Wer in den sechziger Jahren aufwuchs, wurde, sofern die Eltern einen Fernseher erworben hatten, mit musikalischer Islamkritik konfrontiert. Der Hase Cäsar sang: »C-A-F-F-E-E / trink nicht soviel Kaffee / Nicht für Kinder ist der Türkentrank / Schwächt die Nerven, macht dich blass und krank / Sei doch kein Muselmann / der das nicht lassen kann.« Der Schwerpunkt der Islamkritik hat sich seitdem verschoben, erhalten blieb jedoch die Vorstellung vom »Muselmann, der das nicht lassen kann«.
Geschrieben wurde das Lied von Carl Gottlieb Hering in einer Epoche, als europäische RomantikerInnen auch den Orient und den Islam verklärten. So ließ damals ein anderer Cäsar, der Komponist César David, in seiner Oper Le Désert auch einen »chant du muezzin« erklingen. Seine modernen NachfolgerInnen würden den »Türkentrank« wohl zum Anlass nehmen, um auf den unschätzbaren Beitrag des Islam zur europäischen Kultur hinzuweisen und zu erwähnen vergessen, dass die Kaffeesäcke, die das Getränk bekannt machten, nach der erfolglosen Belagerung Wiens im Jahr 1683 vom osmanischen Heer zurückgelassen wurden.
Die beiden Pole der Islamdebatte, die generelle Verurteilung einer barbarischen und rückständigen Religion und ihre Verklärung als wenigstens zu respektierende, wenn nicht nachzuahmende Alternative zu einer heruntergekommenen christlichen oder heutzutage westlichen Zivilisation, ließen sich sogar noch weiter zurückverfolgen. So tauchte in der Epoche der Kreuzzüge der edle Ritter Saladin als Gegenbild zum raubgierigen und ehrlosen christlichen Plünderer auf. Die Islamdebatte sagt daher auch immer etwas über die Debattierenden aus.
Dass sich hinter der Romantisierung des Islam meist reaktionäre Zivilisationskritik und oft die Suche nach einem Glaubenssystem verbirgt, das verlorengegangene Gewissheiten ersetzen soll, ist offensichtlich. Auch die Ziele des »Dialogs der Kulturen«, den europäische und insbesondere deutsche PolitikerInnen so gerne führen, sind leicht zu entschlüsseln. Im Inland sollen konservative und auch islamistische Prediger die Polizei- und Sozialarbeit ergänzend die muslimische bzw. für muslimisch erklärte Jugend disziplinieren, im Ausland sicherte die Kooperation mit Diktatoren und Autokraten bis zum Beginn der arabischen Revolte staatsnahen Konzernen wie Siemens gute Geschäfte und den Regierungen der EU eine »Koalition der Willigen« bei der Flüchtlings- und Migrationsabwehr.
Komplexer sind die Verhältnisse bei den IslamkritikerInnen. Eindeutig rechtspopulistisch und sozialdarwinistisch argumentiert Thilo Sarrazin. Henryk M. Broder kann sich zwischen rechtslibertärer Polemik und liberalem Universalismus nicht recht entscheiden, und auf den Bahamas scheint man ähnliche Probleme zu haben. Zweifel an den emanzipatorischen Absichten kommen auf, wenn IslamkritikerInnen das Abendland in einen doppelten Abwehrkampf gegen Jihadismus und Gendertheorie verstrickt sehen.
Der Islam zwischen Religion und Theologie
Eine emanzipatorische Islamkritik kann sich nicht in der Entlarvung »falschen Bewusstseins« erschöpfen, sie muss nach Wegen zur Überwindung repressiver Herrschaftsverhältnisse suchen und kommt daher nicht umhin, nach den Ursachen für deren Entstehung und den Bedingungen für ihre Aufhebung zu fragen. Dazu gehört auch eine Debatte über die Besonderheiten des Islam, sie sollte aber nicht mit der Koranexegese verwechselt werden. So führt der Streit zwischen IslamgegnerInnen und IslamromantikerInnen meist dazu, dass man sich Koranverse um die Ohren schlägt. Obwohl der Koran weniger vielfältig ist als die Bibel, findet jeder, was er sucht. »Es gibt keinen Zwang im Glauben«, verkündet der 256. Vers der 2. Sure. »Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren Religion angehören«, fordert hingegen Vers 29 der 9. Sure.
Propheten sind keine Theologen, die Widersprüche in ihrer Lehre bekümmern sie nicht. Mit diesem Problem müssen sich auch muslimische Rechtsgelehrte herumschlagen, die den Koran sehr früh historisiert und seinen Inhalt gemäß dem Kontext der jeweiligen Offenbarung interpretiert haben. Eine »reine« Religion ohne Theologie gibt es nicht. Um die Interpretationen des Islam voneinander zu unterscheiden, ist es sinnvoll, als Fundamentalismus die wortgetreue Auslegung des Koran und als Islamismus die Forderung nach deren Geltung in Staat und Gesellschaft zu bezeichnen. Doch ist auch der Fundamentalismus eine theologische Interpretation, die den Wortlaut des Koran in vielen Punkten übergehen muss, um zu einer Lehre zu werden.
»Wir geben euch von den Früchten der Palmen und Weinstöcke zu trinken, woraus ihr euch einen Rauschtrank macht, und schönen Unterhalt. Darin liegt ein Zeichen für Leute, die Verstand haben.« (16:67) Der Wein wird hier als Gottesbeweis gepriesen, weitere Verse wägen die guten und schlechten Seiten des Weingenusses ab, doch die orthodoxe Theologie erklärt allein das in der 5. Sure (Verse 90 bis 92) ausgesprochene Verbot für maßgeblich, obwohl sie andererseits die göttliche Herkunft und zeitlose Gültigkeit aller Verse betont.
In seinem Buch Der Koran: Einführung - Texte – Erläuterungen erläutert Tilman Nagel einige Abweichungen der Theologie vom Wortlaut des Koran. Die animistischen Elemente und das anthropomorphe Gottesbild Mohammeds etwa ignoriert die orthodoxe Theologie. Manche dieser Interpretationen sind von großer politischer Bedeutung. Der orthodoxe Islam erkennt nur Religionen an, die bereits vor der Offenbarung des Koran existierten, weil dieser als letzte und endgültige Botschaft Gottes betrachtet wird. Die Baha'i und die Ahmadiyya, die erst im 19. Jahrhundert entstanden, werden deshalb verfolgt.
Die Belegstellen für die Endgültigkeit der koranischen Botschaft sind jedoch dürftig und wenig überzeugend. Die Aussage »Heute habe ich eure Religion für euch vollendet« (5:3), versteckt zwischen zwei Speisegeboten, scheint eher an die versammelte Gemeinde als an die Menschheit gerichtet zu sein. Rudi Paret, dessen Koranübersetzung als die islamwissenschaftlich maßgebliche gilt, weist darauf hin, dass die einzige weitere Belegstelle, der 40. Vers der 33. Sure, ebenfalls zweifelhaft ist. Mohammed wird meist als »Siegel der Propheten« bezeichnet, doch kann man auch »Beglaubigung der Propheten« übersetzen. Dies entspräche der koranischen Prophetenlehre. Die menschliche Geschichte wird als Abfolge der Entsendung monotheistischer Prediger verstanden. Da die Propheten entweder gar kein Gehör finden oder ihre Lehre bald nach ihrem Tod verfälscht wird, muss die Botschaft des Monotheismus immer wieder von neuen Propheten »beglaubigt« werden.
Muslimische Geistliche lassen sich von solchen Erkenntnissen ebenso wenig beeindrucken wie katholische Gelehrte von der historisch-kritischen Bibelforschung, die nachweisen kann, dass Jesus ein jüdischer Ketzer war, der nicht beabsichtigte, eine Universalreligion zu gründen. Seit dem Frühmittelalter haben die muslimischen Theologen ein relativ kohärentes Glaubenssystem entwickelt, das trotz der konfessionellen Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten und der Streitigkeiten zwischen den vier sunnitischen Rechtsschulen zentrale Gemeinsamkeiten aufweist. Der Koran wird, ergänzt durch die Sunna (Überlieferung der Worte und Taten des Propheten), als ewige Botschaft Gottes verstanden, man ist sich einig über die »fünf Säulen« (Glaubenbekenntnis, Gebet, Pilgerfahrt nach Mekka, Armenfürsorge und Einhaltung des Fastenmonats) und weitere Verpflichtungen der Gläubigen, aber auch über die Methoden der Interpretation, die selbst in ihrer freiesten Form, dem Ijtihad, eng an die »heiligen Texte« gebunden bleibt.
Muss man also doch von »dem Islam« sprechen, auch wenn dieser eher in theologischen Interpretationen als im Koran zu finden ist?
»Das Wesen des Islam«
Viele bedeutende IslamwissenschaftlerInnen, unter ihnen Konservative wie Bernard Lewis und Liberale wie Bassam Tibi, gehen davon aus, dass es so etwa wie ein »Wesen des Islam« gibt. Es wird vornehmlich in der mangelnden Fähigkeit gesehen, Religion und Politik zu trennen, da beides nach orthodoxer Lehre und dem Vorbild des Propheten, der seit der Flucht nach Medina auch ein weltlicher Herrscher war, zusammengehöre. Auch die »Essenzialisten« in der Islamwissenschaft argumentieren jedoch differenziert und auf empirischer geschichtswissenschaftlicher Grundlage. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass ihre Werke, die in der Debatte der neunziger Jahre noch eine wichtige Rolle spielten, von einer zeitgenössischen Islamkritik ignoriert werden, die eine Rückprojektion heute gültiger moralischer Vorstellungen auf das Frühmittelalter mit Ideologiekritik verwechselt.Der Prophet hat ein Kind – vielleicht auch eine Jugendliche, die Altersangaben sind unterschiedlich – geheiratet, doch »pädophil« waren auch die meisten antiken Philosophen, in Gargantua und Pantagruel wünscht sich Rabelais »anmutige Dirnlein« im Alter zwischen zehn und 15 Jahren, und die katholische Kirche hat diese Tradition bekanntlich bis in unsere Zeit erhalten. Im Gesamtbild schneidet Mohammed, gemessen an europäischen Zeitgenossen wie den Merowingern, so schlecht nicht ab.
Bedeutsamer für die Islamdebatte ist jedoch, dass es bereits zur Zeit des Propheten Probleme mit der Disziplin der Gläubigen gab. Zahlreiche Koranverse klagen über die »Heuchler«, die sich nur wegen des Beuteanteils zum Islam bekennen und es auch an Gebetseifer fehlen ließen: »Wenn sie ein Spiel sehen, dann brechen sie sogleich dazu auf und lassen dich stehen.« (62:11) Man darf annehmen, dass solche Probleme nach dem Tod des charismatischen Propheten eher wuchsen.
Das Hauptproblem der historisch-kritischen Islamforschung ist, dass es schlicht an Erkenntnissen fehlt. Es gibt gewaltige Lücken, da kritische Untersuchungen bestenfalls unerwünscht, meist aber verboten sind und auch Liberale und Linke in islamischen Ländern meist noch einem »heroischen« Geschichtsbild anhängen. Was bezüglich Europas seit der Aufklärung und verstärkt in den vergangenen Jahrzehnten geleistet wurde, die Erforschung der sozialen Aufstände, der Alltagskultur, »Herstory« und anderes mehr, steht in der islamischen Welt noch aus.
Die wenigen verfügbaren Quellen bieten manche Überraschungen. Ibn Battutas fiktive, aber auf zeitgenössischen Berichten beruhende Beschreibung der islamischen Welt des 14. Jahrhunderts (Die Wunder des Morgenlandes: Reisen durch Afrika und Asien) präsentieren ein von Wunderglauben und Magie geprägtes, »katholisch« anmutendes Religionsleben, das nicht zum Bild einer drögen Rechtsgelehrsamkeit passen will, die den Islam angeblich immer prägte. Auch die aufständischen Bauern und Sklaven der Bewegung Surch Alam, die im achten Jahrhundert zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die rote Fahne zum Symbol der sozialen Revolte machte und das Abbasidenkalifat erschütterten, dürften der Orthodoxie kritisch gegenübergestanden haben.
Der bekannteste Gegenpol zum orthodoxen Gesetzesislam ist der Sufismus, der die Spiritualität betont und in seinen radikalen Ausprägungen sogar die Einhaltung religiöser Gebote für überflüssig erklärt. Es gibt keinen Anlass, diese Strömung zu romantisieren, Sufi-Orden sind oft reaktionäre Männerbünde. Die meisten dieser Bruderschaften sind derzeit in die staatlichen Klientelsysteme eingebunden, viele befürworten die Scharia, und in Pakistan sind ihre Anhänger für die Mehrzahl der »Ehrenmorde« verantwortlich. Als politische Alternative zum orthodoxen Gesetztesislam können sie in der Regel nicht gelten, sie sind jedoch eine machtpolitische Konkurrenz.
Seit Muawiya im Jahr 661 die Monarchie einführte, sind die sunnitischen Geistlichen meist weisungsgebundene Staatsangestellte gewesen. Bis heute ist es in vielen islamischen Staaten üblich, dass den Predigern am Donnerstag von der Regierung die Anweisungen für die Freitagspredigt übermittelt werden. Deshalb begegnet man ihnen oft mit Misstrauen, viele MuslimInnen bevorzugen unabhängige, meist durch Spendensammlungen oder reiche Sponsoren finanzierte »Volksmoscheen«, deren Prediger häufig Amateure sind.
Den Geistlichen als notwendigen Mittler zwischen den Gläubigen und Gott kennt der Islam nicht, auch der schiitische Klerus, der am ehesten als Pendant zur katholischen Kirche gelten kann, hat keine sakramentale Funktion. Ein Muslim darf sogar ein religiöses Rechtsgutachten (Fatwa) ignorieren, um das er selbst ersucht hat, denn in letzter Instanz ist er allein Gott rechenschaftspflichtig. Die gelegentlich erhobene Forderung nach einer Reformation des Islam ist daher überflüssig, der Prophet hat sie gleich mitgeliefert.
In den ersten Jahrhunderten nach der Reformation war der Protestantismus jedoch keineswegs liberaler als der Katholizismus. Die Unabhängigkeit der Gläubigen birgt auch Gefahren, sie ermöglicht theologische Willkür und gestattet extremistische Interpretationen. Fast alle IslamistInnen und JihadistInnen sind HobbytheologInnen, die geltend machen können, dass die meist staatlich besoldeten Geistlichen, die ihnen widersprechen, keine höher gestellten Autoritäten sind. Dass die Gläubigen allein Gott verantwortlich sind, kann überdies, wie bei christlichen PuritanerInnen, zu einem Frömmigkeitswahn führen, weil man nie genug tun kann, um Gottes hohen Ansprüchen zu genügen.
Andererseits kann es theologische Reformen erleichtern, dass die Geistlichkeit, die grundlegende Veränderungen in der Regel ablehnt, für das Seelenheil entbehrlich ist. Und die Eigenverantwortlichkeit kann die Gläubigen auch auf den Weg jener katholischen Nonchalance führen, deren Essenz man in einem Satz zusammenfassen kann: »Gott ist barmherzig, er wird mir meine Sünden verzeihen.«
Die Gedichte von Hafez und anderen persischen Poeten, die vornehmlich den Wein und die Liebe besangen, belegen, dass diese Haltung in der Vergangenheit nicht unbekannt war. Über ihre Verbreitung außerhalb der höfischen Kultur Persiens kann man mangels Quellen nur Vermutungen anstellen, doch ist es wahrscheinlich, dass man in der islamischen Welt ebenso eifrig »gesündigt« hat wie im europäischen »Zeitalter des Glaubens«, dem Mittelalter.
In der Gegenwart ist die Abweichung von den religiösen Normen leichter erkennbar. Wer etwa das subsaharische Afrika bereist, wird schnell auf MuslimInnen stoßen, die auch mal ein Bier trinken, die ersten Gebete versäumen, weil sie bis kurz vor Sonnenaufgang getanzt haben und offenherzig erklären, dass sie drei oder vier Fastentage im Ramadan für ausreichend halten. Das subsaharische Afrika wird meist vergessen, wenn von der »islamischen Welt« die Rede ist, obwohl der Bevölkerungsanteil der MuslimInnen im Senegal und in Mali höher ist als in Ägypten und Syrien. Staaten wie der Senegal haben sich dem Trend der vergangenen Jahrzehnte entzogen. Leopold Senghor, der erste Präsident nach der Unabhängigkeit, war ein Katholik, islamistische Bewegungen spielten nie eine Rolle und die Demokratisierung fand bereits in den neunziger Jahren statt.
Man muss die Verhältnisse in Ländern wie dem Senegal, wo Homophobie und andere Formen der Bigotterie weit verbreitet sind, nicht idealisieren, um festzustellen, dass »der Islam« der Islamkritik vornehmlich ein Problem es Nahen und Mittleren Ostens ist. Auch das ist erst seit einigen Jahrzehnten der Fall. Die Epoche des Nationalismus, die der ideologischen Vorherrschaft des politischen Islam vorausging, war alles andere als freiheitlich, und auch arabisch-nationalistische Herrscher wie Gamal Abd al-Nasser bedienten sich der Religion als Herrschaftsinstrument. Doch erst seit den frühen siebziger Jahren wurde die Scharia das zentrale Thema der politischen Debatte. Initiiert wurde die »Islamisierung« meist, wie in Ägypten unter Anwar al-Sadat, vom Regime, das bald von einer islamistischen Bewegung herausgefordert wurde.
Orthodoxie und Islamismus
Der Islamismus ist alles andere als »authentisch«. Entstanden in der Zwischenkriegszeit, nahm er sich wie der Ba'athismus und andere nationalistische Bewegungen den europäischen Faschismus zum Vorbild, von dem er unter anderem das Gesellschaftsmodell des »organischen Volkskörpers« und den Antisemitismus übernahm, der bald darauf mit koranischen Bezügen »islamisiert« wurde. Der Begriff des Ideologieimports sollte nicht apologetisch verstanden werden, man führt nur ein, was man aus eigenem Interesse haben will. Als Ausdruck eines »islamischen Wesens« aber kann der Islamismus nicht gelten. Dem Faschismus vergleichbar bezieht er sich auf traditionelle reaktionäre Wertvorstellungen und radikalisiert sie.
In diesem Kontext gewann auch die orthodoxe Theologie an Einfluss. Sie war der Bezugspunkt der IslamistInnen, die sich nun als konsequente Verfechterin einer Ideologie profilieren konnte, die als »nationaler Konsens« galt, wie auch des Regimes, das mit ihrer Hilfe eine Radikalisierung unterbinden wollte. Das prägte große Teile der Gesellschaft, die religiöse Observanz, sichtbar gemacht in der Verbreitung des Schleiers und der Häufigkeit öffentlicher Gebete, hat in vielen Ländern immens zugenommen. Erleichtert wurde dies durch eine wenig beachtete Besonderheit des Islam. Der Prophet legte großen Wert auf kollektive Rituale, die ein wirksames Instrument der sozialen Kontrolle sind. So wird dringend empfohlen, die täglichen Gebete in der Gruppe zu absolvieren. Wer das Gebet auch einmal auslassen würde, wird durch sozialen Druck auf die Knie gezwungen.
Andererseits wuchs unter diesen Bedingungen die Protestbewegung heran, die nicht nur in Tunesien, das als säkularster arabischer Staat eine Ausnahme war, sondern auch in Ägypten, das immer als Hochburg des Glaubens und des Konservatismus galt, die Trennung von Religion und Staat fordert. Ohnehin bedürfte es keiner islamistischen Bewegung oder staatlicher Zwangsmaßnahmen, wenn die Befolgung des »islamischen Gesetzes« für alle MuslimInnen so selbstverständlich wäre.
Die Demokratisierung im Nahen und Mittleren Osten kann nun zu einer »Katholisierung« des Islam nach afrikanischem Vorbild führen. Die Geistlichkeit wäre dann weiterhin für Hochzeiten und Begräbnisse zuständig, man würde auch hin und wieder ihren Predigten lauschen, im alltäglichen Leben aber den eigenen Vorstellungen folgen. Doch die Jahrzehnte des politischen Islam haben die Gesellschaft geprägt, überdies wollen konservative Kräfte wie das ägyptische Militär einen radikalen Wandel verhindern, und die Muslimbruderschaft wird auf einer Bindung an »islamische Werte« bestehen. Eine Auseinandersetzung mit Orthodoxie und Islamismus dürfte daher unerlässlich sein.
Säkularisierung als Bruch mit der theologischen Tradition
Die vielfach angemahnte Aufklärung hat jedoch längst begonnen. Der Säkularisierung im Weg stehen vor allem zwei bislang kaum hinterfragte Elemente der Theologie. Der Bezug auf den Koran als das Wort Gottes wird als Bindung an koranische Vorschriften verstanden, was in der Praxis bedeutet, dass der Staat nicht religiös neutral sein darf und für eine Geltung der Scharia wenigstens im Familienrecht sorgen muss. Die göttliche Herkunft des Koran zweifelte der im Juli vergangenen Jahres verstorbene ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses) nicht an. Durch die Offenbarung aber verwandle sich der Koran »in einen menschlichen Text«, der »notwendigerweise vom relativen und veränderlichen Standpunkt des Menschen aus« interpretiert werden müsse.
Somit besteht die Möglichkeit, koranische Regeln symbolisch zu deuten. Dass Frauen nur die Hälfte dessen erben, was Männer erhalten, während sie zuvor gänzlich leer ausgingen, wäre somit eine Mahnung, für ihre soziale Gleichstellung zu sorgen und keine ewige Regel. Nasr Hamid Abu Zaids These mag spitzfindig erscheinen, seine Ansicht, dass Unveränderlichkeit »eine Eigenschaft des Absoluten«, also allein Gottes sei, steht jedoch im Einklang mit der orthodoxen Theologie, die strikt zwischen dem Schöpfer und den Erschaffenen unterscheidet, den Koran davon aber ausnimmt. Politische Intrigen und Drohungen zwangen Zaid, Ägypten für längere Zeit zu verlassen.
Ein zweites zentrales Dogma ist die Mythologisierung der frühislamischen Zeit, die als Epoche unbändigen Glaubenseifers und Missionsdrangs gilt, an der sich wahre MuslimInnen ein Vorbild zu nehmen haben. In Koran und Sunna mangelt es nicht an Klagen über kleinliche MuslimInnen, die mit dem Propheten über ein paar Ziegen aus dem Beuteanteil streiten. Grundsätzlicher geht der Theologe Sven Kalisch an die Sache heran. In seinem Aufsatz Islamische Theologie ohne historischen Muhammad vertritt er die These, der Prophet habe wahrscheinlich nicht existiert.
Diese These ist unter anderem wegen des recht differenzierten und zum Teil sogar kritischen Bildes, das die Quellen von Mohammed zeichnen, fragwürdig. Eine Offenbarung, die den Propheten von einer kurz zuvor verkündeten Heiratsregel ausnahm, quittierte seine Ehefrau Aisha mit der Bemerkung: »Gott hat es sehr eilig, deine Wünsche zu erfüllen.« Welcher Theologe würde sich so etwas ausdenken? Doch Kalisch trägt recht überzeugend Beweise für eine nicht minder brisante These zusammen: Die Kämpfer Mohammeds waren keine Muslime, genauer gesagt, sie verstanden sich nicht als Repräsentanten einer neuen Religion.
Es wurden Münzen aus den ersten beiden Jahrhunderten nach dem Tod des Propheten gefunden, die auf einer Seite seinen Namen, auf der anderen aber ein christliches Symbol zeigen. Diese Funde und andere Belege zeigen Kalisch zufolge, dass »der Urislam sehr viel toleranter gewesen sein muss«. Offenbar gab zunächst keine konfessionelle Abgrenzung, die Konversion war eine Aufnahme in die herrschende arabische Kriegeraristokratie, die ohne eine solche Kooptation die riesigen eroberten Gebiete nicht verwalten konnte. Dies entspräche der bereits erwähnten koranischen Prophetenlehre, die von einer immer wieder zu bestätigenden monotheistischen Lehre ausgeht und Konfessionen als Abweichung von der göttlichen Botschaft versteht.
Die Gegenentwürfe zu Orthodoxie und Islamismus sind vorhanden, was noch fehlt, erläuterte im Jahr 2004 der belgische Kardinal Godfried Danneels: »Der Islam muss seine französische Revolution machen und klar zwischen spiritueller und weltlicher Macht unterscheiden.«
Papst Pius VI. hatte nach der Lektüre der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1791 gefragt: »Kann man etwas Unsinnigeres ausdenken, als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?« Mit der Zeit aber können sich sogar Geistliche mit der Säkularisierung anfreunden und einsehen, dass die erzwungen werden musste.
Denn freiwillig entsagen sie der Macht nicht. Die Säkularisierung erfordert einen Bruch mit der theologischen Tradition, und anders als zur Zeit der europäischen Aufklärung ist Religionskritik in der Epoche des Internets nicht das harmlose Hobby von AristokratInnen und GroßbürgerInnen, das ein wohlwollender Herrscher dulden kann. Jede Kritik an der orthodoxen Theologie war zwangsläufig Staatskritik, sie musste unterbunden werden.
Nun aber hat die »französische Revolution« im Nahen und Mittleren Osten begonnen. Rückschläge sind möglich, doch darf man zuversichtlich sein, dass noch in diesem Jahr die Zahl der Demokratien in der islamischen Welt immens wachsen wird. Die Demokratisierung ist eine zweite Entkolonisierung, allerdings nicht in einem antiimperalistischen Sinn. Mit der Unabhängigkeit hatten einheimische Oligarchien, in der islamischen Welt meist Offiziere oder Könige, den kolonialen Staatsapparat übernommen, der im Gegensatz zur indirekt über die Patriarchen weitgehend unabhängiger Communities ausgeübten Herrschaft, etwa des Osmanischen Reiches, den Untertan als ein streng zu beaufsichtigendes und zu erziehendes Objekt betrachtete. Nicht kolonisierte Staaten vollzogen den Übergang zu einer interventionistischen Regierungsform nach. Damit änderte sich auch die Rolle des Islam, der nun zu einem Instrument staatlicher Erziehung und der Mobilisierung in einer Entwicklungsdiktatur werden sollte.
Aus Untertanen werden nun BürgerInnen. Die IslamistInnen werden weiterhin eine bedeutende Minderheit bilden, aber keine größere Rolle spielen als rechtsextreme Parteien in Europa, zumal der Wettstreit um Rechtgläubigkeit mit den Predigern des Regimes nun zu Ende ist und derzeit alles dafür spricht, dass der bürgerlichen Revolution eine nachholende 68er-Bewegung folgen wird. Der Kampf um Säkularisierung und gesellschaftliche Emanzipation wird langwierig, doch zweifellos wird eine demokratische Gesellschaft keinen Bedarf mehr für einen Staatsislam haben, der ihr die Regierungspolitik predigt. Damit wächst der Druck auf die Geistlichkeit, und die aufgeweckteren Gelehrten haben die Chance, sich nun des Ballasts der theologischen Tradition zu entledigen. HistorikerInnen, Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen, LiteratInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen werden die neue Freiheit nutzen. In Zukunft wird die relevante Islamkritik aus der islamischen Welt selbst kommen.
Jörn Schulz
Der Autor ist Redakteur der Zeitung Jungle World.