Integration über Judenhass?

Über den wachsenden Antisemitismus unter MigrantInnen

Am 9. November 2003 fand, wie bereits letztes Jahr, eine Gedenkkundgebung für die Opfer des Novemberpogroms und der Shoah in Wien statt, die ge-meinsam von antinationalen und antideutschen Linken und jüdischen Organisationen wie dem HaShomer HaZair, der Zionistischen Föderation Österreichs oder dem Forum gegen Antisemitismus organisiert worden war.

Während der Rede von Alex Friedmann, dem Gründer von Esra, einer Institution die psychotherapeutische und soziale Unterstützung für Überlebende der Shoah, aber auch für andere Opfer von Folter, Terror und Unterdrückung anbietet, stürmten von einer Seitengasse kommend plötzlich AktivistInnen des Arabischen Palästina Clubs und der Sedunia auf die Kundgebung los und riefen mittels Megaphonen einschlägige Parolen wie »Israel, USA, Menschenrechte Hahaha!« oder »USA – internationale Völkermordzentrale«.
 

Ein europäisches Phänomen

Obwohl dieser Angriff letztlich von entschlossenen TeilnehmerInnen der Gedenkkundgebung abgewehrt werden konnte, war damit erstmals in Österreich eine Gedenkkundgebung jüdischer und nichtjüdischer Organisationen angegriffen worden. Zu den Angreifern zählten Personen, die – aus der klassisch antiimperialistischen Wiener Linken kommend – mittlerweile zum Islam konvertiert sind und unter dem Namen Sedunia eine krude Mischung aus emotionalisierenden linken Versatzstücken und islamistischer Propaganda vertreten. Zudem beteiligten sich auch palästinensische ImmigrantInnen des der PFLP nahestehenden Arabischen Palästinaclubs an der Aktion.
Dieser Angriff stellte jedoch nur den vorläufigen Höhepunkt einer Auseinandersetzung dar, die sich primär um den Antisemitismus österreichischer Linker dreht, die aber auch jenen Antisemitismus zunehmend offenlegt, der sich unter ImmigrantInnen in Europa breit gemacht hat. Bereits 1999 waren im antirassistischen Bündnis »Für eine Welt ohne Rassismus«, das sich nach der Tötung von Marcus Omofuma gebildet hatte und in dem anfänglich fast alle linken und antirassistischen Initiativen mit verschiedenen MigrantInnenorganisationen zusammenarbeiteten, zu Auseinandersetzungen um den Antisemitismus und Antizionismus einzelner ProtagonistInnen des Bündnisses gekommen. Letztlich verließen einige KritikerInnen dieses Antisemitismus – darunter der Autor dieser Zeilen – das Bündnis. Wenig später verschwanden auch die wichtigsten VertreterInnen dieses Antisemitismus von der antirassistischen Aktionsplattform. Zu ähnlichen Auseinandersetzungen kam es immer wieder im Zuge von Demonstrationen und Aktionen, wobei sich die Spaltungen hier v.a. zwischen klassisch linken Organisationen abspielten, die kaum oder gar keine ImmigrantInnen in ihren Reihe zählten.
Ähnliche Konflikte wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland ausgetragen, wo sich Spaltungslinien sowohl innerhalb der »deutschen« Linken, als auch zwischen MigrantInnenorganisationen zeigten. So thematisierten auch einige Gruppen aus dem zuletzt benannten Spektrum den Antisemitismus in MigrantInnenorganisationen. International wurde jedoch dem Antisemitismus unter Jugendlichen, deren Familien teilweise schon vor Jahrzehnten aus dem Maghreb nach Frankreich eingewandert sind, die größte Aufmerksamkeit geschenkt, da deren Antisemitismus teilweise zu physischen Angriffen und Anschlägen auf Jüdinnen und Juden, jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Lokale in Frankreich führte. Allerdings kam es durch die Offensichtlichkeit des Antisemitismus in Frankreich auch vermehrt zu gemeinsamen Bemühungen gemäßigter islamischer Institutionen und jüdischer Gemeinden, die sich für ein gegenseitiges Verständnis zwischen marginalisierten Jugendlichen mit Migrations-Hintergrund und Jüdinnen und Juden, die großteils selbst aus dem Maghreb stammen, einsetzten.
 

Quellen des Hasses

Der Antisemitismus von MigrantInnen speist sich insbesondere in den Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches aus unterschiedlichen Quellen, die zwar miteinander zu tun haben, aber zugleich zu einem neuartigen Gemenge unterschiedlicher antisemitischer Traditionslinien vermischt werden.
Einerseits ist hier der traditionelle Antisemitismus der deutschen und österreichischen Mehrheitsgesellschaft zu nennen. Ein zwar öffentlich nach 1945 teilweise tabuisierter, aber privat und gesellschaftlich weiter tradierter und öffentlich als verkürzter »Antikapitalismus« oder Antizionismus codierter Antisemitismus, stellt letztlich auch eine Möglichkeit der Integration von ImmigrantInnen dar. Nichts verbindet mehr als ein gemeinsames Ressentiment. Wenn gefordert wird, MigrantInnen hätten sich einer »deutschen Leitkultur« anzupassen, beinhaltet dies letztlich auch die Aufforderung, den deutschen Antisemitismus zu übernehmen.
Wie erfolgreich diese Integrationsstrategie verlaufen kann, zeigt auch die neue Liebe der Deutschen für den Islam. War in den siebziger- und achtziger Jahren der Islam in Deutschland und Österreich noch eines der wichtigsten Feindbilder, so entwickelte sich mit der Zunahme des Antisemitismus in islamischen Gesellschaften, insbesondere mit den Anschlägen von Bin Ladens al-Qaida, dessen internationale Organisation sich eigentlich »Internationale Front für den Djihad gegen Juden und Kreuzzügler« nennt, ein zunehmendes Interesse und Verständnis für den Islam. Nicht dass ein solches Interesse an sich schon antisemitisch und abzulehnen wäre, es scheint jedoch, dass sich dieses Interesse nicht trotz, sondern gerade wegen des zunehmend mörderischen Antisemitismus militanter Islamisten von der Hamas bis zur al-Qaida vergrößert. Als Indiz dafür kann auch die mediale Rezeption des Nahostkonfliktes gelten. Zunächst waren »Palästinenser« zu einem Zeitpunkt, in dem palästinensische Organisationen zwar einzelne sehr blutige Anschläge gegen Zivilisten verübten, aber noch lange nicht mit massenhaften Selbstmordanschlägen gegen Jüdinnen und Juden losschlugen, sondern ihre Anschläge noch irgendwie in einen Kontext eines »linken« Antiimperialismus stellten, geradezu als Synonym für grausame Terroristen in den deutschen und österreichischen Medien präsent. Dieses Bild änderte sich jedoch, als der Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft zum Massenphänomen wurde, die Hamas zunehmend an Einfluss gewann und selbst ehemals säkulare Organisationen wie die al-Fatah oder die PFLP sich in Form und Inhalt ihrer Anschläge zunehmend antisemitischen Islamisten anglichen. Je ähnlicher der islamistische Antisemitismus dem deutschen wurde, desto mehr konnten IslamistInnen auf deutsches Verständnis hoffen.
Die zweite Traditionslinie des Antisemitismus unter MigrantInnen ist neben dem deutschen Antisemitismus der Antisemitismus ihrer »Herkunftsländer«. Insbesondere in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein moderner Antisemitismus gezeigt, der sich einerseits durch die ökonomische, politische und soziale Situation eines peripheren Kapitalismus und andererseits durch den Import moderner antisemitischer Ideen aus Europa, insbesondere aus Deutschland, entwickeln konnte. Bereits über den Mufti von Jerusalem Haj Amin al-Husseini, der als einer der wichtigsten sunnitischen Geistlichen während der NS-Zeit mit Deutschland kollaborierte und den Nazis sogar behilflich war, muslimische SS-Divisionen in Bosnien und Albanien aufzubauen, kam es zur unmittelbaren Übernahme deutscher Ideologie durch arabische Organisationen. Die eng mit Amin al-Husseini zusammenarbeitende Muslim-Bruderschaft verband dabei ihren islamischen Integralismus zunehmend mit dem Antisemitismus der Nazis. Systematisiert wurde diese Verbindung allerdings erst in den sechziger Jahren durch Sayyid Qutb, der in seinem Werk »Unser Kampf mit den Juden« die Ideen der »Protokolle der Weisen von Zion« und anderer antisemitischer Schriften aus Europa mit einer islamischen Tradition verband. Seither ist der Kampf gegen Jüdinnen und Juden ein Element, das IslamistInnen aus verschiedensten islamischen Staaten, aber auch aus Europa, miteinander verbindet. Den jüngsten Höhepunkt dieses mörderischen Antisemitismus stellte der Anschlag auf zwei Synagogen in Istanbul, am Samstag den 15. November dar, bei dem 25 Menschen ums Leben kamen. Wenn selbst in der Türkei, in der mehrere zehntausend Jüdinnen und Juden bisher überwiegend unbehelligt leben konnten und sich deshalb im Gegensatz zu den meisten anderen islamischen Staaten in Istanbul, Izmir, Bursa und Ankara Gemeinden erhalten haben, solche Anschläge möglich sind, ist der Antisemitismus islamistischer Gruppen keineswegs mehr ein Randphänomen, sondern ein zentraler Programmpunkt dieser politischen Strömungen.
 

Das Ende der Toleranz

Aufgrund der größeren politischen Freiheiten in Europa konnten sich diese Gruppierungen teilweise gerade in Europa ungestört entwickeln, während sie in den autoritär regierten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens oft verfolgt und manchmal gegen die Linke instrumentalisiert wurden.
Auch in Deutschland sind mit Milli Görüs, dem Khalifenstaat Metin Kaplans, den Nurculuk, den Süleymancýlar oder den Nakshibandiya Gruppen des sunnitischen Integralismus aus der Türkei vertreten. Unter arabischen ImmigrantInnen sind jedoch besonders die sunnitischen Muslim-Brüder, die von Muslim-Brüdern gegründete Hamas und Vorfeldorganisationen der schiitischen Hisbollah aktiv. So unterschiedlich diese Gruppierungen in den konkreten Ausformungen ihres Integralismus sind, so eint sie doch ein antisemitisches Weltbild und eine zunehmende Thematisierung des Nahostkonfliktes, der immer mehr religiös aufgeladen wird und damit nicht mehr rational lösbar erscheint. Es kann wohl auch kaum als Zufall gewertet werden, dass die Ausführenden des Anschlags vom 11. September 2001 islamische ImmigrantInnen waren, die in Deutschland lebten und von hier aus ungestört ihren Massenmord planen konnten.
Der Kampf gegen Antisemitismus von MigrantInnen muss ebenso entschlossen geführt werden, wie der Kampf gegen jeden anderen Antisemitismus. Er darf dabei aber nicht in die Falle tappen, alle (islamischen) MigrantInnen pauschal des Antisemitismus zu verdächtigen und damit rassistisch zu werden und politische Phänomene zu kulturalisieren oder zu biologisieren. Im Gegenteil: Soll dieser Kampf erfolgreich sein, muss er gemeinsam mit jenen MigrantInnen geführt werden, die sich diesem Antisemitismus widersetzen, und er darf dabei auch nicht die Gesellschaft außer acht lassen, in der sich dieser Antisemitismus auf Sympathien, schweigende oder aktive Zustimmung berufen kann: die deutsche Gesellschaft.

Thomas Schmidinger
Politikwissenschafter und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Context XXI