Alljährlich an den Feiertagen sind die Social-Media-Feeds gefüllt mit Abhandlungen über die wachsende politische Zwietracht innerhalb der Familie. Die New York Times sammelte einen umfangreichen Faktencheck und half ihren LeserInnen dabei, zu Thanksgiving oder Weihnachten erfolgreich gegen die trumptreue Verwandtschaft zu argumentieren.Linda Qiu, How to Survive Thanksgiving: A Fact-Checker's Guide to Thanksgiving Politics, The New York Times, 21. Nov. 2018. Ähnlich war auch PolitiFact bedacht, liberale AmerikanerInnen dabei zu unterstützen, Politik an den Festtagen »erfolgreich zu navigieren«Lauren Carroll, PolitiFact's guide to navigating politics on Thanksgiving, Politifact, 22. Nov. 2016.. Dort heißt es, die beste Lösung sei, die »Konversation stets zurück in die Realität zu holen«. Nur so könne die unvermeidbare Diskussion über Politik »zivilisiert und faktisch« bleiben. Tatsächlich scheint die direkte Debatte mit der unliebsamen Verwandtschaft die beste Lösung zu sein. So präsentierte der Economist eine Studie, die zeigt, dass Familien, die es vermieden am Esstisch über Politik zu diskutieren, auch insgesamt weniger miteinander sprächen und sorgte sich um das zwischenmenschliche Miteinander unter AmerikanerInnenC. K., Is political polarisation cutting Thanksgiving dinners short?, The Economist, 21. Nov. 2018.. Die Konfrontation mit den leidigen Ansichten der politisch voneinander entfernten Familienmitglieder verkommt indessen zum gängigen Klischee und ist tief im kulturellen Gedächtnis der USA verankert. Die Lieblingstante, die vom südamerikanischen Nomadenzug und vom Bau einer Mauer schwätzt, der Vater, der von der Verschwörung der Liberals und Globalists weiß oder die Schwester, die Trump als Revolutionär feiert, sind vertraute ProtagonistInnen der politischen Tragödie in Zeiten von Trump. So verstetigt sich ein skurriles amerikanisches Familienportrait. Darauf abgebildet ist die um eine festlich angerichtete Tafel versammelte Verwandtschaft, die uneins über grundsätzlichste politische Positionen mit dem Finger auf das Gegenüber deutet und den Untergang der liberalen Demokratie beschwört. Nur um dann Geschenke auszutauschen und sich alles Gute zu wünschen. Die sich skeptisch beäugende Festtagsgesellschaft ist eine treffende Allegorie des politischen Geists Amerikas in Zeiten von Trump.
Umso mehr sehnen sich AmerikanerInnen inmitten einer scheinbar zerrissenen Gesellschaft wieder nach Momenten der Einheit und Übereinkunft. Diese ereignen sich zu Beginn jeden Jahres, wenn der Präsident vor dem gesamten Kongress über die nationalen Errungenschaften und gemeinsamen Ziele für die kommenden Monate spricht. Die sogenannte »Ansprache zur Lage der Nation« ist zum Wohle der amerikanischen Demokratie stets vom Pathos der Harmonie und des Überkommens der politischen Spaltung getragen. Selbst Donald Trump gab sich in seinen beiden Ansprachen zur Lage der Nation versöhnlich. Im Januar 2018 ermunterte er den Kongress, alle politischen Differenzen beiseite zu legen, um einzustehen für »Einheit, die wir den Menschen, die uns gewählt haben, liefern müssen«. Und auch im Februar 2019 rief er dazu auf, die »Politik der Rache, des Widerstands und der Vergeltung« abzulehnen, um das »grenzenlose Potenzial der Kooperation, des Kompromisses und des Gemeinwohls« anzunehmen. Auf diese Weise beschwört Trump, wie viele vor ihm, die amerikanische Geste des Kompromisses, die—so der Mythos—von Beginn an die Nation zusammenhält und gar geschichtsleitendes Potenzial entfaltet. Im Great Compromise von 1787, dem Missouri Compromise von 1850 oder dem Compromise von 1877 verdichteten sich große Episoden der amerikanischen Geschichte in der Geste der Übereinkunft. Mit diesen Ereignissen erhebt die amerikanische Politik Anspruch auf eine lange Geschichte lebendiger Demokratie durch Pragmatismus und die Überwindung sektionaler und parteipolitischer Interessen zum Wohle der Allgemeinheit. Wenn also heute von der Zerrüttung des demokratischen Prozesses im amerikanischen Kongress die Rede ist, dann verweist das vor allem auf die wachsende Polarisierung zwischen der demokratischen und der republikanischen Partei. Die Unfähigkeit sich auf scheinbar grundlegendste Prinzipien zu verständigen sei demnach nicht nur unamerikanisch, sie stelle die gesamte Funktionalität der amerikanischen Demokratie in Frage.
Trumps Team weiß die Stagnation und das sinkende Vertrauen in die Wirksamkeit der amerikanischen Demokratie außerordentlich gut für sich zu nutzen und WählerInnen damit zu mobilisieren. Wer sonst könne den politischen Prozess wieder in Gang bringen, als jemand, dessen ganzes Leben daraus bestand, unmögliche Deals möglich zu machen? Wenn Trump davon spricht, den Sumpf in Washington D.C. trockenzulegen, Amerika wieder groß zu machen oder das Land zum Wohle Aller wieder zu einen, dann beschwört er damit auch das Ende des politischen Stillstands, also eine Sehnsucht, der selbst Democrats und republikanische Never-Trumpers nicht widersprechen würden. Als die Republikaner nach der Zwischenwahl den Kongress jedoch nicht mehr in alleiniger Hand halten, offenbart sich Trumps angebliche Kompromissbereitschaft und Vermittlungsfähigkeit umso mehr als Augenwischerei. Im andauernden Streit um die Finanzierung seiner Grenzmauer verkaufte Trump kurzerhand billige Konzessionen als ein versöhnendes Entgegenkommen. Was vorher die Mauer war, ist seit Januar 2019 nur noch eine Stahlbarriere—also eher ein Zaun—und statt fünf Milliarden forderte Trump nun knapp sechs Milliarden Dollar. Im gleichen Atemzug tadelte Trump diejenigen, die »sich weigern im Namen der Grenzsicherheit Kompromisse einzugehen«.Marc A. Thiessen, Trump won the night. Schumer and Pelosi lost, The Washington Post, 9. Jan. 2019.
Dabei zeugt Trumps Interpretation des »Kompromisses« vielleicht von einem besseren Verständnis der politischen Geschichte Amerikas, als es ein nostalgisches Zerrbild der glücklichen Übereinkunft erzählen könnte. Denn Trump versucht sich einer Dynamik der amerikanischen Geschichte zu bedienen, in der Kompromisse Konflikte zunächst verstetigten, um sie dann zugunsten der resoluteren Partei aufzulösen. Besonders eindrücklich wird das im tief zerrissenen Amerika der Antebellum-Ära bis 1861. Als die Vereinigten Staaten 1812 die ehemals französische Kolonie Louisiana aufkauften, waren sich die Nord- und Südstaaten im Kongress nicht einig über den Status, den Sklaverei in den neuen Gebieten haben sollte. Der Streit wurde 1820 im Missouri Compromise mithilfe einer arbiträr anmutenden Linie durch den Westen Amerikas, nördlich des heutigen Arkansas, beigelegt. In allen Bundesstaaten, die nördlich der Linie gegründet würden, war die Sklaverei verboten. Südlich dieser Linie war die Sklaverei erlaubt. Dass der Kompromiss schon bald darauf durch zwei weitere Kompromisse—dem Compromise of 1850 und den Kansas-Nebraska Act von 1854—zugunsten der Sklaverei aufgeweicht wurde, verdeutlicht, wie unwirksam der Kompromiss darin war, die zwei Positionen zu befrieden. Vergegenwärtigt man sich zudem, worum es in der Debatte eigentlich ging, so ist die Bezeichnung »Kompromiss« nicht nur ein Euphemismus, sondern ein ideologisch verklärter Trugschluss. Kern der Auseinandersetzung war nämlich nicht die Frage, wo Sklaverei erlaubt sein sollte, sondern ob die Sklaverei überhaupt mit der amerikanischen Idee vereinbar sei. Statt der Abschaffung der Sklaverei, ermöglichte der »Kompromiss« gar ihre Verstetigung und Ausweitung in große Teile neuer Gebiete der Vereinigten Staaten. Er führte so zu einer weiteren Radikalisierung beider Konfliktparteien. Vor allem die Repräsentanten der Südstaaten wurden von ihren Wählern gedrängt, auch mit Gewalt für die Rechte und die Freiheit der Bundesstaaten einzutreten. In den Plenarsälen des Kongresses verwickelten sich die Abgeordneten bald in Massenschlägereien, bewarfen sich mit Spucknäpfen und knüppelten sich gegenseitig mit Stöcken nieder, Südstaatler präsentierten offen ihre Revolver und verängstigten ihre Gegenüber mit Duelldrohungen. Weitab von der Romantik der Übereinkunft für das Wohl der Nation, wurde der Streit um die Sklaverei durch den Kompromiss eskaliert und erlaubte es den Südstaaten, die Barbarei bis zum Bürgerkrieg weiter auszubauen.
Das Scheitern großer Kompromisse deutet darauf hin, dass die amerikanische Geschichte sich besser als anhaltende Auseinandersetzungen teils unvereinbarer Positionen verstehen lässt. Die Geschichte der Vereinigten Staaten durchzieht das stete Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interpretationen der liberalen Demokratie und Visionen über ihre Zukunft. Diese wiederkehrenden Konflikte sind oftmals emotional stark aufgeladen und interessengebunden. Der Kampf um die Deutungshoheit über die liberalen Ideale ist dabei nicht zuletzt das Resultat verschiedener amerikanischer Erfahrungshorizonte und sozioökonomischer Identitäten. Bereits George Washington (1732—1799) zeichnete in seinem Abschiedsbrief an die Nation (1796) ein solches Bild der unterschiedlichen Lebenswelten in der noch jungen Republik: Der ländliche Süden produzierte Rohstoffe, die im industriellen Norden abgekauft und verarbeitet wurden, der bildungsbürgerliche und großkapitalistische Osten fungierte als Tor zum Weltmarkt, dessen Wachstum von der Besiedlung des agrarwirtschaftlich geprägten Westens abhing. Washington entdeckte in der Beschreibung geografischer und sozioökonomischer Partikularitäten Amerikas Stärke, denn die Verfolgung einzelner Interessen führe letztlich zum Wohle aller AmerikanerInnen. Im gleichen Atemzug warnte Washington jedoch auch davor, lokale Interessen in großen Bewegungen zu mobilisieren und die entsprechenden Weltsichten weiter zu zementieren. Die Parteipolitik tendiere dazu, durch Emotionen »diejenigen voneinander zu entfremden, die in geschwisterlicher Zuneigung verbunden sein sollten«.George Washington, Washington’s Farewell Address to the People of the United States, 19 Sep. 1796. 106th Cong. 2nd sess. Washington bewies mit seiner zerstörerischen Vision des parteilichen Zwiespalts tragische Treffsicherheit. Sein Rücktritt markiert die Gründung und Institutionalisierung der urbanen Federalists und der ruralen Democrat-Republicans, die fortan um die politische Vormachtstellung in Amerika konkurrierten. Deren Visionen über die Zukunft der USA waren geprägt von den unterschiedlichen amerikanischen Lebenswelten und Interessen ihrer Wähler. Die Federalists im Norden träumten von einer modernen, urbanen USA, wohingegen die Democrat-Republicans im Süden das Ideal des freien amerikanischen Farmers und des »einfachen Volkes« anstrebten.
Die Ambivalenz dieser beiden Lebenswelten wirkt bis heute in der anhaltenden Debatte über das »wahre Amerika« und die adäquate Repräsentation in seiner Demokratie fort. Thomas Jeffersons (1743—1826) Democrat-Republicans waren nämlich gerade deshalb relevant, weil sie in einer jungen Demokratie die Rechte und Interessen der ländlichen Bevölkerung vor der Tyrannei des großstädtischen Kapitals und den einflussreichen Federalists schützen wollten. Die Democrat-Republicans standen für ein demokratisches Mitbestimmungsrecht der knapp 95 Prozent der AmerikanerInnen, die außerhalb der Städte wohnten. Mit der Industrialisierung und der anhaltenden Verstädterung der Gesellschaft blicken wir heute jedoch auf ein gänzlich anderes Amerika. Inzwischen leben knapp 80 Prozent aller AmerikanerInnen in urbanen Zentren, sieben Prozent allein in den fünf größten Städten. Damit hat sich die USA von einem Agrarstaat in eine urbane Nation gekehrt. Das Jeffersonsche Ideal dagegen blitzt in politischen Diskursen Amerikas bis heute auf. Es drückt sich unter anderem in der Skepsis gegen die liberalen Großstädte vor allem an den Küsten und dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der nationalen und internationalen Politik aus. Zuletzt ist es Donald Trump, der dieses Gefühl der fehlenden Repräsentation außerhalb der Städte politisch für sich zu nutzen weiß. Trump gewann als Held der Flyover States—derjenigen Bundesstaaten im Herzen der USA, die viele AmerikanerInnen nur von oben während eines Flugs von Küste zu Küste zu sehen bekommen.
Mit Nebelkerzen die Geschichte erhellen
Umso erstaunlicher ist es, dass die transatlantische Öffentlichkeit Trump als Anomalie der amerikanischen Geschichte begreift. Dabei herrscht Uneinigkeit, wie die unerschütterliche Unterstützung für Trump von etwa einem Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung zu deuten sei. Auch dass ein derart ideologisch wie politisch unberechenbarer Sonderling überhaupt von einer sozialkonservativen und traditionsbewussten Partei für wählbar befunden und seiner Farce kein Einhalt geboten würde, stößt auf widersprüchliche und äußerst unbefriedigende Schlussfolgerungen. Doch gerade, weil Trump so schlecht fassbar zu sein scheint, ist er ein willkommenes Füllhorn für Medienhäuser, NGOs und geisteswissenschaftliche Institute, die ihn als Verirrung des historischen Prozesses zu deuten und auszuschlachten wissen. KommentatorInnen der amerikanischen Politik versuchen das Stochern in der Ungewissheit als große Eingebungen zu verkaufen, was vor allem in der billigen Effekthascherei großer Medienhäuser sichtbar wird. Deren Analysen Trumps reichen von anmaßenden Ferndiagnosen über seinen angeblichen Verfall in den Wahnsinn oder auch die Demenz bis hin zu seitenlangen Artikeln über den mangelnden Intellekt des US-Präsidenten.
Neben der Darstellung Trumps als ungebildeter amerikanischer Nichtsnutz erklären ihn andere zur Gefahr für die gesamte liberale Weltordnung. Sie sehen in Trump einen berechnenden Faschisten, in seiner Wahl den »Weimarer Moment« der USA. Eine Riege prominenter Intellektueller warnt vor einer neuen Art des Faschismus, der erschreckende Parallelen zu dessen deutscher Ausformung habe. Für Gesprächsstoff sorgt vor allem der Historiker und Totalitarismusforscher Timothy Snyder, der in Trumps rassistischen Äußerungen und dem andauernden Wettern gegen die liberale Presse Parallelen zum Aufstieg Hitlers entdeckt. Für die Queer-Theorie-Ikone Judith Butler ist es Trumps Tendenz, die Grenzen der präsidialen Macht in der Innen- und Außenpolitik stets aufs Neue auszutesten, die ihn zum Faschisten machten.Christian Salmon, Trump, fascism, and the construction of »the people«: An interview with Judith Butler, VersoBooks.com, 29. Dez. 2016. Für den neokonservativen Robert Kagan wiederum deuten Trumps inkohärent erscheinende Lösungsansätze für komplexe soziale Missverhältnisse auf seinen faschistischen Kern hin.Robert Kagan, This is how fascism comes to America, The Washington Post, 18. Mai 2016. Allen KommentatorInnen ist dabei gemein, dass sie kein kohärentes Bild von Trumps »Weimarer Moment« zeichnen. Sie verwässern damit nicht nur die historische Singularität des deutschen Faschismus, sondern unterstellen Trumps Politik einen Totalitätsanspruch und eine Vernichtungsideologie von denen gar keine Rede sein kann. Sie verkennen die identitäre Grundlage in Trumps Politik, die sie für seine sich von der nationalen Politik nicht repräsentiert fühlenden Kernwählerschaft erst attraktiv macht. Die ambigen, karikativen Darstellungen Trumps als zugleich reichen Tölpel und gerissenen Populisten deuten eher auf klassische antiamerikanische Projektionen hin, als auf ein echtes Interesse, das genuin Amerikanische am Phänomen Trump wirklich zu verstehen.
Tatsächlich sind Trumps KritikerInnen in der Mahnung politischer Dringlichkeit, der Erzeugung von Feindbildern und der Überspitzung politischer Realität Trump durchaus ähnlich und spielen ihm damit komfortabel in die Karten. Vor allem zur Zwischenwahl, so schien es, war es in der Hand der WählerInnen, Amerika und den Rest der Welt von Reaktion und Faschismus zu befreien. Neben amerikanischen Prominenten, demokratischen PolitikerInnen und liberalen Medien, waren auch deutsche Stimmen im Rausch der Zwischenwahlen kaum zu zügeln. Die Zeit sah in den Midterms ein öffentliches Podium auf dem »das Wahlvolk [nicht nur] Enttäuschung und Wut ablässt«, sie seien ein definierender Moment für den zukünftigen Charakter der amerikanischen Demokratie.Josef Joffe, Es ist vorbei mit der Quasialleinherrschaft, Die Zeit, 7. Nov. 2018. Die Welt sprach gar vom »Kampf um die Seele Amerikas«.Clemens Wergin, Ein Kampf um die Seele Amerikas, Die Welt, Nov. 2018. In solchen Darstellungen werden die Zwischenwahlen als weltgeschichtliches Ereignis portraitiert in dem der Fortgang der liberalen Weltordnung einen Scheidepunkt erreiche. Hier greifen die mediale Aufmerksamkeitsökonomie, die Trump wie kein anderer für seine Zwecke zu nutzen weiß, und das gemeine Empfinden, Trump als weltgeschichtlichen Streich nicht verpassen zu wollen, perfekt ineinander. Als zentraler Darsteller auf der Weltbühne bannt Trump alle Blicke auf sich. Trumps UnterstützerInnen beweisen dabei mehr Medienkompetenz als ihnen oft zugestanden wird. Trump ist der am pedantischsten beobachtete US-Präsident der Geschichte. Dass hinter jedem seiner Schritte der Untergang Amerikas prognostiziert wird, erkennen sie durchaus mit Recht als das Ringen danach, Trump mit allen Mitteln als Fremdkörper der amerikanischen Politik zu diskreditieren. Die Darstellung des Phänomens Trump als eine von Russland gesteuerte, unamerikanische Politik entfremdet diejenigen AmerikanerInnen noch weiter, die sich bereits in den letzten Jahrzehnten in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung bedroht sahen. In Trump fühlen sie sich wieder verstanden.
»You will never be ignored again.« Donald Trump, The Inaugural Address, TheWhiteHouse.com, 20. Jan. 2017.
Trump ist Ausdruck einer politischen Schubkraft, die aus der amerikanischen Demokratie selbst entspringt. Durch die radikale Opposition zum liberalen Establishment inszeniert Trump sich als einzig wirksames Mittel gegen ein dysfunktional gewordenes System und schaffte es damit, jene Dynamik der konkurrierenden Interessen und Lebenswelten der amerikanischen Geschichte für sich und seine Politik zu vereinnahmen. Die darin mobilisierte Skepsis gegenüber Washington D.C., großstädtischen Eliten und Intellektuellen, gepaart mit dem Versprechen, den politischen Prozess Amerikas wieder zu demokratisieren, speist sich aus der oben besprochenen Jeffersonschen Tradition gegen das Establishment, die tief in der politischen Kultur der USA verankert ist. Dieser »paranoide Stil amerikanischer Politik«Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, Harper's Magazine (Nov. 1964). kreierte in der Geschichte Amerikas wiederholt großes politisches Moment. Nach Thomas Jefferson wurde dieser Stil vor allem sichtbar durch Präsident Andrew Jackson (1767—1845) in Opposition zu den National Republicans und der Zentralbank, sowie durch die nativistische Know-Nothing-Partei kurz vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, McCarthyism der 1960er oder auch die Tea-Party-Bewegung seit 2009. All diese Bewegungen betrieben ihre eigene Form der Identitätspolitik mit einem Rückbezug auf einen nostalgischen »wahren« Kern Amerikas. Dieser richte sich gegen das Establishment und sei dabei lokalistisch und basisdemokratisch. Mit ähnlichem Narrativ trotzt Trump den angeblich korrumpierten Bushes und Clintons, den Obamas sowie dem politischen Einfluss des Silicon Valley und verspricht Washington D.C. wieder dem »traditionellen«—also, weißen—Amerika zu übergeben.
Doch auch in anderen Aspekten seiner Politik schafft es Trump, mit aus amerikanischen Topoi gespeisten Narrativen gegen das Establishment zu wettern. Trumps America-First-Strategie macht sich altbewährte amerikanische Ideen des Wirtschaftspopulismus und des politischen Isolationismus zu eigen und gibt ihnen neuen Nährboden. So blickt Trump zurück auf eine Reihe von Gründervätern und Präsidenten, deren Politik von wirtschaftlichem Protektionismus, der bewussten Steuerung von Güter- und Kapitalströmen und Formen der Fiskalpolitik mit starkem Verweis auf das Wohl des »eigenen Volkes« geprägt war. Neben Alexander Hamiltons (1757-1804) American System, das fast ausschließlich in amerikanische Produkte investieren und sie vor dem Einfluss europäischer Preistreiberei schützen sollte, verwiesen auch Andrew Jackson, William McKinley (1843—1901) oder John F. Kennedy (1917—1963) auf Handelsdefizite nach Europa und drängten andere Nationen dazu, den Handel durch Zölle »fair« zu gestalten. Zudem hat Trump gar mit Barack Obama mehr Gemeinsamkeiten, als es ihm wahrscheinlich lieb ist. Denn zeigte Obamas Außenpolitik bereits Anflüge von Isolationismus beginnend mit dem Abzug aus Afghanistan und dem Irak. Obama erklärte diese Entscheidung nüchtern damit, dass Amerika »nicht alles Elend dieser Welt beseitigen« könne; einer Aussage also, die aus heutiger Wahrnehmung eher Präsident Trump zugeschrieben würde.Jeffrey Goldberg, The Obama Doctrine, The Atlantic, 16. April 2016. Trump möchte die Rolle des Landes als globale Ordnungsmacht nun gänzlich abschütteln und Amerika zurück zum Isolationismus führen, der die US-Außenpolitik von der Gründungszeit bis zum Eintritt in den ersten Weltkrieg prägte.
Mit diesem Flickenteppich verschiedener Amerikanismen positioniert sich Trump gegen das politische Establishment und kreiert die Identitätspolitik des »anderen Amerikas«, dessen Erfahrungshorizonte und Interessen jahrzehntelang gefühlt kaum Einfluss auf die nationale Politik gehabt hätten. Hinter dem Slogan »Make America Great Again« versammelt Trump verschiedene Strategien der Reaktion gegen alles, was für seine WählerInnen das liberale Establishment definiert: Freihandel, Globalisierung, Diversität und politische Korrektheit. Dagegen verkauft Trump Isolationismus, Nationalismus, »Race Realism« und Männlichkeit als Antwort auf die sozioökonomische Wirklichkeit derer, die sich vom Amerika der letzten Jahrzehnte abgehängt fühlten.
Die Mauer
Treffender als im Ende der Weimarer Republik ist das Phänomen Trump möglicherweise im Frankreich der 1850er Jahre zu begreifen. In der Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte zeichnet Marx die historische Grundlage für den Aufstieg des Napoleon III. nach, die auch Trumps politischen Erfolg ermöglicht. Trump profitiert vor allem von den wachsenden Ängsten derer, die vom Strukturwandel und der voranschreitenden Globalisierung betroffen sind und die Schuld für materielle und soziale Widersprüche im Weltmarkt suchen. Dort wo Waren-, Kapital- und Migrationsströme, d.h. globale Austauschbeziehungen einer liberalen Welt, Grenzen unterspülen, nationale und soziale Identitäten sowie die industrielle Grundlage der ansässigen Wirtschaft aufzuweichen drohen, bildeten sich in den letzten Jahrzehnten tiefe Ressentiments gegen den Liberalismus, der die nationale Politik bestimmte. Deshalb erhält Trump, wie bereits Napoleon III., Unterstützung und Vertrauen von der vorstädtischen Mittelklasse, Teilen der Arbeiterklasse, der Bevölkerung aus ländlichen Regionen sowie auch einem Teil der konservativen Eliten. Die einen sehen in seiner Politik das Versprechen für soziale und politische Reformen und mehr soziale Stabilität. Ähnlich wie sich Napoleons III. Erfolg in einer »weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen«Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW (8), 115. von der Nostalgie für Napoleon Bonapartes Frankreich nährte, profitiert Trump vom nostalgisch verzerrten Bild des traditionell weißen und protestantischen Amerikas der anderen.Vgl. Dylan Riley, What is Trump, The New Left Review 114 (Nov. 2018); Sam Miller und Harrison Fluss, The 18th Brumaire of Donald J. Trump? SocialistWorker.org 5. Dez. 2016.
Was Trumps Innen- und Außenpolitik definiert und seine Kernwählerschaft nachhaltig einte ist nicht nur die Affirmation einer nostalgischen nationalen Identität und das Einstehen für das »eigene Volk«, sondern auch die Negation des Fremden. So macht Trump abstrakte, wenngleich spürbare Veränderungen im Arbeitsmarkt, in der kulturellen Tradition und in der gesellschaftlichen Struktur im Anderen (an-)greifbar. Trumps Entkopplung Amerikas von der Außenwelt soll jene Prozesse der Globalisierung steuerbar machen, die den American way of life in seinem Kern gefährden. Alle isolationistischen und nationalistischen Maßnahmen der Trump-Administration bewirken letztendlich die Konzentration von sozialen und ökonomischen Widersprüchen der Globalisierung im nicht-amerikanischen Fremden.
Die Mauer entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze gehört dabei zu den wichtigsten Projekten Trumps. Eine physische Barriere preist er als erfolgversprechende Lösung an, um vermeintlich destruktive Bewegungen der Globalisierung zu kontrollieren. Südamerikanische MigrantInnen und Asylsuchende sind für Trump nicht weniger als die leibgewordene Entgrenzung der Welt. Sie verkörpern in dieser Logik die voranschreitende Auflösung nationaler und kultureller Grenzen; Kriminalität, Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit seien die an ihnen haftenden Widersprüche der Globalisierung. Die Mauer wurde für Trump zur Allegorie für alles, was seine Wählerschaft gegen die etablierte Politik eines kosmopolitischen Amerikas mobilisiert. Zugleich verhindert die Mauer den Weitblick, um Globalisierungsprozesse als das zu sehen was sie sind: grenzüberschreitende Waren- und Kapitalströme, denen selbst eine Mauer nicht standhalten kann. Trumps Interesse gilt jedoch vor allem ihm selbst und der Treue seiner Wählerschaft. Für Trump ist die Mauer ein Monument des »anderen Amerikas« und Mittel, um die Widersprüche jahrzehntelanger Privatisierung und Entstaatlichung der amerikanischen Öffentlichkeit anderen Menschen in die Schuhe zu schieben. Auch deshalb wird Trump im Bau der Mauer keine Kompromisse eingehen.
Trump ist alles andere als eine unamerikanische Anomalie. In Trumps Politik findet die Tradition des Ringens um demokratische Repräsentation und der Skepsis gegenüber Globalisierung und dem sogenannten Establishment dankbaren Nährboden. Tragisch an Trumps Präsidentschaft ist nicht, dass sie die amerikanische Demokratie angeblich untergräbt, sondern vielmehr, dass seine KritikerInnen verkennen, dass sie aus der amerikanischen Demokratie selbst entspringt. In der politischen Realität Amerikas lässt sich das stete Aufeinanderprallen von Progress und Reaktion oder Globalisierung und Lokalismus weder ignorieren noch gänzlich im Kompromiss auflösen. Tatsächlich ist Trump gerade das widersprüchliche Ergebnis dieser versuchten Übereinkunft. Im Great Compromise einigten sich die Gründerväter, dass die Interessen der AmerikanerInnen am besten im House und Senate repräsentiert würden. In ihnen verstetigt sich von Anbeginn der Vereinigten Staaten der unauflösliche Konflikt zwischen direkter und repräsentativer Demokratie. Tatsächlich jedoch wogen die Gründerväter sich in jenem Kompromiss in Sicherheit gegenüber dem ländlichen Pöbel. Dass Trump nicht von der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung, sondern von einer Mehrheit des nicht repräsentativen Wahlmännersystems gewählt wurde, ist ebenso Ergebnis dieses Kompromisses. Was im Great Compromise als Schutz vor der Tyrannei der Mehrheit ausgehandelt wurde, verkehrt sich im heutigen mehrheitlich urbanen Amerika zur Tyrannei der Minderheit. Wie demokratisch war also die Präsidentschaftswahl von 2016, in der eine Stimme aus Wyoming proportional drei Stimmen und eine kalifornische Stimme 0,8 Stimmen zählte? Wirklich repräsentativ war das Ergebnis vielleicht nicht, bestimmt aber amerikanisch und im Kompromiss legitimiert.
Erwin Fraenkel
Der Autor ist Redakteur der Phase 2 und lebt in Leipzig und Berlin.