In der deutschen Berichterstattung zu Menschenrechtsverstößen in Russland dominiert eine starke Distanzierung, die auch dazu dient, sich selbst positiv zu inszenieren. Der Tenor, der beim Anprangern von nicht eingehaltenen »Standards« mitschwingt, ist der einer aufgeklärten Nation, die dem »zurückgebliebenen« Russland nur mal zeigen müsse, wie zeitgenössische Demokratie aussähe. Daher ist es immer auch angebracht, die eigene Kritik nicht nur in diesem Sinne zu reflektieren, sondern auch in Russland aktive Linke nach ihren Einschätzungen zu befragen und zu analysieren, wo die tatsächlichen Unterschiede, wo aber auch Gemeinsamkeiten einer repressiven Situation liegen, statt in Stereotype zu verfallen.
Das nördlich des Polarkreises gelegene Murmansk ist mit etwa 300 000 Einwohner_innen die größte Stadt der Arktis. Hier hat sich in den vergangenen Jahren eine kleine, lebendige und undogmatische politische Szene herausgebildet, die von Menschenrechtsorganisationen, antifaschistischen bis anarchistischen und kulturellen Initiativen sowie einem starken internationalen Austausch geprägt ist. Eine Besonderheit ist die Zusammenarbeit verschiedener Strömungen und Initiativen, die sonst eher auf Distanz gehen oder aneinander vorbei arbeiten. Die vielfältigen einzelnen und durch ihre enge Vernetzung nicht unbedeutenden Aktivitäten ziehen immer wieder staatliche Repression auf sich, die in der Region im Vergleich zu anderen Teilen Russlands nicht grundlegend anders, aber durchaus geballt auftritt. Die momentan russlandweit wie auch regional verabschiedeten repressiven Gesetze sollen hier daher beispielhaft mit einem Schwerpunkt auf die Region Murmansk skizziert werden.
In der Region Murmansk sind vor allem NGOs und Menschenrechtsgruppen wie Youth Human Right Movement, Nature and Youth (PIM), oder der Jugendrat für Menschenrechte in Murmansk präsent. Die international bekannte und in vielen Gebieten Russlands aktive Organisation Memorial widmet sich der Geschichte politischer Verfolgung, besonders der der Zwangsarbeiter_innen in der Sowjetunion, und engagiert sich ebenfalls für Menschenrechte. Unbeliebt dürften diese Gruppen für die staatlichen Behörden vor allem sein, weil sie auf Kontinuitäten der Verfolgung oppositioneller politischer Aktivitäten durch staatliche Einrichtungen, etwa durch die Polizei und den Inlandsgeheimdienst FSB, aufmerksam machen. Zu ihren Grundsätzen gehört ein »bedingungsloser Respekt vor der menschlichen Individualität, dem menschlichem Leben, und den Freiheiten der fundamentalen menschlichen Werte«. Weiterhin aktiv sind Organisationen für die Rechte der Samen, der Bevölkerungsgruppe, die einst die Mehrheit auf der Kola-Halbinsel bildete und heute 0,2 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Die NGO Uliza (dt. »Strasse«) sammelt und verteilt Lebensmittel und Kleidung für Obdachlose, organisiert warmes Essen, hilft aber auch beispielsweise bei der Wiederherstellung von Urkunden und Dokumenten. In den letzten Jahren ist auch die Zahl der Gruppen gewachsen, die die Wahlen kritisch begleiten und beobachten. Auch einige »Soldatenmütter« haben sich organisiert und wenden sich gegen den Einsatz ihrer Söhne im Krieg. Die NGO Maximum betreibt das selbstorganisierte »Haus der Gleichberechtigung«. Dort bieten sie psychologische Beratung vor allem für LGBTs an, veranstalten Kino- und Tischtennisabende. Auch Kulturprojekte und Ausstellungen finden im Haus Platz. Diese drehen sich unter anderem um Themen der Gleichberechtigung von LGBTs, teilweise um andere akute Themen.
Im Norden von Murmansk betreibt die NGO Jugendhaus seit etwa zwei Jahren das Jugendzentrum »Mr. Pink«. Die Idee war, einen Ort für Jugendliche zu schaffen, wo jeder junge Mensch seine_ihre Idee verwirklichen kann und dabei von einem Team unterstützt wird. Nicht nur Räumlichkeiten, sondern auch Computer, Internetzugang und Beratung werden zur Verfügung gestellt. Bisher gab es beispielsweise eine Filmschule, ein Projekt gegen Drogenkonsum, ein Tonstudio und eine Theatergruppe. Die NGO selbst bezeichnet sich als »unpolitisch«, allerdings kommt es immer wieder zur Kooperationen mit sich explizit als »politisch« verstehenden Gruppen. Wer sich selbst bewusst als politische_r Akteur_in bezeichnet und wer nicht, mag mit der risikobehafteten Brisanz jeglicher politischer Aktivitäten zusammen hängen. Zur Zeit befindet sich das Projekt in einer finanziellen Krise, da die Nebenkosten für den recht großen Raum nicht bezahlt werden können, ein häufiges Problem bei NGOs.
Darüber hinaus bestehen aktive antifaschistische und anarchistische Netzwerke und es gibt (sub)kulturelle Events, wie Punkkonzerte und Kunstveranstaltungen. Antifaschistische Gruppen organisieren vereinzelt Kundgebungen und Demonstrationen, es gibt Graffiti- und Banneraktionen in der Stadt, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Eine kleine anarchistische Punkszene führt Konzerte im Do-it-yourself-Stil durch. Vereinzelt kommt es auch zu Provokationen und Übergriffen von Neonazis. 2009 wurde ein Punkkonzert in einer Garage überfallen, wobei mehrere Anwesende verletzt wurden und viele einen Schock erlitten. Die Ermittlungen, in die sich auch der Inlandsgeheimdienst FSB einschaltete, richteten sich wiederum auch gegen die Betroffenen. Erst kürzlich kam es auch in Murmansk zu einem Angriff von Neonazis auf ein Konzert. Diese Probleme sind allerdings kaum vergleichbar mit denen in Moskau oder St. Petersburg. Nur vereinzelt kommt es zu solchen oder ähnlichen Aktionen.
Eine Besonderheit in Murmansk ist die gleichzeitige Präsenz sehr unterschiedlicher Initiativen, die sonst nur vereinzelt agieren. Was sie verbindet ist nicht unbedingt eine linke Identität, sondern ihr Verständnis als politisch aktive und handelnde Menschen. Ihre Aktivitäten zielen in der Regel weniger auf einen radikalen Wandel der Gesellschaft (wie es bei den anarchistischen Initiativen durchaus der Fall ist), als auf den Erhalt fundamentaler (Bürger-)Rechte. Gemeinsam ist ihnen außerdem die Verfolgung durch die Behörden: All diese unterschiedlichen bürgerrechtlichen und linken Aktivitäten werden vom russischen Staat seit jeher kritisch beäugt, überwacht und immer wieder angegriffen. In letzter Zeit häufen sich allerdings die Repressionen in einem bisher kaum gekannten Ausmaß. Auch nicht in Russland lebende Aktivist_innen sind davon immer wieder betroffen. Viele der politisch aktiven Gruppen sind international gut vernetzt. So findet in der Region seit vielen Jahren im Sommer das Vostok Forum, eine mehrtägige Bildungs- und Diskussionsveranstaltung mit Teilnehmer_innen aus Mittel- und Osteuropa statt. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit kapitalistischen, undemokratischen und patriarchalen Verhältnissen sowie mit Umweltzerstörung, aber ebenso die Verständigung über Alternativen. Einige der genannten Menschenrechtsgruppen organisieren immer wieder internationale Begegnungen. Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Wochen in den westlichen Medien die Festnahme von Greenpeace-Aktivist_innen erfahren, die der Piraterie angeklagt worden sind und denen langjährige Haftstrafen drohen. Bemerkenswert ist dieses Vorgehen gegen nicht in Russland lebende Menschen nicht, weil es schlimmer wäre als die Bedrohung der Menschen vor Ort, sondern weil es zeigt, dass der russische Staat keine Unterschiede macht und so bestimme aktivistische Taktiken (siehe beispielsweise die sogenannten »Menschenrechtsbeobachtungen« in Mexiko) schlichtweg keinen Erfolg haben.
Neue und alte Gesetze: Ein Streifzug
In letzter Zeit wurden in der Russischen Föderation, landesweit wie auch regional, eine ganze Reihe neuer Gesetze und Gesetzeserweiterungen verabschiedet, die für Aktivisten und jene, die vom Bild des »echten russischen Menschen« abweichen, mitunter eine erhebliche Bedrohung darstellen. Politische Einschätzungen hinsichtlich der Ballung dieser Gesetzesinitiativen gehen auseinander. Klar scheint jedoch, dass mit ihnen Normalität autoritär hergestellt und zementiert wird und dass dabei teilweise neue Feindbilder entstehen. Direkt nach der Verabschiedung kam es in vielen Fällen zu einer Erprobung der Gesetze und damit zu repressiven Maßnahmen gegen unliebsame Personen und Gruppen. Im Folgenden sollen einige der aktuellen Gesetze sowie ihre Anwendung vor allem in der Region Murmansk skizziert werden.
Das »NGO-Gesetz«
Weltweit große Aufmerksamkeit hat das im Sommer 2012 verabschiedete Gesetz erlangt, in dem NGO-Mitarbeiter_innen, deren Organisationen Geld aus dem Ausland erhalten, als »ausländische Agenten« bezeichnet werden und das auch verlangt, dass sie sich unter diesem Titel registrieren. Sie unterliegen einer strengen Finanzkontrolle. Verstöße können mit schweren Geldstrafen oder Gefängnis geahndet werden. Vier Mal im Jahr soll staatlichen Kontrolleuren die Buchhaltung vorgelegt werden. Bei einer Verweigerung der Registrierung sind leitende Personen und Buchhalter_innen von Maßnahmen betroffen. Bemerkenswert ist dabei, dass religiöse und staatliche Organisationen ausgenommen sind. Bisher gab es kaum Organisationen, die sich auf die vorgeschriebene Weise registriert haben, um erst gar nicht in einen Bürokratisierungs- und somit eventuell in einen Verbotsprozess zu geraten. Es scheint sich um eine Situation zu handeln, in der es keine »guten« Entscheidungen gibt. Nach einer zwangsweisen Prüfung, die nun viele Organisationen ereilt hat, habe einige eine Verwarnung als »potentielle ausländische Agenten« erhalten. Über den Umgang mit dem Druck zur Registrierung wird kontrovers diskutiert. Ein möglicher Weg ist scheinbar die »Liquidierung«, also Auflösung der Organisation, was im Grunde keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems darstellen kann. In Deutschland hat vor allem der Besuch bei deutschen Stiftungen, unter anderem der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung sowie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, bei denen zum Teil Computer beschlagnahmt wurden, für Empörung gesorgt. In der Region Murmansk waren von den Überprüfungen beispielsweise Youth Human Rights Movement, Nature and Youth (PIM), die LGBT-Organisation Maximum sowie die NGO Bellona, die vor allem direkte Aktionen zum Thema Umweltschutz durchführt, betroffen
Föderales Gesetz zur Versammlungsfreiheit
Das im Frühjahr 2012 auf Initiative der Mehrheitspartei Einheitliches Russland ins Parlament eingebrachte Gesetz sieht vor, die Geldstrafen für Verstöße gegen die Versammlungs- und Demonstrationsgesetzgebung von bisher eher geringfügigen Beträgen zwischen 100 und 5000 Rubel drastisch auf bis zu 600.000 Rubel (ca. 14.000 Euro) zu erhöhen. Anmelder_innen von Demonstrationen sind seitdem verantwortlich für den Verlauf und somit immer potentiell von Strafen betroffen. Neu ist ebenfalls, dass diese zu sogenannten »Sozialstunden«, also Zwangsarbeit verurteilt werden können. Menschen mit einer Vorstrafe ist die Anmeldung einer Demonstration von vornherein verboten. Seit Inkrafttreten des Gesetzes gilt zudem ein Vermummungsverbot, wie es in Deutschland bereits seit Mitte der 1980er Jahren der Fall ist. Seit den Verhaftungen während der großen oppositionellen (und offiziell genehmigten) Demonstrationen in Moskau am 6. Mai 2012 sind bis heute zwölf Menschen inhaftiert worden. »Es könnte uns alle treffen«, kommentiert eine Aktivistin aus Murmansk dieses Vorgehen. Auch dort sind bereits vereinzelt Menschen mit hohen Strafen aufgrund vermeintlicher Verstöße gegen das Versammlungsgesetz belangt worden.
Am 15. Mai 2013 tauchten am Rande einer von der Stadtregierung Murmansk organisierten christlich-orthodoxen Zeremonie mehrere einzeln auftretende Aktivist_innen auf, die kritische Plakate trugen. »Säkularisierung oder Tod« stand auf einem der Plakate, das Aleksey »Raskhod« Raskhodchikov in die Luft hielt. Er wurde kurz darauf zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 500 Euro, einem guten Monatsgehalt in Russland, verurteilt. Ihm wurde Zusammenrottung mit den anderen Demonstrant_innen vorgeworfen. Für das Organisieren einer anwaltlichen Vertretung fehlte ihm die Zeit. »Es geht bei diesen Strafen vor allem um Einschüchterung. Öfter kann das kaum jemand bezahlen.«, kommentiert dies eine junge Aktivistin., die an diesem Tag ebenfalls kontrolliert wurde, allerdings keine Geldstrafe erhielt. Auf ihrem Plakat war ein Gesetzestext aus der russischen Verfassung zu lesen: »Die Russische Föderation ist ein säkularer Staat. Keine Religion darf als staatliche oder obligatorische festgelegt werden.« Offenbar stellte dies zwar ein Ärgernis dar, allerdings ein geringeres als das Banner Alekseys.
Bei einer weiteren Aktion kam es in Murmansk zu einer Verurteilung. Eine Demonstrantin die ein Schild trug, auf dem sie sich mit der Punkband Pussy Riot solidarisierte, wurde wegen angeblicher Vermummung zu einer Geldstrafe von 10.000 Rubel (etwa 220 Euro) verurteilt. Die Person hat sich eigenen Angaben zufolge gegenüber den Polizisten zu erkennen gegeben und die Maske nur kurz als Symbol für den Protest von Pussy Riot getragen. Im Verfahren wurde sie sogar von einem Polizisten entlastet, was den Ausgang jedoch nicht zu ihren Gunsten beeinflusste. Sie hat nun vor, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen.
Diese Beispiele mögen aus deutscher Sicht nicht besonders schockierend wirken. Sie zeigen, dass der russische Staat nicht immer als »Vorreiter« repressiver Maßnahmen zu sehen ist. Dennoch werden die hier beschriebenen Maßnahmen von den dortigen Aktivist_innen als Teil einer Strategie betrachtet, sich jeglicher oppositioneller Verlautbarungen zu entledigen und die Hegemonie über den öffentlichen Raum zu erlangen. Dabei kommen in Russland offenbar Mittel zum Einsatz, die sich bereits in anderen Ländern bewährt haben. Die Höhe der Geldstrafen ist zwar nicht der entscheidende Faktor der Einschüchterung, allerdings auch nicht unwesentlich für das Risiko, das mit einer Aktion verbunden ist.
Das Gesetz gegen die »Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen«
»Durch die Anwendung des Begriffs Homosexualismus propagieren wir unweigerlich diesen Homosexualismus. Wir haben beschlossen, dass durch unser Gesetz Homosexualismus in keiner Weise propagiert werden darf«, so Elena Mizulina, Vorsitzende des Ausschusses für Frauen, Familie und Kinder der russischen Staatsduma. Am 11. Juni 2013 verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz gegen die »Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen«. Diese perfide Erweiterung des Jugendschutzgesetzes soll den Gesetzgebern zufolge die Verbreitung von Informationen unter Strafe stellen, die bei Minderjährigen eine »verquere Einstellung hinsichtlich der Gleichwertigkeit gleichgeschlechtlicher Beziehungen« gegenüber der aus Mann, Frau und Kindern bestehenden traditionellen Familie hervorrufen oder gar ihr »Interesse dafür wecken«. Ein Vergehen kann mit 120 Euro geahndet werden, juristischen Personen drohen Bußgelder von bis zu 25.000 Euro. In der Regel handelt es sich bei einem Verstoß um eine Ordnungswidrigkeit, dies ist allerdings regional unterschiedlich geregelt. Sind Medien oder das Internet involviert, gilt dies als erschwerender Umstand, der u.a. zur Abschiebung führen kann. Weitere Erweiterungen wie ein Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare sind in Vorbereitung. 120 Euro aufzubringen, dürfte für viele Menschen bei einem geschätzten Durchschnittseinkommen von 580 Euro brutto (Stand 2011; Vergleich Deutschland: 2522 Euro) durchaus ein Problem darstellen. Vor allem geht es jedoch auch hierbei um die Hegemonie im öffentlichen Raum und darum, dass Menschen beispielsweise für Umarmungen in der U-Bahn festgenommen werden können.
Ende Juli wurden vier niederländische Staatsbürger_innen, die an einem von der NGO Maximum organisierten Menschenrechtsforum teilnahmen, von der Migrationsbehörde in Murmansk festgesetzt. Anschließend wurden sie mehrere Stunden lang verhört, die Veranstaltung wurde von den Behörden abgebrochen. Die Betroffenen erhielten eine Geldstrafe über umgerechnet etwa 100 Euro aufgrund von angeblichen Verstößen gegen Visa-Bestimmungen, teilweise wird ihnen die Wiedereinreise für mehrere Jahre verwehrt. Der Vorwurf lautete, ihre Kultur-Visa zur Ausübung politischer Tätigkeiten missbraucht zu haben. Ein angesetzter Prozesstermin wurde letztendlich abgesagt, die angedrohte juristische Anwendung des beschriebenen Gesetzes blieb aus. Strittig war unter anderem die Frage, ob die Teilnehmer_innen das 18. Lebensjahr vollendet hatten, Jugendschutzparagraphen also zur Anwendung kommen konnten. Zum Gerichtstermin waren Vertreter_innen des niederländischen Konsulats sowie viele weitere interessierte Menschen gekommen. Die Behörden beschlagnahmten nichtsdestotrotz Filmmaterial, das die Aktivist_innen für einen Film über die Rechte von LGBTs gedreht hatten. Bei den Verhören wurden die Betroffenen nicht nur zu den Zielen des Forums, sondern auch zu ihrer sexuellen Orientierung befragt.
Das Gesetz »für den Schutz der Gefühle Gläubiger«
Am 9. April 2013 stimmte die Duma einer Gesetzgebung zum Schutz gläubiger Menschen vor Beleidigung zu, die sich starker orthodoxer Unterstützung erfreut. Der orthodoxe Aktivist und Journalist Alexander Schtschipkow spricht von einer »antireligiösen Stimmung«, die einem »Schneeballeffekt« unterliege. Deshalb hätte es des neuen Gesetzes bedurft. Es ist unter anderem eine Reaktion auf den Auftritt von Pussy Riot in der Moskauer Christus-Erlöserkathedrale am 21. Februar 2012, von der sich viele Orthodoxe im Land provoziert fühlten. Die »körperlichen Angriffen auf Geistliche« und die »Zerstörung kirchlichen Besitzes«, von denen Schtschipkow spricht, sind bisher jedoch nicht nachgewiesen. Das neue Gesetz sieht bei Verstoß eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor. Das Höchstmaß der verhängten Geldstrafe beträgt rund 12.500 Euro. Auch die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeiten ist vorgesehen.
Auch dieses Gesetz kam bereits zur Anwendung. Der für seine kreativen und aufsehenerregenden Aktionen bekannte Künstleraktivist Artjem Luskotov wurde verurteilt, weil er ein T-Shirt mit einer vermummten Ikone trug – eine Anspielung auf Pussy Riot, mit denen er sich solidarisieren wollte. Vier von insgesamt sechs wegen dieses Bildes angestrengten Verfahren wurden eingestellt, in zwei Fällen wurde er zu einer Strafe von 500 Rubeln verurteilt. Die Strafen wurden vor dem 1. Juli ausgesprochen, als das neue Gesetz noch nicht in Kraft getreten war. Inzwischen haben sich die Strafen deutlich erhöht.
Luskotov erhielt zwar keine Vorstrafe aber immerhin eine Geldstrafe und wird ebenfalls vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Weiterhin wurden gegen ihn zwei Verfahren wegen »Handel an einer nicht zugelassenen Stelle« angestrengt. Es hieß, er habe ein T-Shirt auf der Straße bekommen. Er erhielt eine Mahnung. Erst vor kurzem wurde Luskotovs Kleinunternehmen geschlossen. Gerechtfertigt wurde das Vorgehen damit, dass er aufgrund seiner Vorstrafe keine kreative und künstlerische Tätigkeit ausführen dürfe. Deshalb sei ihm auch die Arbeit mit Jugendlichen nicht erlaubt. Die Weiterverbreitung des Ikonenbildes wurde inzwischen verboten. Die Begründung: Der darauf abgebildete Heiligenschein sei dunkel statt hell und sorge daher für den »Triumph böser Mächte«. Alle Medien, die das Bild bereits verbreitet haben, müssen es wieder beseitigen, sofern dies möglich ist. Viele möchten sich dem jedoch nicht beugen und stattdessen vor Gericht ziehen.
Der Fall Rashkod
Ein Fall von Repression beschäftigt die Murmansker Szene momentan besonders. Er steht exemplarisch dafür, wie es politisch aktiven Menschen ergehen kann und welche Mittel eingesetzt werden, um sie mundtot zu machen und zu isolieren. Vor allem handelt es sich um ein Beispiel polizeilicher Willkür, deren grenzenlose Ausweitung Aktivist_innen in Murmansk im Falle einer Verurteilung befürchten. Mit ihrem Vorgehen setzte die Polizei auch ein Zeichen für Aktivist_innen aus anderen Ländern. Auch sie sind nicht von Übergriffen ausgeschlossen.
Am 23. Juli 2013 wird der bereits genannte Aleksey »Raskhod« Raskhodchikov nachts an einem zentralen Platz in Murmansk von Polizisten nach seinem Ausweis gefragt, vermutlich weil er und seine Freunde punkig aussehen. Als er selbst die Polizisten nach ihrer Identifikation fragt, wird er eigenen Aussagen zufolge zu Boden geworfen und verprügelt. Die Gewaltexzesse seien auf auf der Polizeistation fortgeführt worden, so Aleksey. Vertreter des Jugendmenschenrechtsrats der Region Murmansk und einer zivilgesellschaftlichen Beobachterkommission für Hafteinrichtungen besuchten in derselben Nacht die Polizeistation und fotografierten Aleksey mit einem Kopfverband neben einem großen Blutfleck an der Wand. Das Bild geriet anschließend in die Presse. Aleksey erhielt eine Strafe wegen »Trunkenheit in der Öffentlichkeit« und weil er »die menschliche Würde« beleidigt habe. Dabei handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten, im Protokoll gibt es keine Hinweise auf ein aggressives Verhalten Alekseys. Erst nach der Veröffentlichung der Bilder wurde gegen ihn der Vorwurf erhoben, er habe einen Polizisten während der Festnahme mit einem Messer angegriffen. »Dieser Fall ist hundertprozentig politisch und konstruiert, die Autoritäten haben es darauf angesetzt, mich zu inhaftieren«, kommentiert der Betroffene selbst die Vorwürfe. Er hat die beteiligten Polizisten angezeigt. Inzwischen widersprechen sich auch deren aufgenommene Aussagen deutlich, so wird nicht mehr einhellig von einem Messerangriff, sondern teilweise nur von einem Tritt geredet. Laufend erstellte Videoaufnahmen von dem Platz, die zu einer Aufklärung beitragen könnten, werden bisher zurückgehalten.
Das anschließende Verfahren wurde am 1. August 2013 eingeleitet. Am selben Tag stürmten vermummte und mit Maschinenpistolen bewaffnete Spezialkräfte der russischen Polizei (OMON) ein internationales Jugendcamp bei Apatity in der Region Murmansk, bei dem Aleksey sich aufhielt. Auch zahlreiche Teilnehmer_innen aus Deutschland waren anwesend. Laut Pressemitteilung der Organisatoren des Vostok Forums wurden Teilnehmer_innen »auf brutale Weise zu Boden gerissen« sowie »angeschrien und bedroht«. Einige seien »vereinzelt in verschiedenen Räumen und ohne Angabe von Gründen« festgehalten worden. Wiederum wurden Menschen nach ihrer sexuellen Orientierung gefragt. Der ebenfalls anwesende Aleksey Raskhodchikov wurde abermals festgenommen und mit einer Tüte über dem Kopf verprügelt. Nach der Aufnahme eines Protokolls auf der lokalen Polizeistation wurde er auf dem Weg nach Murmansk in einen Wald gebracht und rund sechs Stunden brutal gefoltert. Es sei darauf geachtet worden, dieses Mal keine Spuren der Schläge zu hinterlassen. Weiterhin sei ihm abermals gedroht worden. Begründet wurde der Einsatz später damit, Aleksey habe seinen Aufenthaltsort verschleiern wollen. Inzwischen befindet er sich nicht mehr in Untersuchungshaft, sondern mit einer elektronischen Fußfessel zu Hause und wartet auf das Ende der Beweisaufnahme. Befreundete Aktivist_innen schreiben dem Fall eine hohe symbolische Bedeutung zu: »Die Polizei würde bei einer Verurteilung die Legitimation erhalten, jeden einfach auf der Straße anzugreifen.« Man wollte sich nicht unterkriegen lassen, auch um keine Präzedenzfälle entstehen zu lassen. In Russland enden 97 Prozent der Gerichtsverfahren mit einer Verurteilung der Angeklagten und auch im Fall Aleksey erscheint dies naheliegend.
Ausblick
Autoritäre Tendenzen mögen in Russland nichts grundlegend Neues darstellen, die Qualität wie auch Quantität der Repression nimmt jedoch deutlich zu und sorgt für ein bedrückendes Klima. Die Feindbilder, die als Kontrast zum »echten russischen Menschen« geschaffen werden sollen, sind nicht nur von staatlicher Verfolgung betroffen, sondern immer wieder auch von Übergriffen durch die Mehrheitsgesellschaft. Besonders in Moskau kam es in letzter Zeit zu rassistischen Übergriffen durch Bevölkerung und Polizei. Auch wenn die genannten Beispiele der Repression nicht besonders ermutigend wirken, gibt es derzeit auch neue Proteste in der Region Murmansk sowie ein größeres Interesse an Menschenrechtsbeobachtung und an einer Kontrolle der politischen Prozesse. Die Organisation Golos (dt. »Stimme«) ist beispielsweise russlandweit wie auch in der Region Murmansk aktiv an der Beobachtung der Wahlen beteiligt. Die enge Zusammenarbeit verschiedener Gruppen und Strömungen lässt hoffen, dass gemeinsam wirkungsvolle Strategien gegen die staatlichen Angriffe und einer solidarischer Umgang miteinander entwickelt und ausgebaut werden.
Johannes Spohr
Der ehemalige Hobbyfunker lebt und arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. (preposition.de)