Ein knappes Jahrzehnt leben wir nun offiziell in »der Krise«. Der diffuse Eindruck, dass die Welt immer mehr aus den Fugen gerät, gehört mittlerweile zum Alltagsverständnis. Damit haben sich auch zentrale Mechanismen der Affirmation des Bestehenden verändert. Diese Mechanismen speisen sich grundsätzlich aus einer in die Struktur kapitalistischer Arbeits- und Konkurrenzverhältnisse eingeschriebenen Krisenhaftigkeit des individuellen Daseins: Selbst unter günstigen sozio-ökonomischen Umständen sind die Individuen zu einem hohen Maß an Triebverzicht, Anpassungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft gezwungen. Hinzu kommt die permanente Bedrohung, den gesellschaftlich erzwungenen Anforderungen nicht zu genügen und die Existenzsicherung nicht mehr eigenständig bewerkstelligen zu können. Wie nun mit diesen individuellen Leid- und Krisenerfahrungen umgegangen wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie diese auf das gesellschaftliche Ganze bezogen werden. Ein zentraler Mechanismus ist etwa die bedingungslose Identifikation mit ebendiesem: Dieselbe Ordnung, die das eigene Leid hervorruft, wird durch die autoritäre Selbstvergewisserung überdeckt und gibt Halt. Es wird sich gar eingeredet, dass das selbst erbrachte Opfer ein wesentlicher Beitrag dazu ist, dass überhaupt Ordnung herrschen kann. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das gesellschaftliche Gefüge als relativ funktionsfähig und ordnungsgemäß wahrgenommen wird.
Sobald die gesellschaftliche Ordnung als Ganze in Frage gestellt wird, oder zumindest das Gefühl vorherrscht, dass dem so sei, gelingt eine solche Identifikation immer schlechter. Die Prekarität der Lebensführung spiegelt in zunehmendem Maße die Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen Ganzen auf der Ebene der persönlichen Erfahrung wider. In der Folge kann diese gesellschaftliche Krise immer schwieriger ausgeblendet oder externalisiert werden, stattdessen muss sie verarbeitet werden. Die Krise droht die Dimension einer existenziellen Gefahr für das Individuum zu erreichen. Das wiederum berührt den grundlegenden Konflikt von Selbsterhaltung, Anpassung und Selbstaufgabe und lässt die Frage aufkommen, warum sich Menschen diesen Bedingungen noch fügen. Gerade weil die Identifikation mit der Ordnung den zentralen Abwehr- und Verdrängungsmechanismus darstellt, muss die Konfliktbearbeitung einen Umgang mit dieser Krise finden, der das diffuse Unbehagen angesichts der allumfassenden Krise aufgreift, aber das gesellschaftliche Ganze als Ursache unangetastet lässt. Die existentielle Bedrohung muss einerseits thematisiert und andererseits entschärft werden.
Dieses Bedürfnis durchzieht die moderne Kultur in vielen ihrer Praktiken als Ideologieproduktion, in beträchtlichem Maße jedoch die Kulturindustrie. Bereits in deren Frühphase verwies Theodor W. Adorno auf die besondere Bedeutung kulturindustriell hergestellter Vorstellungen für die Bearbeitung und Eindämmung der inneren Konflikte des modernen Individuums. Denn »der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, daß sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer aufs neue vorgemacht und in ihnen selber wiederholt würden. […] Diese Sisyphusarbeit der individuellen Triebökonomie scheint heute ›sozialisiert‹, von den Institutionen der Kulturindustrie in eigene Regie genommen«.Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen, in: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a.M. 1963, 70f. Im gegenwärtigen Filmgeschäft sind die krisenbezogenen Aspekte dieser Sisyphusarbeit seit geraumer Zeit wieder stärker in Form der Inszenierung epischer Krisen- oder Untergangszenarien in den Vordergrund gerückt. Insbesondere im Bereich filmischer Großproduktionen ist ein allgemeiner Trend in Richtung katastrophische, dystopische oder apokalyptische Thematiken zu beobachten, der mit den polit-ökonomischen Verwerfungen des letzten Jahr-
zehnts korreliert. Hierfür spricht nicht nur die Wiederaufnahme oder Fortführung dystopischer Klassiker wie Mad Max, Alien oder Blade Runner, sondern auch eine ganze Reihe an Erstproduktionen im Bereich des Science-Fiction oder Disaster Films. Jan Distelmeyer, Katastrophe und Kapitalismus. Phantasien des Untergangs. Berlin 2014.Diese Vorstellungswelten können gewissermaßen als Projektionen einer äußeren Krise oder Bedrohung gelesen werden, als die Vorbereitung auf einen Untergang vielleicht sogar biblischen Ausmaßes, in dem aber die Externalisierung des Selbstkonflikts des Individuums aufrecht erhalten bleibt: Die in vielen Produktionen kreierten Katastrophenszenarien bleiben triviales Spektakel, an dem innerlich konfliktfreie HeldInnen teilnehmen.
Die »befriedigende« Funktion solcher Darstellungen verliert angesichts der verschärften Krisendynamiken, die in zunehmender Weise auf die psychische Konstitution des Individuums durchschlagen, ihre Wirkung. Entsprechend lässt sich eine Veränderung in der filmischen Ideologieproduktion beobachten, die sich exemplarisch am Werk des britischen Filmemachers Christopher Nolan darstellen lässt. Gegenwärtig gilt Nolan als einer der wenigen Regisseure, die für ihre Arbeit in Hollywood freie Hand haben, weil es ihm gelingt, das Blockbusterformat mit dem intellektuellen Anspruch des AutorInnenkinos zu verbinden. Dass Nolan mit dieser Gratwanderung Erfolg hat, ist angesichts der neun- bis zehnstelligen Beträge, die die letzten Filme einspielten, offenkundig, erklärt jedoch nicht die massenkulturelle Wirkung. Diese beruht, so unsere These, vor allem darauf, dass Nolans Visionen es vollbringen, den eingangs beschrieben Selbstkonflikt des krisengeschüttelten Individuums in den Mittelpunkt zu stellen, um ihn gerade in dieser deutlichen Konfrontation zu versöhnen. Nolans Werk ist dabei gekennzeichnet von einer spezifischen Dramatik der Abstraktion, die das gesellschaftliche Leiden des Individuums radikal darlegt, es aber in eine mystische Schicksalserzählung überführt, die in letzter Konsequenz nur ein weiteres Mal die Opferbereitschaft als einzigen Weg der individuellen Selbsterhaltung einfordert.
Diese Erzählperspektive ist für Nolans Gesamtwerk charakteristisch. Schon in seinen frühen Filmen, wie Memento (2001), Insomnia (2002) oder Prestige (2006), begegnen wir dem Schicksal vereinzelter ProtagonistInnen, die sich innerhalb einer feindlichen Umgebung zu bewähren haben und dabei mit paradoxen Situationen konfrontiert werden, in denen Selbstbehauptung nur um den Preis der Selbstaufgabe zu haben ist. Bewegen sich diese frühen Geschichten noch weitgehend im Rahmen begrenzter sozialräumlicher Milieus, werden sie in den jüngeren Produktionen zunehmend in epischer Breite ausgeführt: Spätestens mit der Batman Trilogie (2005?–?2012) entdeckt Nolan das Großformat sowie das Katastrophenszenario. Die Mechanismen seiner Dramatik als ein Angebot der katastrophalen Versöhnung sowie deren reaktionäre Konsequenzen lassen sich besonders deutlich am Beispiel der beiden letzten Werke Interstellar (2014) und Dunkirk (2017) herausarbeiten.
Interstellar und das Selbstopfer als Menschwerdung
Interstellar ist eine Fabel von metaphysischer Qualität, die nicht weniger als das Schicksal der Menschheit verhandelt. Der Film erzählt eine Geschichte der Hoffnung im Angesicht der unwiderruflichen Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen, deren Preis letztlich die bedingungslose Opferbereitschaft des Individuums ist. Er nimmt seinen Ausgang in einer äußerst spärlich gezeichneten dystopischen Welt aus Naturkatastrophen, failed states und Nahrungsmittelknappheit, inmitten derer sich der ehemalige Astronaut Cooper (gespielt von Matthew McConaughey) als Farmer verdingen und als Familienvater beweisen muss. Cooper wird kurzerhand von einer vermeintlich höheren Spezies über rätselhafte Gravitationsspuren zum Retter der Menschheit auserwählt, um ihr mit dem letzten NASA-Shuttle eine neue Heimat zu suchen. Seine Reise führt durch ein Wurmloch hindurch in eine neue Galaxie, um dort wahlweise die Evakuierung des verlorenen Planeten Erde oder aber die Ansiedlung einer neuen Kolonie auf Kosten des Untergangs der bisherigen Menschheit vorzubereiten.
Diese Mission zwischen Selbsterhaltung und Opfer verläuft entsprechend auf mindestens zwei Ebenen, die sich, wie für Nolans Erzählungen typisch, zunehmend überkreuzen. Einerseits wird das Schicksal der Menschheit als Spezies verhandelt, und zwar im Sinne jener wissenschaftlichen Fortschrittserzählung, die es den Menschen qua Fantasie ermöglicht, ihre vermeintlich objektiven Existenzbedingungen zu transzendieren – hier etwa durch das Verlassen des zerstörten Planeten der Galaxie. Andererseits wird das Schicksal des Individuums auseinandergesetzt, das seine Zugehörigkeit zu jener Menschheit unter Extrembedingungen testen lässt und die Menschheit rettet, indem es der Prüfung standhält. Nolan zeichnet das klassische christliche Bild des Erlösers und lässt es nicht zufällig von einer Kirchenorgel orchestrieren.
Der Auserkorene ist dabei entsprechend zwiegespalten. Er muss mittelmäßig und archetypisch sein als liebender Familienvater und Farmer, gerade darin aber von verborgener Einzigartigkeit, etwa als NASA-Shuttlepilot. Cooper ist also universelles Äquivalent und Fetisch, absolut austauschbar, aber von mystischer Besonderheit. Dies beweist er über die verschiedenen Stationen seiner Reise, die allesamt Prüfungen der Opferbereitschaft sind. Als erstes muss er seine Familie, allen voran seine geliebte Tochter Murphy, zurücklassen. Der Trost einer baldigen Rückkehr ist spätestens dann obsolet, als die Erkundung des ersten möglichen Planeten und dessen gravitationsbedingte Zeitdilatation ihn fast 24 Jahre kostet. Cooper sieht die verlorene Zeit in Form der gesammelten Videobotschaften an sich vorüberziehen. Die konkreten Menschen, die Objekte seiner Liebe, verschwinden in der Abstraktion, so wie er in den Weiten des Alls. Er wird die Früchte der Rettungsmission nicht ernten können, was sein Opfer für die Menschheit nur umso größer macht.
Aber noch nicht groß genug, denn, wie ihm Dr. Mann (gespielt von Matt Damon) auf einem weiteren Untersuchungsplaneten gesteht, war die Rettung aller existierenden Menschen nie angedacht, sondern es ging von Vornherein um das abstrakte Fortbestehen der Menschheit als Kolonie, zu dem sich Cooper bekennen muss. Es ist gewissermaßen die Reifeprüfung des Helden. Und zwar in direkter Abgrenzung zum versagenden Missionsleiter Dr. Mann, der Cooper und Co. unter falschem Vorwand anlockte, um dem unbewohnbaren Planeten zu entfliehen. Denn »es ist die Sehnsucht nach anderen Menschen, die uns zu Menschen macht«, rechtfertigt Mann seinen Mordversuch an Cooper, um das Shuttle zu kapern. Genau diese Sehnsucht muss Cooper im Folgenden überwinden, als letztes Opfer, indem er durch das Schwarze Loch Gargantua fliegt.
In diesem Sprung aus der Welt, ja der gesamten Galaxie, findet sich Cooper in einem vierdimensionalen Tesserakt wieder, der ihm eine Zeitreise erlaubt, um die Gravitationsspuren zur Berufung seiner Mission selbst zu legen. Denn es waren keine höheren Wesen, die ihn auserwählten, das Wurmloch platzierten etc., es war er selbst. Die transzendentale Selbsterkenntnis des Individuums, so spektakulär sie ausfällt, ist hier Spiritualismus in Reinform, denn die universelle Askese, das absolute Opfer, ermöglicht es Cooper schlussendlich, alles Verlorene und Geopferte zurückzuerhalten. Wie aus einem langen, dunklen Traum erwacht Cooper irgendwo und alles scheint sich zum Guten gewendet zu haben: Die Welt existiert neu, die Menschheit, seine Familie – und das alles in der banalsten Zukunftsvision, die man sich vorstellen kann. Die langweilige Kleinstadtatmosphäre, die für die utopische Sehnsucht herhalten muss, ist die bloße Wiederholung der Gegenwart.
Interstellar wird zur quasi-religiösen Heilserzählung, die nur vor dem Hintergrund der Abstraktion vom geschichtlichen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich ist, also der Verdinglichung der gesellschaftlichen Katastrophe als Schicksal, die dem Helden Frieden gewährt. Auch wenn die galaktische Reise zu dieser Selbsterkenntnis nicht weiter hätte sein können. Dabei gerät aus dem Blick, dass die Leere des Weltalls nicht im Gegensatz zur familiären Heimat steht: Die Eiswüste der Abstraktion und die bürgerlichen vier Wände sind die Elemente ein und desselben Zusammenhangs. Aber dieser Zusammenhang ist nur auf idealistisch verkitschte Art erkennbar, als mysteriöses Band, das allem zugrunde zu liegen scheint. Entsprechend kümmert sich niemand um irgendeine gesellschaftliche Ursache für die Zerstörung des Planeten Erde. Diese Ursache ist akzeptiert und der Aufruf lautet, auch alle weiteren Zumutungen zu akzeptieren, die auf dem unergründlichen Weg der Erlösung warten. Aus diesem ideologischen Kitt ist der Held gebaut, der nicht reflektiert, dass seine vollends verdinglichte Existenz genau die Kehrseite jener sich selbst zerstörenden Menschheit unter der Herrschaft des abstrakt Allgemeinen ist. Die dramatische Konsequenz daraus zeigt Nolan selbst, wenn er sich auf solch abstrakte Weise der realen Geschichte zuwendet, die zu nichts anderem als einer weiteren Erzählung des menschlichen Schicksals degradiert wird.
Dunkirk und die Selbsterhaltung als kollektive Bewährung
Dunkirk ist die Fortsetzung von Interstellar mit anderen Mitteln. Dies mag angesichts der Wahl des historischen Genres, dessen Erzähl- und Darstellungshorizont im strikten Gegensatz zur Science-Fiction steht, überraschen. Aber Nolan sucht zur Verarbeitung eines inhaltlichen Motivs eher ein passendes Genre, als dass er umgekehrt genretypische Fragestellungen bearbeitet. Mit Dunkirk wird der moderne Selbstkonflikt, die innere Zerrissenheit des Menschen als Einzel- wie Gattungswesen, damit erstmals auf realhistorisches Terrain überführt, ohne jedoch mit der meta-
physischen Dramatik zu brechen, die sich bereits bei Interstellar zur imaginären Bewältigung dieser Zerrissenheit bewährt hat.
Angesiedelt in der nordfranzösischen Stadt Dunkerque, welche 1940 im Zuge des deutschen Angriffs- und Eroberungskrieges in Westeuropa zum Schauplatz der Einkesselung weiter Teile der britischen und französischen Armee durch die deutsche Wehrmacht wurde, thematisiert der Film die verzweifelte Situation der am Strand Überlebenden. Weiterhin wird Einblick gegeben in die militärischen und zivilgesellschaftlichen Rettungsaktionen, die letztlich dazu geführt haben, dass mehr als 330.000 britische und französische Soldaten evakuiert werden konnten.
Als historischen Kontext wählt der Film somit eine militärische Katastrophe, die als geglückte Evakuierung jedoch zu einem entscheidenden Wendepunkt im (west-)alliierten Kampf gegen das nationalsozialistische Regime und seine faschistischen Verbündeten führte. Der eigentliche Gegenstand des Films ist hingegen viel beschränkter: Im Zentrum steht das unmittelbare Grauen, das die wartenden, kauernden, fliehenden und sterbenden Soldaten erlebten, einschließlich einer ganzen Reihe an moralischen Dilemmata und Fallstricke, die sich aus diesem Überlebenskampf ergaben. Wie in Interstellar werden diese traumatischen Erfahrungen lediglich abstrakt dargestellt und von ihren gesellschaft-
lichen wie zeithistorischen Entstehungsbedingungen weitgehend getrennt. Und so bleiben die maßgeblichen Handlungsorte – der Strand, der Ozean, der Luftraum – nichts weiter als Elemente eines hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos, der sich einzig in Richtung der britischen Insel öffnet, die den sehnsüchtig-pathetischen Kosenamen »home« erhält.
Ob der Film, der mit dem »Miracle of Dunkirk« einen zentralen Referenzpunkt im britischen Erinnerungsdiskurs thematisiert, als popkultureller Beitrag zur nationalistischen Einschwörung auf das Brexit-Debakel verstanden werden müsse, das wurde insbesondere im britischen Feuilleton hitzig diskutiert. Indes war man sich auch hier einig, dass der Film, selbst wenn man mit seinen spärlichen gegenwartspolitischen Bezügen nicht übereinstimmt, eine mitreißende Sogwirkung entfaltet, die sich gerade aus der kontextbefreiten Darstellung des Kriegsgeschehens selbst ergibt. Dies trifft sich mit Nolans eigener Bemerkung, dass ihn an der Filmgeschichte viel eher das abstrakte Vorhaben gereizt hat, menschliches Verhalten unter Existenzbedrohung erfahrbar zu machen: »Ich wusste, dass ich keinen Film machen wollte, der als altmodisch abgetan werden könnte, als etwas, das für das heutige Publikum nicht relevant ist. […] Ich wollte die Erfahrung der Charaktere mit ihnen zusammen durchleben. […] Es ist eine universelle Geschichte über den individuellen Überlebensdrang«.Christopher Nolan, Spirit of Survival. in: The Daily Telegraph vom 8. Juli 2017.
Es ist genau dieser transzendentale Gestus, aus dem sich die weit über den britischen Kontext hinausreichende Faszination für Dunkirk – mittlerweile eine der finanziell erfolgreichsten Filmproduktionen über den Zweiten Weltkrieg – erklären lässt. Einmal befreit vom geschichts- und gegenwartspolitischen Ballast, bietet Dunkirk dem Pub-
likum die Gelegenheit, sich von einer ganzen Reihe an individuellen Schicksalserzählungen mitreißen zu lassen, die zusammengehalten werden vom Imperativ des kollektiven Durchhaltens in einem diffusen Katastrophenszenario. Wir verfolgen etwa Soldaten bei dem nachvollziehbaren Versuch, sich auf ein Rettungsschiff zu schmuggeln, nur um zu erfahren, dass sie dadurch umso mehr in den Überlebenskampf verstrickt werden. Wir erleben in der Luft das Dilemma eines Kampfpiloten (gespielt von Tom Hardy), der in einer Situation drastischen Treibstoffmangels sein eigenes Leben riskiert, um die für den Erfolg der Gesamtmission ausschlaggebende Luftunterstützung fortzuführen.
Eine Fortsetzung von Interstellar ist Dunkirk also, weil sich die Grundparameter der Erzählung wieder am Spannungsverhältnis zwischen individuellem und kollektivem Überleben orientieren. Das Angebot zur Lösung des Spannungsverhältnisses ist hingegen leicht verschoben: Was dem Publikum abverlangt wird, ist nicht mehr der schmerzvolle Weg der Entbehrung, der letztlich mit der Wiederkehr des Entbehrten belohnt wird, sondern es ist das Ausharren in einem Zustand, der so chaotisch ist, dass zwischen Selbsterhaltung und Selbstopfer eigentlich nicht mehr zu unterscheiden ist. Hoffnung schrumpft hier zur paradoxen Durchhalteparole zusammen: Rettung ist nur in Sicht, wenn alle Betroffenen den unmenschlichen Zustand ertragen, in dem keine Rettung in Sicht ist. Dass dabei ein historisches Szenario gewählt wurde, im dem man sich des Rettungsmoments dennoch sicher sein kann, ist wiederum nicht zufällig. Nolan, den die Filmidee schon seit zwei Jahrzehnten umtreibt, hat ganz richtig kalkuliert, dass sich das zeitgenössische Massenpublikum auf eine solch aufreibende und energiezehrende Odyssee nur ungern einlässt, wenn das Versprechen auf einen tröstenden Ausklang ausbleibt.
Die Geschichten, die Dunkirk auf verschiedenen Ebenen ausbreitet, sind derart herzergreifend und erschütternd, weil sie in ihrer Unmittelbarkeit und Unbestimmtheit grundlegende moralische Dilemmata aufwerfen, welche an alle möglichen Alltags- und Krisenerfahrungen unter feindseligen gesellschaftlichen Umständen anschlussfähig sind. Die notwendige Bedingung hierfür ist, dass die dem Film zugrundeliegende Katastrophe aus dem geschichtlichen Kontinuum gerissen und der gewünschten Erzählperspektive angepasst wird. Spätestens hier offenbaren sich die fahrlässigen politischen Konsequenzen dieses instrumentellen Verhältnisses zur geschichtlichen Wirklichkeit, denn diese Darstellungsweise läuft unmittelbar auf die Ausblendung und Mystifizierung der NationalsozialistInnen hinaus, deren Truppen im gesamten Filmverlauf ein merkwürdig anonymisiertes Schattendasein führen. Einzig in einer der letzten Szenen erscheinen deutsche Wehrmachtssoldaten als schemenhafte Gestalten, deren Rolle ausgerechnet darauf reduziert wird, den eben genannten Kampfpiloten völkerrechtskonform gefangen zu nehmen. Noch gefährlicher als diese erinnerungspolitische Banalisierung der Täterperspektive ist hingegen die nebulöse Großerzählung vom Nationalsozialismus als Schicksalsschlag, der aus dem Nichts über die Protagonisten hereinzubrechen scheint und letztlich auf wundersame Weise abgeschüttelt werden kann. Das verunmöglicht jede Reflexion über die gesellschaftlich-historischen Bedingungen des nationalsozialistischen Grauens, das 1940 erst seinen Anfang nahm.
Happy Endzeit
Filmproduktion kann als ein kulturindustrielles System beschrieben werden, das sich als zu bearbeitenden Gegenstand eine komplex differenzierte und gleichzeitig stark begrenzte Bedürfnispalette schafft. »Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten«, schreiben Horkheimer und Adorno, »dient nur der umso lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ›level‹ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist«.Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. 18. Aufl., Frankfurt a.M. 2009, 131. In diesem verschachtelten Produktions- und Bedürfnissystem besetzt das nolansche Kino derzeit den Thron des pseudointellektuellen Blockbusters, der spätestens mit der Batman-Trilogie bestiegen wurde. Pseudointellektuell ist das nolansche Kino, weil es bestimmte Fragestellungen zur Fragilität der Moderne, die in der Tat einer gesellschaftskritischen Reflexion würdig wären, explizit aufwirft und zusätzlich in einer komplexen Handlungsstruktur verpackt, letztlich aber eine vorrangig affektive Bearbeitung dieser Fragestellungen anbietet. Um diesen Effekt zu erzeugen, reiht sich Nolan nicht nur in jene Arbeitsteilung ein, sondern subvertiert sie zu einem gewissen Grad. Insbesondere die Trennung zwischen seichten Konsumgütern des Unterhaltungskinos, deren Genuss in der Bestätigung und ideologischen Widerspiegelung besteht, und den anspruchsvollen Werken des Autoren-, Genre-, Independentkinos, deren Ziel im besten Falle die kritische Distanz in der Desidentifikation darstellt, wird im nolanschen Kino zurückgenommen. Dies zeigt sich einerseits dadurch, dass es dem nolanschen Kino durchaus gelingt, mehrere intellektuelle und künstlerische Bedürfnis- und Anspruchslevel gleichzeitig zu bedienen: Wer mag, kann sich auf anregende Diskussionen über »die großen Fragen« der menschlichen Existenz einlassen; oder man erfreut sich der Detektiv-
arbeit, die notwendig ist, um die trickreich verschlungenen Handlungsstränge zu entwirren; oder man belässt es dabei, sich von herzergreifenden Geschichten, epischen Bildwelten und fulminanten Actionsequenzen einfangen zu lassen. Andererseits grenzt Nolans Werk sich von der für das Unterhaltungskino charakteristischen lückenlosen Verdrängungsarbeit im Dienste der Bespaßung und Zerstreuung grundlegend ab. Denn was dem Publikum durchaus abverlangt wird, ist eine tiefgreifende Konfrontation mit einem diffusen Krisenbewusstsein. Dieses erhält sich letztlich so lange, wie die zerstreuten Einzelsubjekte den widersprüchlichen Zumutungen, individuellen Entbehrungen und Existenzängsten – mit denen sie objektiv konfrontiert sind – hilflos gegenüberstehen. Mehr als ein nachdenklicher Gestus wird daraus jedoch nicht erzeugt. Die inszenierte Konfrontation hat letztlich eine entschärfende Funktion: Der alleinige Zweck der hierbei erzeugten triebökonomischen Spannung besteht darin, zum Filmende wieder umso kraftvoller und befreiender abgeschüttelt werden zu können. Der unverstandene Konflikt wird einmal in seiner ganzen Tragik ausgelebt, um sich schlussendlich mit dem eigenen Schicksal versöhnen zu können. Die Möglichkeit zu einer solchen Versöhnung mit der Katastrophe liegt in deren Verdinglichung, der Abstraktion einer historisch konkreten Situation, die praktisch hergestellt wird, zur bloßen Wiederholung des immer gleichen menschlichen Schicksals in wechselnden Settings.
Der zentrale Selbstkonflikt des modernen Individuums wird auf eine Weise naturalisiert, dass der Ursprung, die gesellschaftliche Wirklichkeit, aus dem Blick gerät. Anstatt über die gesellschaftlich-historischen Entstehungsbedingungen aufzuklären, wird der Konflikt als unvermitteltes Erlebnis banalisiert und als abstrakte Allegorie überhöht. Nolans Filme bieten daher weitaus mehr als ein happy end; es sind Filme mit vermeintlich kathartischer Wirkung: Wir lernen, dass es vollkommen normal ist, in einer katastrophalen Welt zu leben, die es nur auszuhalten gilt, selbst wenn sie uns die größten Opfer abverlangt. Die folgenreiche Konsequenz ist die Verdrängung genau jener Momente, die einen reflektierten Ausbruch aus dem jeweils abstrakt geschilderten Katastrophenzustand ermöglichen würden: Bei Interstellar die utopische Hoffnung und bei Dunkirk die geschichtliche Erinnerung. Und damit befinden wir uns mitten in der Katastrophe der Gegenwart, die keine Hoffnung bereithält, weil sie ihre Geschichte nicht kennt.
Helge Petersen/Alex Struwe
Die Autoren sind politische Theoretiker und teilen das Interesse an materialistischer Ideologiekritik.