Rebellion gegen die patriarchalen Strukturen innerhalb einer Subkultur entstanden. Sie griffen eine Szene, die davor ihre eigene war, frontal an. Demgegenüber haben Pussy Riot sich bisher strikt an den Burgfrieden der Anti-Putin-Einheitsfront gehalten. In Interviews machen sie klar, dass neben den mehrheitlich linken Mitgliedern der Gruppe, auch Liberale aktiv teilnehmen. Dar’ja Zagvozdilina, »My vyšli zachwatyvat‘ ulicy«, Gazeta.ru vom 27.02.2012, http://0cn.de/6pq0. Es existieren bis heute kein offizieller Gründungstext oder andere programmatische Dokumente der Gruppe. Ihre Inhalte transportiert sie ausschließlich über Songtexte und die zahlreichen Interviews. Die Songs werden vor allem in Form von Aktionsvideos im Umlauf gebracht. Bisher gibt es davon nur fünf und in allen werden Parolen gegen Putin mit feministischen Slogans verbunden. Während eines Auftritts am Tag der Duma-Wahlen im Dezember 2011 bezogen sich Pussy Riot auch positiv auf den Arabischen Frühling: »Egipetskij wosduch polesen dlja lechkich / sdalaj Tahrir na Krasnoj ploschadi (Ägyptisches Luft ist gut für die Lunge / Mach Tahrir auf dem Roten Platz).« Der Song endet mit der Zeile »Tahrir Tahrir Tahrir Bengasi / Tahrir Tahrir Tahrir Tripoli«. Youtube.com, http://0cn.de/lt3i.
Zahnloser Protest?
Die heile Welt des Protestes, wo arabische Revolutionen, Queer-Feminismus und Anti-Putin-Opposition irgendwie auf einer Seite stehen, bekommt allerdings spätestens dann Risse, wenn es um die Themen geht, die auch der Trennung von Woina ihren Sinn gaben. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis beschwerte sich Jekaterina Samuzewitsch als erste aus der Gruppe, dass die öffentliche Rezeption sich auf Putin-Kritik konzentriere und feministische Aspekte der Aktionen kaum beachtet würden. Ekaterina Samucevi?, My živem v bol’šoj tjur’me, Bol’šoj gorod vom 15.10.2012, http://0cn.de/uk2p. Sofort meldete sich Julia Latynina, eine bekannte rechtsliberale Journalistin und wichtige Figur im Oppositionslager zu Wort: Pussy Riot, die infantilen Dümmerchen, so Latynina, sollten sich gefälligst entscheiden, ob sie denn nun um Putin oder »um die Form ihrer Geschlechtsorgane« besorgt seien. Zum Glück sei Russland kein politisch korrektes Land und das Problem der Geschlechtergleichheit stünde in der Auseinandersetzung an letzter Stelle. Julija Latynina, Evangelie ot Samucevi?, gazeta.ru vom 19.10.2012, http://0cn.de/93c5. Der israelische Historiker und Soziologe Alec D. Epstein, der gerade an der Herausgabe eines Buchs über Pussy Riot arbeitet, ist zwar als Kritiker des Sexismus in russischen intellektuellen Kreisen bekannt, aber auch ihm fällt zum Gerichtsverfahren gegen die Gruppe als erstes ein, dass sie nicht wegen ihrer Position zu Feminismus oder Homosexualität verfolgt werde, sondern wegen ihrer Kritik am »Regime«. Alec D. Epstein, Mobilizovannaja Bogorodica: pank-moleben gruppy »Pussy Riot« v Chrame Christa Spasitelaja, in: ?Neprikosnovennyj zapas 3 (2012), 121-144.
Dabei hat sich die Gruppe seit ihrer Gründung darum bemüht, allgemeine demokratische Forderungen mit einer genuin feministischen Agenda zu verknüpfen. Zwar erklären Pussy Riot Wladimir Putin zum »Symbol der patriarchalen Strukturen und des Sexismus«, so manch anderer bekannter Teilnehmer der Oppositionsmärsche hat jedoch schon wesentlich härtere sexistische Positionen als Putin artikuliert. Im gleichen Interview nimmt die Gruppe auch den bekennenden Teilnehmer der nationalistischen »Russischen Märsche« Nawalny in Schutz, mit der Begründung, er verurteile schließlich homophoben Gesetzesentwürfe. Moiseev, Bunt feminizma. Konkret gemeint war der Gesetzentwurf »gegen Propagierung von Homosexualität«. Die Frage, wie weit man in der Zusammenarbeit mit solchen Kräften der Opposition gehen will, wird den Mitgliedern von Pussy Riot immer wieder gestellt. Ihre Einstellung erläutert beispielsweise das Mitglied »Tjurja« wie folgt: »Nawalny ist ein Kerl, der viel auf dem Kasten hat. Wenn Putin wirklich zum Teufel fährt, dann wird es eine normale Vertretung verschiedener Kräfte geben, alle werden sich aussprechen, sowohl er wird sprechen, als auch wir.« Daniil Turovskij, »?to že vy delaete, dev?onki?« Pussy riot o bor‘be s režimom i ljubvi k kotikam, Afiša vom 24.01.2012, http://0cn.de/ygsu. So provokant die Aktionen der Gruppe sein mögen, politisch fügen sie sich brav in die Opposition ein, wo sich nach der Jelzin-Zeit zurücksehnende Liberale neben NationalbolschewistInnen und »NationaldemokratInnen« In letzter Zeit zunehmend populäre politische Strömung, die pro-westliche und marktliberale Forderungen mit russischen Nationalismus verbindet. Zu den Forderungen der Nationaldemokraten gehören die Einschränkung der Migration und die Aufhebung der Autonomie der so genannten Nationalen Republiken. marschieren. Die Vorstellung, Putin sei der Hauptfeind und alle seine GegnerInnen seien daher irgendwie Verbündete, lässt viele russische Linke zusammen mit Rechten auf Demos für die Freilassung aller politischen Gefangenen auftreten. Dabei ist die Ablehnung von Homophobie und Sexismus in den eigenen Reihen keine Selbstverständlichkeit. So wurden auf dem Oppositionsmärschen in Moskau am 7. November 2012 und am 13. Januar 2013 TrägerInnen von LGBT-Regenbogenfahnen gewaltsam aus dem anarchistischen Block entfernt. Die Begründung: Die Fahnen würden abschreckend auf die Bevölkerung wirken, linke Gefangene in der homophoben Atmosphäre russischer Gefängnisse zusätzlichen Gefahren aussetzen und außerdem den revolutionären Anarchismus in die Nähe reformistischer BürgerrechtlerInnen rücken. Siehe beispielsweise: Po povodu sporov na s?et LGBT simvoliki, http://0cn.de/9ih0. Die diffusen politische Inhalte von Woina und Pussy Riot ernten im Rahmen der Proteste der Opposition große mediale Aufmerksamkeit und staatliche Repressionen; aber gegenüber heutigen MitstreiterInnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit die zukünftigen GegnerInnen sind, bleiben die enfants terribles recht zahnlos.
Zeilen wie »Prjamoje dejstwije – buduschee tschelowetscheswa / LGBT, feminism, saschiti otetschestwo (Direkte Aktion ist die Zukunft der Menschheit / LGBT, Feminismus, beschützt das Vaterland)« www.youtube.com/watch?v=mmyZbJpYV0I. sollten vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Pussy Riot haben viel Mut bei ihren Aktionen und während des – mit enormen Rechtsverletzungen abgelaufenen – Prozesses bewiesen. Ihre Positionen bleiben aber äußerst fragwürdig. So verkündet eine der Aktivistinnen, »Schlajapa«, im Interview mit Klaus-Helge Donath von der Tageszeitung: »Ich bin eine Vertreterin des Aktionismus und Situationismus. Wenn ich es könnte, würde ich jeden verpflichten, etwas Nützliches und Sinnvolles im Leben zu tun. Vor allem die verrückten orthodoxen Gläubigen, die im Prozess auftraten. Sie tun nichts, sind einfach Parasiten.« »Jeder Akt eine Mutprobe« – Interview mit Aktivistin von Pussy Riot, Die Tageszeitung vom 28.09.2012. Laut Selbstbeschreibung sind die meisten Teilnehmerinnen junge, erfolgreiche Vertreterinnen der kreativen und akademischen Berufe aus der Hauptstadt – also derjenigen Milieus, bei denen die Unterstützung für liberale Putin-Gegner, wie Nawalny, oder Multimilliarder Michail Prochorow besonders hoch ist.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass die Aktion in der Kathederale sich gerade nicht gegen Religion, sondern gegen die Dissonanz zwischen christlichen Prinzipien und dem Verhalten der Kirchenoberhäupter richtete. Das »feministische Punk-Gebet« war ja gerade darauf bedacht, sich nicht gegen die Gläubigen und den Glauben zu wenden, sondern an den Glauben zu appellieren. Eine der Teilnehmerinnen, Marija Alechina, war auch lange Zeit für eine orthodoxe Wohlfahrt-NGO tätig. Geholfen hat das alles vor Gericht freilich nicht.
Andererseits: Würde die Gruppe sich von der »Hauptsache gegen Putin«-Position verabschieden und die linken und feministischen Punkte in der eigenen Programmatik stärker betonen, so wäre es schnell vorbei mit Unterstützungsbekundungen von vielen Oppositionellen im In- und Ausland. Und vorbei wäre es wohl auch mit dem Applaus von prominenten VerteidigerInnen deutscher Nationalinteressen, für die Pussy Riot willkommene moralische Munition gegen den Konkurrenten Russland geliefert hat. Zur Kritik der medialen Aufregung siehe beispielsweise: Wie mit Pussy Riot der Rechtsstaat verteidigt wird, in: Termit 23 (2012), 10, http://0cn.de/c1lz.
~ Von Ewgeniy Kasakow. Der Autor ist Historiker und promoviert in Bremen.