Als vor vier Jahren in Paris das Finale, welches Frankreich seinen ersten WM-Titel bescherte, beim Endstand von 3:0 abgepfiffen wurde, gab es einen eindeutigen Verlierer: Le Pen. Er hatte im Vorfeld der Weltmeisterschaft die sogenannte „Nationalmannschaft“ mit den vielen „Negern“, die nicht einmal die „Marseillaise“ zu singen imstande wären, verhöhnt. Der Sieg befreite das Land, das in einem Taumel des Büßens für Vichy steckte, von den historischen Dämonen seiner Vergangenheit und schien auch dem Spuk Le Pen ein Ende zu bereiten. Die multikulturellen Fußballer wurden als antifaschistische Stoßtruppe gefeiert und zur ideologischen Avantgarde im Kampf gegen die Nationale Front verklärt. Doch vier Jahre danach ging das innenpolitische Nachspiel beinahe noch verloren. Le Pen selbst war es, der ins Finale der Präsidentschaftswahl einzog, im Gegensatz zur „Equipe Tricolore“ aber verlor.
Erneut ging es diesen Frühsommer um Fußball und Faschismus. Unter verschärften Bedingungen mussten die Schlachten an beiden Fronten neu geschlagen werden – zu Hause und am anderen Ende der Welt. Die Editorialisten hatten ihre Leitartikel für die Sonderbeilagen unter dem Schock der Präsidentenwahlen geschrieben. Noch ganz benommen erinnerten sie sich ungläubig der Euphorie und der offensichtlich voreiligen Lektionen von 1998. „Das Goal und der Gauleiter“ stand im „Nouvel Observateur über einem Kommentar von Jean-Paul Dubois. Der Autor meinte das Spiel und die Wahl. Die Tore draußen gegen die „jungen Teufel aus dem Rest der Welt“ und die Stimmen gegen „die alten Dämonen“ zu Hause: Diesmal, beschwor Dubois die Bürger in kurzen Hosen, sollten sie „ohne die Vorstellung einer Buße für welche Vergehen auch immer“ antreten und aufspielen, „ausschließlich auf der Suche nach dem Glück des Zusammenspiels aller und unter ostentativer Betonung der multikulturellen Identität. Für den Titel und den Rest wird es genügen, sich an die Götter zu wenden und den Verrücktheiten unserer trickreichen Spieler zu vertrauen.“ Das war nach der Präsidentenwahl, aber noch vor dem ersten Spiel. Beide Resultate sind bekannt.
Den Gauleiter Le Pen nennt Dubois auch wahlweise „le kaiser“. Teutonische Schlagworte sind in der französischen Fußballberichterstattung und –literatur fast so häufig wie die englischen Fachausdrücke. Das berühmte Foul in Spanien 1982 von Torhüter Schumacher gegen Battiston wird mit jenen Vokabeln umschrieben, denen der deutsche Begriff der „Ausmerzung“ am nächsten kommt. Trotzdem führte Frankreich damals im Halbfinale gegen den Erzfeind in der Verlängerung 3:1. Dann brachte Jupp Derwall Karl-Heinz Rummenigge , „den man für verletzt ausgegeben hatte“, erinnert sich „Le Nouvel Observateur“, als wäre es gestern gewesen. „Man sieht ihn noch: sein Gesicht, dieser Wille, diese Gehässigkeit.“ Nicht weniger martialisch wird die Geste geschildert, mit der Rummenigge seine Mitspieler antrieb. „Ich habe das Spiel immer wieder angeschaut, jedes Mal, wenn es drei zu eins steht, glaube ich erneut an den Sieg. Und dann kommt KHR, und ich weiß, dass alles verloren ist.“ Im Elfmeterschießen verloren die Franzosen, die Teilnahme an einem Endspiel musste verschoben werden. Sevilla wurde zur Gründungsniederlage des französischen Fußballs, der sich ebenso langfristig wie gründlich erneuerte. Was der Generation des italienischen Einwanderersohns Michel Platini, von der noch kaum einer im Ausland spielte, versagt geblieben war, gelang 1998 den Fußballsöldnern um den algerischen Fremdarbeitersohn Zinedine Zidane, die praktisch überhaupt nicht mehr in französischen Klubmannschaften spielen. Der Triumph war die Rache für Sevilla. Und der verhieß auch noch die Erlösung vom Trauma der Niederlage 1940 mitsamt der Läuterung vom Sündenfall der Kollaboration.
Erstaunlich souverän gingen die Spieler mit seiner Verklärung um. Lange wurden sie ihrer Verantwortung gerecht, und in einem Europa der aufkommenden populistischen Bewegungen erwiesen sie sich noch einmal als beste Mannschaft des Kontinents, ausgestattet mit einer historischen Vision. Doch der Einfluss der Politik auf die kickenden Leuchttürme der französischen Zivilisation blieb nicht ohne Folgen für die Ideale und Prinzipien. Die Spiele der diesjährigen Weltmeisterschaft waren ein trauriges Remake der Präsidentenwahl: Die Resultate schienen im voraus festzustehen und fielen dann ganz anders aus. Aber die Ohnmacht auf dem Feld darf nicht nur der Überheblichkeit der Selbstgerechten und Gutmeinenden angelastet werden: Mit Le Pen in der Stichwahl konnte man sehr wohl nachvollziehen, dass die antifaschistischen Kicker nicht besonders motiviert und inspiriert waren. In politischer Hinsicht war Zidanes Oberschenkelverletzung wohl rein psychosomatischer Natur. Zwischen den Wahlgängen – gewählt hatte keiner der Nationalspieler – engagierten sie sich mit einem Aufruf gegen Le Pen. Der geistigen Vorbereitung ist das nicht gerade gut bekommen. In drei Spielen kein einziges Tor.
Geschadet hat die Lethargie der Fußballer vor allem dem Privatfernsehen TF1, das die TV-Rechte exklusiv erworben hatte. Die Niederlage gegen Senegal war eine Katastrophe für den Börsenkurs. Auch nach der roten Karte gegen Thierry Henry im Uruguayspiel fiel der Wert der Aktie, deren Kurve den Verlauf der Begegnung getreulich widerspiegelt: starke Einbußen, Schwankungen während des Spiels, am Schluss eine leichte Erholung – noch war die WM nicht verloren.
Abgestraft haben die Fußballer TF1, dem durch das frühzeitige Ausscheiden der „Equipe Tricolore“ Millionenverluste entstanden, mit jedem Recht. Denn der Privatsender hat mit dem Hochspielen der inneren Unsicherheit das Klima geschaffen, in dem der Neofaschist mehr Stimmen als der „linke“ Premierminister Lionel Jospin erreichen konnte. Doch damit ist Schluss und die Programmänderung spektakulär. Seit der Präsidentenwahl vom 21. April gibt es in Frankreich sehr viel weniger Gewalt – zumindest im Fernsehen. Und wenn man sie aufgreift, wird sie nicht in emotionalen Inszenierungen gezeigt, sondern psychologisch wie soziologisch erklärt und philosophisch relativiert. Das Land hat sich radikal verändert – zumindest am Fernsehen. Bereits bestätigten statistische Untersuchungen den subjektiven Eindruck, den man in den vergangenen Wochen als Zuschauer bekommen sollte. Und schon gleich darauf waren die Auswirkungen in den Resultaten der Parlamentswahl nachweisbar. Le Pen, zuvor schon als Präsident verhindert, wird auch in der Kammer nicht vertreten sein – insgesamt verlor die extreme Rechte ein Drittel ihrer Stimmen.
Nach der Wahl war vor dem Spiel: Das politische Tagesgeschäft hatten die Wähler im Mutterland pflichtbewusst erfüllt. Die Fußballer konnten wieder stolz sein auf ihre Fans. Die Bürde der Vichy-Vergangenheit lastete nicht mehr ausschließlich auf ihren Schultern. Es war Le Pens letzter Präsidentschaftswahlkampf. Sein Gegenspieler Zidane war von seinen Leiden erlöst und kehrte mit der Mannschaft der Nation auf das Feld zurück. Die Spieler sollten reagieren wie die Wähler am 5. Mai. Als Chirac seinen Kantersieg errang. Es war ein kollektiver Vichy-Exorzismus, mit dem die höheren Prinzipien der ein- und unteilbaren Republik gerettet wurden.
Auch für die Fußballer blieb die politische Korrektheit, die sie verinnerlicht hatten, die beste Taktik. Zumindest in den ersten beiden Spielen: Gegen die ehemalige Kolonie Senegal war die Niederlage ein vornehmes Resultat. Mit Uruguay, dem kleinen Land aus dem aufstrebenden Lateinamerika, dessen demokratische Bemühungen man unterstützen will, teilte man höflicherweise die Punkte. Doch gegen die Dänen konnte es keine Rücksichten mehr geben. Ein Sieg musste her, mindestens zwei Tore waren erforderlich – gegen den verhinderten Gauleiter zu Hause, den man vor vier Jahren nicht endgültig hatte besiegen können. Und auf dem Spielfeld. Die Rückkehr des antifaschistischen Spielführers Zidane sollte die historische Dynamik gegen die nur vordergründig unverdächtigen Dänen neu entfachen. Denn die blonden Hünen aus dem Norden sind ja doch irgendwie Wikinger und diese bekanntlich die Urahnen der Nazis.
Tom Bode
Der Autor ist Mitglied des Leipziger Fußballvereins „Roter Stern Leipzig“