In Unschuld gewaschene Hände

Über partikulare Interessen und universelle Werte in der Diskussion um internationale Interventionen

Der Geruch, die Geräusche? Ob die Frauen geschrien haben beim Verbrennen? Oder saßen sie nur stumm in den Flammen, selbstzufrieden, mit sich und der Welt im Reinen, sogar glücklich, weil sie ihrer ureigenen kulturellen Auffassung vom Weg, den eine treue Witwe mit dem verstorbenen Ehemann teilen sollte, so beredt bzw. schweigend beredt Ausdruck geben konnten. Vielleicht haben sich aber auch bloß die männlichen Verwandten beim Anblick so einer brennenden Witwe über ein größeres Erbe gefreut, zumindest in Bengalen, wo die Frauen auch volles Erbrecht besaßen und wo das Zeremoniell der rituellen Witwenverbrennung Anfang des 19. Jahrhunderts besonders virulent war.

Jedenfalls solange bis die koloniale Unterdrückungsmaschinerie zuschlug. Als sich eine Abordnung hinduistischer Würdenträger bei einem englischen General über die Missachtung ihres traditionellen Brauchtums und ihrer angestammten Kultur beschwerte – die Witwenverbrennung war gerade von der Besatzungsmacht verboten worden – bekam sie vom General zur Antwort: »Es ist euer Brauch Witwen zu verbrennen. Nun gut. Wir haben auch einen Brauch; wenn Männer Frauen verbrennen, legen wir eine Schlinge um ihren Hals und hängen sie auf. Ihr mögt euren Gebräuchen folgen – so wie wir auch.«

Das so prominente wie ungesicherte Zitat, es wird einem damaligen englischen Oberbefehlshaber in Indien, Sir Napier, zugeschrieben, diente in der Viktorianischen Ära zur moralischen Legitimation der englischen Herrschaft in Indien. Es verdeutlicht vermutlich in herausragender Weise die Missachtung der Kultur der »Anderen« durch westliche Arroganz und Gewaltandrohung. Außerdem ist es offensichtlich ein Zeugnis ungehemmter Heuchelei, haben doch womöglich Vorfahren des Generals selber nur hundertfünfzig, zweihundert Jahre zuvor auch Frauen verbrannt, diesmal als Hexen. Das ist doch das Mindeste, was man dazu anmerken muss, oder?

Ein Leben ohne Nase. Das Atmen? Man wird jedenfalls nichts mehr riechen können. Außerdem, da ist nur noch ein Loch in der Mitte des Gesichtes. Der Effekt der Verstümmelung ist derart, dass man zweimal, dreimal, viermal auf das Cover des Wochenmagazins Time von Ende Juli schaut. Oder man schaut lieber gar nicht mehr hin. Das Photo zeigt eine 18jährige Afghanin, verstümmelt von Taliban – die Ohren hat man ihr auch abgeschnitten –, weil sie ihren Ehemann verlassen hatte. Ihr Name ist Bibi Aisha und sie blickt direkt in die Kamera.

Der Chefredakteur des Magazins erklärt, man habe lange nachgedacht, ob man diese Porträtaufnahme bringen könne. »Das Bild ist machtvoll, schockierend und verstörend.« Ja, das ist es. Es verdeutlicht vermutlich zugleich in herausragender Weise die Missachtung der Kultur der »Anderen«. »What happens if we leave Afghanistan« »Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen?« steht als Schlagzeile auf diesem Titelbild. Es soll zur moralischen Legitimation der Stationierung westlicher Truppen in Afghanistan dienen. Der Subtext des Bildes spricht eindeutig von Gewaltandrohung, westliche Soldaten töten immerhin jeden Tag Talibankämpfer. Außerdem ist der Abdruck dieses Fotos offensichtlich ein weiteres Zeugnis ungehemmter Heuchelei, schließlich gibt es im Westen auch Sexismus. Das ist doch das Mindeste, was man dazu anmerken muss, oder?

Man sollte sich keiner Illusion hingeben; das koloniale Zitat des 19. Jahrhunderts funktioniert in seiner Eingängigkeit genauso wie das Titelbild aus dem Jahr 2010. Es offeriert strukturell dieselbe Annahme. Und die besagt, dass es universale Werte gibt, für deren Durchsetzung man notfalls auch bereit sein sollte, Gewalt anzuwenden. Die Durchsetzung dieser Werte ist ein Grund für die eigene Anwesenheit, dort, wo sie nicht gelten. Die Geltendmachung kultureller wie politischer Eigenheit und Souveränität andererseits darf angesichts gravierender Verletzungen besagter Werte keine Rolle spielen.

Man meint schon das vorauseilende Schulterzucken von allgegenwärtigen »Kritikern« westlicher Interventionen zu sehen; vorgeschoben seien solche Sachen doch. Da gehe es um ganz anderes, letztlich nur um Profit, und wem denn überhaupt der Krieg in XYZ »in Wahrheit« nütze usw. Alles mag man durchdiskutieren, nur diese eine simple, vielleicht allzu naive Frage will man partout nicht wahrnehmen: Und wie hältst Du es persönlich mit verbrennenden Witwen und abgeschnittenen Nasen? Gibt es nun Gründe, so etwas zu akzeptieren oder nicht?

Reaktionen auf den Abdruck des Bildes sprachen von »moralischer Erpressung«, Kommentare wiesen umgehend auf den Skandal hin, dass die Nato Streubomben einsetze, »differenzieren« müsse man, war zu hören. Die betroffene junge afghanische Frau wiederum sagte Reportern der New York Times, sie wisse nicht, ob der Abdruck ihres Fotos anderen Frauen helfe, sie wolle eigentlich nur ihre Nase zurück haben.

Ewige Aporien?

Wo ist er denn nun, der gute Krieg des Imperiums, der gerechte Krieg ohne unschuldige Opfer? Und wo ist er, der antiimperialistische Befreiungskampf ohne Folterleichen in Geheimdienstkellern?

Oder anders gesagt, vielleicht war ja auch die Deklaration der UN-Menschenrechtscharta 1948 bereits ein grundsätzlicher Fehler. Das hätte Edmund Burke jedenfalls bestimmt so gefunden, jener beharrliche zeitgenössische Kritiker der Revolution in Frankreich. Der Protokonservative hat ein beachtenswertes Argument gegen die Erklärung der Menschenrechte vorgebracht; für ihn waren das nichts als leere Versprechungen, nirgendwo einklagbar, allein die verbrieften, historisch gewachsenen Rechte als jeweiliger Staatsbürger schienen ihm von tatsächlichem Belang, nicht das universelle überall und damit nirgendwo. Burke hatte es da als Engländer seit der Magna Charta allerdings etwas besser als die Europäer auf dem Kontinent.

Den heutigen Verächtern der Menschenrechte geht es dagegen durchaus ums große Ganze. Und das ist so groß, dass selbst Universalien ihm gegenüber als partikular erscheinen müssen. Der Kampf gegen den »großen Satan« (von Ahmadinejad & Freunden), auch gerne »Pentagon« (Eric Hobsbawm) oder »die Mächtigen« (Immanuel Wallerstein) genannt, duldet keine Ablenkung. Dieser Kampf ist so umfassend und menschheitsbestimmend, dass alles andere hinter ihn zurückfällt, zuallererst die einzelnen Menschen selber. Im Narrativ vom antiimperialistischen Kampf gegen das Imperium gilt die Behauptung universeller Menschenrechte lediglich als Propagandatrick des »Westens«.

Vom »Menschenrechtsimperialismus« hat der Historiker Eric Hobsbawm 2003 nach dem dritten Golfkrieg abfällig gesprochen. Er wollte damit vor einer speziellen Spezies von Menschen warnen, in der entsprechenden Terminologie von vor fünfzig, sechzig Jahre hätte man sie wohl Renegaten geheißen: »Gefährlicher sind die Menschen, die die Ideologie des Pentagon verabscheuen, aber die US-Einsätze unterstützen, weil diese im Verlauf einige lokale und regionale Ungerechtigkeiten abschaffen.« Eric Hobsbawm, After Winnig the War. The Empire Expands Wider and Still Wider, in: counterpunch. Juni 2003. http://www.counterpunch.org/hobsbawm06112003.html (hier, wie im Folgenden: Übersetzung der Redaktion).

Ja, um alles kann man sich angesichts dieses großen Ganzen auch als marxistischer Großmeister nicht kümmern. Und was sind schon ein paar hunderttausend Tote hier und da, was sind Massengräber und Leichenfelder, Folterzentren und drangsalierte Bevölkerungen? Es sind »lokale und regionale Ungerechtigkeiten«. Oder konkret gesagt: Angesichts des großen Kampfes, um den es doch eigentlich geht, sind sie gar nichts.

Humanitäre Begründungen für Interventionen vermag der gestandene Antiimperialist gebetsmühlenhaft immer nur als dasselbe erkennen: als Vorwand. Eine differenziertere Skala steht hier vermutlich aus mentapolitischen Gründen einfach nicht zur Verfügung. Noch einmal Hobsbawm: »Die Abschaffung des Sklavenhandels wurde benutzt, um die britische Seemacht zu rechtfertigen. So wie Menschenrechte heute häufig benutzt werden, um die militärische Macht der USA zu rechtfertigen.« Ebd. Man darf wohl fragen, ob es den Adepten dieser Argumentation wirklich lieber gewesen wäre, die Sklavenschiffe wären noch hundert Jahre weiter gefahren, als dass dieser hinterhältige PR-Coup der Imperialisten geklappt hätte?

Immerhin scheint es Fortschritte zu geben. Etappensiege beim Kampf gegen das Imperium und gegen die »westliche Arroganz«. Heutzutage, wo schon jedes kritisch erzogene Kind weiß, dass der Krieg in Afghanistan irgendwie böse ist, und, dass sich auch im Irak besser nie etwas geändert hätte, darf der Außenminister der »Islamischen Republik Iran« wie im August 2010 gut gelaunt verkünden, der Westen verhalte sich in Sachen der Menschenrechte den islamischen Ländern gegenüber nicht länger »herausfordernd« sondern defensiv. Wer immer das als ermutigende, positive Nachricht empfinden mag, aus welchen Gründen auch immer; er sollte so redlich sein, sich der Tatsache zu stellen, dass das für den Talibankämpfer, der seiner eigenen zwangsverheirateten Frau die Nase abgeschnitten hat, eine ebenso gute Nachricht ist, wie für einen verbeamteten Profivergewaltiger in den Gefängnissen der Islamischen Republik Iran.

Die Menschenrechte hatten allerdings einst auch ihren Wert für den Kampf gegen das Imperium. Das galt zwar nicht für Solschenyzin und den Gulag, davon wollte man als Linker im besseren Fall einfach nichts wissen und im Schlechteren hat man es als Lüge abgetan – aber gegen die Handlanger des Imperiums, die »Kompradoren-Bourgeoisie«, konnte man sie schon in Stellung bringen. Doch seit das Modell der rechten Militärdiktaturen mit dem Ende des Kalten Krieges ausgelaufen ist, stehen die Menschenrechte unter dem Generalverdacht, sie existierten eigentlich nur zu dem alleinigen Propagandazweck, um mit ihrem unverschämten universalen Anspruch in vielen Details das Antlitz islamisch geprägter Gesellschaften wie auch die übergebliebenen Speerspitzen des antiimperialistischen Kampfes nun um so unangenehmer aussehen zu lassen. Früher war nur Pinochet hässlich, Castro sah agil aus. Jetzt ist Castro auch nur noch ein bereits zu Lebzeiten mumifizierter Folterchef. Das Versprechen einer himmlischen Zukunft sieht anders aus, und niemand tut nunmehr so, als glaube er noch an diese Zukunft. Die große Befreiungserzählung ist ausgelaugt.

Und so unattraktiv wie die einstigen revolutionären Heroen sind erst Recht ihre Nachfolger in der Rolle des David vs. Goliath. Nicht mehr »befreite Gebiete« und real existierende Sozialismen verkörpern heute im globalen Maßstab die Antipoden des »Westens«, sondern Islamische Staaten und islamistische Bewegungen. Die Sehnsüchte der Metropolenlinken müssen sich nun an Zustände und Vorstellungen haften, die früher einmal »kritischen« Linken umstandslos als inakzeptabel, abscheulich, oder jedenfalls bizarr aufgefallen wären. Und so wird schön- und weggeredet, wobei trotzdem alle nicht nur ahnen, sondern es längst wissen, dass nicht einmal mehr ein mageres Versprechen auf Emanzipation oder Befreiung hier gilt. Es bleibt der doch sehr starke Eindruck von Lustlosigkeit und Verbissenheit. Und so lustlos wie verbissen hat man auch den neuen Glaubenssatz auswendig gelernt, dass Kultur und Religion – die institutionalisierte Revolution hat sich längst dazwischen eingereiht – als Invarianten zu betrachten sind. Variabel erscheinen plötzlich die Menschenrechte. Sogar speziell »islamische« soll es schon geben, und wen wundert es, dass sie nicht ganz so umfassend wie die anderen, die universalen, sind.

Im Gegensatz zu dem kulturellen Relativieren der Enthusiasten einer diskursiven Realitätsauflösung – die endlich herausgefunden haben, dass nicht das Ding an sich, sondern allein der Blick darauf entscheidend sei –, haben es die letzten traditionellen Verfechter des antiimperialen Kampfes etwas schwieriger mit dem Liebgewinnen des Partikularen. Ihr eigener Anspruch war ja ursprünglich auch ein universeller. Statt also universalistische Werte gleich als rein eurozentristisch, kolonialistisch und sowieso absurd nachweisen zu können, müssen sie um die Begriffe herumwürgen; so fordert Immanuel Wallerstein, der Erfinder des »Weltsystems«, zur Überwindung des »europäischen Universalismus – diese[r] letzten widersinnige[n] Rechtfertigung der bestehenden Weltordnung« einen »universalen Universalismus«. Und der klingt so: »Wir müssen unsere Partikularismen verallgemeinern und gleichzeitig unsere Universalien partikularisieren, in einer Art ständigem, dialektischem Austausch, der es uns erlaubt, neue Synthesen zu finden, die dann natürlich unmittelbar in Frage gestellt werden. Das ist keine einfache Angelegenheit.« Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der anderen: europäischer Universalismus, Berlin 2007. Nein, danach hört es sich wirklich nicht an.

Hilflos mag man das finden, verkrampft oder sogar verlogen. Was hier politisch überhaupt noch gewollt wird mit der zwanghaften Denunzierung eines »europäischen Universalismus«, wäre zu fragen. Nicht zuletzt angesichts von Herrschern wie Hugo Chavez, Mahmoud Ahmadinejad, Kim Il Sung der soundsovielte oder Castro II., die sich samt und sonders aufeinander beziehen und unisono behaupten, so etwas wie »Sozialismus«, »Antiimperialismus« und »Befreiung« zu betreiben, während sie auf Menschenleibern herumtrampeln, dass die Knochen krachen (oder das Knochenkrachen zumindest opernhaft aufführen wie Chavez).

Steht dahinter noch ein Ziel? Was soll denn auf den perfiden »europäischen Universalismus« folgen? Eine bessere Welt? Und woher soll die kommen? Doch nicht aus den Gewehrläufen der Hamas? Es wird wohl eigentlich gar nichts mehr gewollt, das ist die ganze Wahrheit. Moralische Abgebrühtheit und Zynismus haben die patentierten Weltbefreiungspläne von früher ersetzt. Alle halten zuletzt nur noch Splitter der ehemals großen Theorien in der Hand, die aber nur noch dazu taugen, ein Solidaritätsticket gen Gaza zu lösen.

Aber in einem sind die Befürworter des Partikularismus im Grunde nur konsequent; sie wollen, wo die universale Behauptung der Menschrechte für die Menschen ohnehin nicht effektiv einklagbar ist, sie auch noch dieses Anspruches berauben. Doch darüber sollten sich die Menschen nicht grämen, denn es zeigt sich als wissenschaftlich erwiesen, dass sie das als ihre Kultur begreifen müssen. Anders gesagt: als ihr Schicksal. Auf nichts anderes läuft es hinaus. Der eine hat Glück, der andere hat Kultur. Der eine wird von Diskursen auseinandergenommen, der andere von Sittenwächtern und Konsorten.

Edmund Burke jedenfalls, der das mit den Menschenrechten ebenfalls sehr dubios fand, wenn auch aus einer ganz anderen Motivation heraus, hätte sich vom UN-Menschenrechtsrat bestätigt gefühlt. Dort herrscht womöglich bereits so eine Art universaler Universalismus nach Wallerstein, jedenfalls beschäftigt man sich dort sehr intensiv mit speziellen Fragen des Nahen Ostens und mit vielen anderen Fragen überhaupt nicht. Das hat allerdings einen plausiblen Grund; Menschen in Gaza zum Beispiel sind für den Kampf gegen den Imperialismus einfach wichtiger als Menschen in Darfur. Rein partikular-pragmatisch gesehen.

Ach ja, und außerdem: Gute, gerechte Krieg des Imperiums ohne unschuldige Opfer gibt es genauso wenig wie Keller von antiimperialistischen Präsidentenpalästen ohne Folterleichen.

Der Iran. Endlich ein klarer Fall?

Da hat sie sich wieder einmal unverblümt gezeigt, die hässliche Fratze des Imperialismus. Der Tagesspiegel notiert atemlos mit: »Für den französischen Außenminister Bernard Kouchner ist der Fall ›ein Verstoß gegen das universale Gewissen‹. Sein britischer Amtskollege William Hague nannte das Urteil eine ›mittelalterliche Bestrafung‹, die in der ganzen Welt ›Abscheu und Entsetzen‹ hervorrufen werde. US-Außenministerin Hillary Clinton protestierte durch ihren Sprecher gegen diesen ›barbarischen und widerlichen Akt‹.«

Barbarisch, widerlich, mittelalterlich, so wird General Napier im 19. Jahrhundert auch über den Kult der Witwenverbrennungen gedacht haben. Beschämend werden es viele finden, dass sich im Denken geschweige denn in den Worten westlicher Politiker den »Anderen« gegenüber so wenig geändert hat. Immer noch derselbe Hochmut.

Wo es doch bloß darum geht, dass eine iranische Frau, Sakineh Mohammadi-Ashtiani, wegen außerehelicher Beziehungen zum Tod durch Steinigung verurteilt worden ist. Und das ist nun einmal nach der Gesetzeslage der »Islamischen Republik Iran« durchaus möglich. Der hochmoralische Präsident Brasiliens, Lula Da Silva, hat sich nach einigem Druck angeboten, Sakineh Mohammadi-Ashtiani aufzunehmen, schließlich sucht er seit geraumer Zeit ganz freiwillig die Nähe Teherans. Die Ablehnung der Offerte durch das iranische Regime trug er stoisch: »Jedes Land hat seine Gesetze und Religionen. Und wir müssen lernen diese zu respektieren, ob wir mit ihnen einverstanden sind oder nicht.« Nasser Karimi, Iran: Brazil asylum unlikely in adultery case. Associated press release, http://www.msnbc.msn.com/id/38533839/ns/world_news-mideastn_africa/ 3.8.2010. Da Silva demonstriert damit eindrucksvoll, dass es für ihn kein »Wir« und »die Anderen« gibt. Respekt sollte man haben, das ist wohl tatsächlich eine Antwort, Respekt gegenüber dem Steiniger. Hauptsache Respekt.

Für beharrliche Universalisten zeigte sich an den Äußerungen der westlichen Politiker ebenfalls etwas Erschreckendes: Hätte man Sakineh Mohammadi-Ashtiani schnell einfach aufgehängt, kein Außenministerium hätte sich dazu geäußert. Das passiert da schließlich andauernd. Steinigungen jedoch, man sollte fair sein, sind auch in Teheran selten.

Dramatisches ist jedenfalls in Persien geschehen. Die Vorgänge dort seit den Wahlen vom Juni 2009 waren erschütternd, nicht zuletzt für die besonders selbstkritischen westlichen Menschen. Wenn trotz des ganzen Kulturverständnisses, das man in postkolonialer Fürsorge aufgebracht hat, der Fürsorgezögling so gar nicht den eigenen Erwartungen entsprechen mag: schon bitter.

Zu deutlich haben die Iraner gemacht, dass sie eben nicht länger Verfügungsmasse für verkrachte Führer sein wollen – und damit genauso wenig Verfügungsmasse für die Projektionen westlicher Westkritiker. Und Israel- oder Amerikaflaggen will man auch nicht mehr in Teheran verbrennen, wie das dreißig Jahre lang fleißig eingeübt worden ist. Womöglich ist die planmäßige Konditionierbarkeit des Menschen eben doch begrenzt. Auch das war eine wunderbare Botschaft aus den Straßen Teherans.

Diese heterogenen iranischen Demonstrationsmassen haben aus unterschiedlichsten sozialen Gruppen bestanden, sehr stark von Jugend und von Frauen geprägt. Eine eindeutige Programmatik haben und hatten sie nicht, auch kein oppositionelles Zentrum. Die Galionsfiguren der Bewegung selbst stammen aus dem Establishment, sie fordern Reformen und bekennen sich grundsätzlich zu den Werten der Islamischen Republik Iran. Aber hier geht es nicht um persönliche Integrität. Wenn sie nicht selbst aus dem Establishment stammten, könnten diese Figuren nicht die Funktion erfüllen, die sie objektiv erfüllen. Eine Funktion voller Sprengkraft. Dass diese Leute, wenn sie denn jemals in die Lage kommen, Reformen durchzuführen, diese im Rahmen einer »Islamischen Republik« halten können, die auch nur annähernd der heutigen gleicht (außer vielleicht dem Namen nach), ist mehr als zweifelhaft.

Wenn man sagt, es gebe bei den Forderungen der Iraner keine eindeutige Programmatik, dann trifft das bisher auf konkret Politisches zu; in einem allerdings waren die Iraner von Anfang an sehr deutlich: Sie haben sich auf westliche Erfindungen wie Pressefreiheit, Menschenrechte, Freie Wahlen berufen, und sie klangen dabei so, als wären das Dinge, die ihnen zukämen, weil sie sie durchaus für universelle Errungenschaften hielten.

Betretenes Stillschweigen hat dabei im selbstkritischen Westen die deutlich erkennbare Hinwendung der jungen Iraner zu konsumistisch-westlichen Attributen wie Lippenstift, engen Hosen oder Discomusik hervorgerufen. Wer noch einen Funken Lebendigkeit in sich gefühlt hat, der fühlte sich zwar zu den iranischen Demonstranten hingezogen, aber schnell hat man auch abwägend den Kopf hin- und herbewegt. Das seien eben ausschließlich die städtischen Mittelschichten, mithin überhaupt die Reichen, die da auf die Straße gingen (was nicht stimmt), dagegen müsse man die Popularität des Regimes bei den Armen und der Landbevölkerung in Rechnung stellen (was auch nicht stimmt). Abgesehen von den pathologischen Altfällen des klassischen Antiimperialismus war es meist eine subtile Denunzierung, die da stattfand, oft auch nur ausgedrückt in dem Schulterzucken, dass das ja alles doch nichts bringe.

Aber ist die Hoffnung auf einen Umbruch im Iran nicht nur eine weitere Projektion? Nur wofür? Die Geschehnisse im Iran offerieren tatsächlich eine starke Hoffnung, die nicht nur den Iran betrifft. Es ist die Hoffnung auf Entideologisierung. Selbstbefreiung der Menschen von Ideologien, die jahrzehntelang Unheil über die Region – und nicht nur diese – gebracht haben. Man mag einwenden, dass eine solche Aussage selbst wiederum hochrangig ideologisch sei. Es macht allerdings einen lebensweltlich fundamentalen Unterschied, ob ich einem Generationszusammenhang angehöre, der es mir nahelegt, dass ich mir morgens nach dem Aufwachen ein Stirnband anlege und Märtyrergesänge anstimme, oder ob es eher naheliegt, womöglich ähnlich fremdbestimmt, aufzustehen und mir dabei Stöpsel in die Ohren zu stecken, aus denen Discomusik dröhnt. Man mag den einen Zustand grundsätzlich so menschenverachtend finden wie den anderen, allerdings gab es auf der Linken wie der Rechten über Generationen hinweg einen Kult, der besagte, dass wahrhaft Erstrebenswertes überhaupt nur auf ersterem Wege zu erreichen sei.

Hin zu lichten Morgenröten

Freiheit ist kein relativer Wert, kein vergiftetes westliches Exportgut. Der Iran hat plötzlich deutlich gemacht, dass es nicht nur imperiale Propaganda sein kann, wenn das grässliche L-Wort wieder auf der Tagesordnung steht. Immer nur auf das Präfix Neo, wie einen Fetisch zu deuten, ignoriert, dass der Begriff des Liberalismus und seine Herkunft doch etwas umfassender ist. Liber ist lateinisch und heißt frei. Die »sogenannten« – und damit ja auch scheinbar sofort denunzierten – bürgerlichen Freiheiten mögen ein ambivalentes Glücksversprechen enthalten; allein sie enthalten ein solches. Alle Versuche im 20. Jahrhundert jedenfalls, diese humanistische Errungenschaft konsequent zu überspringen, haben sich, wenn nicht als massenmörderisch und desaströs, als stagnierend und staatspaternalistisch erwiesen.

Weitere Perspektiven für Emanzipation eröffnen sich auf zumindest minimalen Grundlagen von persönlicher, wirtschaftlicher und kultureller Freiheit. Auch nur ein Minimum davon bietet erst den Raum für Selbstorganisation. Und hier beginnt die Zukunft. Sie wird in unabhängigen Gewerkschaften liegen, in lokalen und regionalen Projekten, im Netz, das ermöglicht staatliche Propaganda zu überspringen. Es wird eine langwierige Arbeit sein. Nachdem die großen Erzählungen von der Befreiung verstummt sind, wird man die Menschen selbst wieder hören können.

Interventionen können diesen ersten minimalen Raum schaffen, in dem Menschen wieder – oder überhaupt erst – zu lernen vermögen, sich zu regen. Allein es bleibt immer ein Wagnis, es bleibt ambivalent und es gibt keine patentierten Gewissheiten. Und moralisch (jajaja) gibt es nie eine automatisch ableitbare Absolution. Und auch wenn die Hobbystrategen immer alles ganz genau wissen wollen – Afghanistan! Die Pipeline! –, scheint es doch wahrscheinlicher, dass sie zu oft eben gar nicht wissen, was sie überhaupt wollen, die Satane im Pentagon und anderswo. Und das wäre ihnen zuallererst vorzuwerfen.

Von Oliver M. Piecha. Der Autor ist Historiker und hat zuletzt im Verbrecherverlag das Buch »Verratene Freiheit« mitherausgegeben.