Beispielhaft ist laut Duden ein typischer Einzelfall, der eine bestimmte allgemeine Erscheinung oder einen bestimmten Vorgang erklären kann. Als beispiellos wird demgegenüber etwas Einzigartiges oder Unvergleichliches bezeichnet. Zum Adjektiv sprachlos hält der Duden eine ganze Reihe von Synonymen bereit: entgeistert, erstaunt, fassungslos, schockiert, überrascht, verblüfft, verdutzt, verwundert, konsterniert, perplex, platt, von den Socken, baff, geplättet.
Während in Dresden Prozesse gegen Nazis verschleppt werden, die Ermittlungsbehörden hingegen mit beträchtlichem Aufwand vor allem gegen Linke und Antifas ermitteln und diese mit drakonischen Strafen belegen, konnte im Freistaat über Jahre eine Terrorgruppe namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) unbehelligt gedeihen und von hier aus ihre Morde planen. In Sachsen scheint dies jedoch kein Grund zu sein, an den Direktiven der Landespolitik hinsichtlich Nazis und Antifaschist_innen etwas Grundlegendes zu ändern, im Gegenteil. Sprichwörtlich auf dem rechten Auge blind sind dabei nicht nur die politischen Direktiven der Landespolitik. Aus der verwalterischen Praxis lokaler Amtsstuben, aus Zeitungsbeiträgen, Gerichtsurteilen oder Statements von der Straße spricht vielmehr eine deutschnationale und konservativ-autoritäre gesellschaftliche Grundstimmung. Auch ihr wissenschaftliches Komplement, die Extremismustheorie, ist, wenn man so will, eine sächsische Hausmarke: Einer ihrer wichtigsten aktuellen Vertreter forscht und lehrt im Freistaate, und die sächsische Innenpolitik hat die Theorie allen voran konsequent in die politische Tat umgesetzt.
Angesichts der langen Liste einschlägiger Ereignisse in Sachsen wird die Frage zum Politikum, ob der Freistaat nun beispielhaft ist für die gesamte Republik oder ein beispielloser, gleichsam extremer Einzelfall. Wir sind jedenfalls immer wieder sprachlos und – Beispielcharakter hin oder her – widmen daher die Rubrik In Motion in dieser Ausgabe vollends Sachsen.
Dresden, 16. Januar 2013
Zu 22 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilte das Amtsgericht Dresden am 16. Januar den Angeklagten Tim H. Für das Gericht gilt es als erwiesen, dass er am 19. Dezember 2011 gemeinsam mit 500 Anderen eine Polizeiblockade durchbrochen hat, um in die Nähe des zeitgleich stattfindenden Nazi-Aufmarschs zu gelangen. Dass der Angeklagte diesen Durchbruch zudem mittels eines Megafons koordiniert haben soll, rechtfertigte nach Auffassung des Amtsrichters eine Verurteilung nach §125a Strafgesetzbuch (Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs).
Dabei beruht insbesondere die Identifizierung Tims als »Rädelsführer« auf mehr als fragwürdigen Beweisen. Während sich die Zeugen »an den Angeklagten im Konkreten nicht erinnern« konnten, ist das Gericht »allein aufgrund der Videoaufzeichnungen […] von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt« und führt zur Begründung an: »Er trug eine schwarze Jacke, welche bei einer Hausdurchsuchung […] vorgefunden und beschlagnahmt wurde.« Dass das Megafon nicht gefunden wurde, sei nicht entscheidungsrelevant. Dass hier ein politisches Exempel (siehe oben) statuiert werden soll, daran ließ das Gericht keinen Zweifel, hätten doch die »Auseinandersetzungen [am] 19.02.2011 […] für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung gesorgt [und] dem Freistaat Sachen politischen und wirtschaftlichen Schaden zugefügt«. Noch deutlicher fiel die mündliche Begründung aus: Die Einwohner von Dresden seien es leid, dass das Gedenken »von beiden Seiten, Rechten und Linken« ausgenutzt werde. Für die politische Einschätzung des Urteils ist auch bedeutsam, dass es von einem Schöffengericht unter Beisitz von Laienrichtern – sprich: braven Bürger_innen Dresdens – gefällt wurde.
In der untersten Instanz der Amtsgerichte sind solche Urteile mit politisch-pädagogischem Einschlag keine Seltenheit. Zumeist werden sie in der nächsthöheren Instanz kassiert. Allerdings ficht in diesem Fall nicht nur der Angeklagte sondern auch die Staatsanwaltschaft das Urteil an, ihr ist es zu milde ausgefallen. Der Fortgang des Prozesses dürfte mithin offen bleiben. Einerseits sorgte das Urteil, auch in unverdächtigeren Kreisen als der Linkspartei, für einige öffentliche Empörung. Andererseits ist die sächsische Gerichtsbarkeit für ihre Beratungsresistenz bei politischen Urteilen bekannt und dürfte sich von der Antifa-Einheitsfront, die hier von Wolfgang Thierse bis zum Spiegel reicht, wenig beeindrucken lassen. Wir drücken Tim die Daumen.
Dresden, 13. Februar 2013
400 Nazis, 3.000 Polizist_innen, 5.000 Gegendemonstrant_innen, 10.000 Menschen in der Kette um die Innenstadt, das ist die offizielle Zahlenbilanz des 13. Februars 2013 in Dresden. Die Nazis durften nicht laufen und alle anderen dürfen zufrieden sein. Die Antifa: »Das ist deutlich mehr als wir im Vorfeld erwartet haben und zeigt, dass eine breite Masse der Bevölkerung genug von Nazidemos in der Stadt hat und über Symbolpolitik hinaus aktiv sein will.« Innenminister Markus Ulbig: »Dass der Tag so friedlich blieb, ist auch ein Verdienst der vielen Beamten, die aus der ganzen Bundesrepublik hier Dienst taten. Der Tag war ein Erfolg für Dresden, für die Bürger dieser Stadt und ihre Gäste.« Oberbürgermeisterin Helma Orosz: »Es ist unerträglich, dass Rechtsextremisten aller Art versuchen, unser Gedenken an die Zerstörung unserer Stadt zu missbrauchen für ihre Hass- und Rachefeldzüge. Sie hatten in den vergangenen Jahren keine Chance, unser Dresden zu ihrem Symbol zu machen. Und die übergroße Mehrheit der Dresdnerinnen und Dresdner wird ihnen auch heute keine Chance dazu geben.« Wer nach Gründen sucht, trotzdem skeptisch zu bleiben, sollte weiterlesen.
Gedenken auf sächsisch
In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden entsteht eine weitere Gedenkstätte für die Opfer der Luftangriffe vom 13. und 14. Februar 1945. Bereits im Oktober 2012 hatten die Fraktionen von CDU, FDP und die so genannte Bürgerfraktion im Dresdener Stadtrat den Bau beschlossen, gegen die Stimmen von SPD, Grünen und der Linkspartei. Für die Gedenkstätte wird eine Seitenkapelle der 1945 beschädigten und später abgerissenen Sophienkirche wiedererrichtet. Der Dresdener Tradition folgend, ist auch hier im Konzept eine Differenzierung zwischen Täter_innen und Opfern nicht vorgesehen. Vielmehr soll die so genannte Busmannkapelle laut Beschlussfassung des Stadtrats ein Ort des »stillen und individuellen Gedenkens« an alle Toten der Luftangriffe sein. Ob es sich dabei um einen SS-Mann oder eine Jüdin handelt, ist den Initiator_innen ganz offensichtlich gleich. In der Beschlussfassung wird die Oberbürgermeisterin Dresdens beauftragt, »zur weiteren Finanzierung der Gedenkstätte Mittel aus dem Haushaltstitel ›Lokales Handlungsprogramm für Demokratie und Toleranz und gegen Extremismus der Landeshauptstadt Dresden (LHP)‹ zur Verfügung zu stellen.« Laut Selbstdarstellung ist das LHP dazu da, »demokratisches Handeln (…) gegen rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen vor Ort« zu unterstützen. Nach dem Willen der CDU sollen ferner Mittel aus dem Programm Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz (WOS) für Bau und Erhalt der Gedenkstätte beantragt werden, eben jenem Topf, aus dem bisher unter anderem die Arbeit des NDC Sachsen finanziert worden war (siehe unten).
Weltoffenes Sachsen
Eine der größten und prominentesten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Sachsen, das Netzwerk für Demokratie und Courage (NDC), verliert die letzte finanzielle Unterstützung durch die Landesregierung. Das sächsische Wirtschaftsministerium hat bereits vor einem Jahr die Unterstützung für das NDC vollständig eingestellt. Immerhin übernahm das Landesprogramm Weltoffenes Sachsen (WOS) für das Jahr 2012 noch einen beachtlichen Teil der Kosten. In 2013 fällt diese Förderung jedoch weg. Zwar wurden die Mittel für das Programm um rund eine Million Euro aufgestockt, gleichzeitig sollen zukünftig aus ihm aber auch Projekte der so genannten Jugendarbeit finanziert werden: von Katastrophenschutz, Wasserrettung, Kinderschutzorganisationen, Feuerwehren, Sportbünden bis hin zu religiösen Einrichtungen. Für das NDC bedeutet das im Vergleich zum Vorjahr 88.000 Euro weniger an Zuschüssen. In der Konsequenz muss das Leipziger Büro schließen und die Angestellten entlassen. Geld existiert nur noch für das Dresdner Büro. Das Büro im Chemnitz wird schon seit längerem allein über private Spenden finanziert.
Ministerpräsident Stanislaw Tillich hatte zuletzt Ende 2012 (also mit mindestens einem Jahrzehnt Verspätung) kundgetan, man wisse darum, dass die Neonazis »hinter einer bürgerlichen Fassade […] versuchen« würden, in den freiwilligen Feuerwehren und Sportvereinen des Freistaats »Fuß zu fassen«. Die Losung für den Umgang mit Sachsens evidentem Nazi-Problem hatte wesentlich früher und für den politischen Betrieb ungewöhnlich deutlich Innenminister Markus Ulbig ausgegeben: »Antifaschismus ist nicht die richtige Antwort.« Jenseits üblicher Effizienz- und Einsparrhetoriken liefern diese Äußerungen den Tenor für die politische Deutung des Vorgangs: Nachdem unter anderem das NDC die so genannte Extremismusklausel, wenn auch unter Protest, unterschrieben hatte, schafft sich Sachen gesinnungsmäßig zweifelhafte Träger nunmehr vom Hals, indem es sie zukünftig mit Sportvereinen und Kinderschutzorganisationen um die öffentlichen Mittel konkurrieren lässt. Das Ergebnis dieses Rennens ist absehbar. Und populärer als die vermeintlich linkslastigen Demokratiearbeiter_innen sind die Feuerwehrfeste allemal.
Roter Stern Leipzig
»So etwas geht nur in Sachsen«, titelte die tageszeitung am 24. Januar 2013. Dass es sich im folgenden Artikel um die Bagatellisierung von Nazis bei gleichzeitiger Verfolgung linker Antifaschist_innen handeln wird, lässt mittlerweile bereits eine solche Überschrift erwarten. Nach einem Fußballspiel der Altherrenmannschaft des Roten Stern Leipzigs (RSL) setzte sich ein Spieler der gegnerischen Mannschaft mit nacktem Oberkörper auf das Freigelände. Auf seinem Oberarm prangte ein Hakenkreuz und die Buchstaben W.P. (White Power). Der RSL-Spielerbetreuer Carsten G. zückte bei diesem Anblick die Kamera, machte ein Bild und stellte es auf die RSL-Teamseite, zu sehen: Das Gesicht des Spielers, der Oberarm, das Hakenkreuz und die Teamkollegen.
Einige Monate später wurde der Fall zum Politikum. Nach der Weigerung des RSL, gegen den genannten Nazi Mike L. beim Rückspiel anzutreten, wurde der Leipziger Fußballverband aktiv und leitete die Internetseite mit L.s Konterfei an die Staatsanwaltschaft weiter, die daraufhin ein Strafverfahren gegen diesen einleitete. Mike L. reagierte gereizt und erstattete seinerseits Anzeige gegen den RSL-Spielerbetreuer. Soweit, so normal. Doch nun beginnt das typisch sächsische Spiel: Die Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren gegen Mike L. ein, da nicht zu erkennen gewesen sei, dass es sich bei dem Sportplatz um ein öffentliches Gelände handelte. Das Zeigen von Hakenkreuzen im nichtöffentlichen Raum (also Fußballplätze, auf denen gleichzeitig Ligaspiele stattfinden) ist in Deutschland legitim. Gleichzeitig wurde Carsten G. mit einer Geldstrafe belegt. Begründung: Die öffentliche Darstellung verfassungsfeindlicher Symbole auf der Internetseite und Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Nazis Mike L. Dass diese Verfahrensweise haarsträubend ist, ging der Staatsanwaltschaft erst dann auf, als Mitglieder der RSL-Altherrenmannschaft durch Zeugenaussagen auf die weitere Verfolgung Mike L.s drängten und es Proteste in verschiedenen Presseorganen hagelte. Nun findet diese sächsische Petitesse vielleicht doch einen eher unsächsischen Abschluss – mit der Verurteilung des Nazis.
Von Sachsen in die Welt
Das NSU-Desaster, das haben sich die sächsischen Verfassungsschützer_innen geschworen, soll sich nicht wiederholen. Folglich wird das Problem jetzt an der Wurzel gepackt: der Extremismus als solcher und überhaupt. Im Grundkurs »Extremismusbekämpfung« lernt man bereits: Die Musik der Jugendlichen ist das Einfallstor in die Gewalt. Also haben sich die sächsischen Hüter_innen von Recht und Ordnung nach dem Skandal um die NSU-Pannenserie auf die Suche gemacht nach verdächtiger Musik, frei nach dem Motto: Wehret den Anfängen! Fündig geworden sind sie schnell. Zwar konnte keine Nazimusik entdeckt werden, aber ein Song, der das Potential zur Destabilisierung des deutschen Staates in sich trägt: »Bullenschweine« von der Punkband Normahl. Sicherlich, der Song ist über 30 Jahre alt, wurde 1982 auf der LP Ein Volk steht hinter uns veröffentlicht, aber seitdem noch nicht verboten. Die Hüter_innen der Sächsischen Demokratie wissen jedoch, die alte Bundesrepublik der späten siebziger und frühen achtziger Jahre war auf dem linken Auge blind. Also wurde nun ein Strafverfahren gegen Normahl eingeleitet und Razzien in den Wohnungen der alten Bandmitglieder durchgeführt. Der Eifer der Behörden, hier einen ganz großen Fisch zur Strecke bringen zu können, musste jedoch ausgebremst werden. Die Ermittlungen wegen »Aufstachelung zum Rassenhass« ließen sich leider nicht weiter verfolgen. Und auch die Ermittlungen gegen das Lied aus dem Jahr 1992 mit der extremistischen Songzeile »1,2,3, wo bleibt die Polizei? Fürs Kapital in Wackersdorf wart ihr immer voll präsent, doch wo seid ihr, wenn in Rostock ein Asylantenheim abbrennt?« wird nun wohl doch eingestellt werden müssen, da es, nach ersten Einschätzungen nichtsächsischer Verfassungshüter_innen, nicht so richtig gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoße.
~ Von Phase 2. Beitrag aus der Redaktion.