Hinfahren oder nicht? Diese Frage stellte sich schon im Vorfeld der deutschen Mobilisierung für die antifaschistische Demonstration in Warschau am 11. November. Der polnische Aufruf und die Mobilisierungstour der VeranstalterInnen durch deutsche Städte forderte die Blockade des Aufmarsches 10.000 polnischer und europäischer AntisemitInnen und Hooligans am Unabhängigkeitstag. Der 11. November steht in Polen symbolisch für die Wiedergewinnung der nationalen Souveränität nach den verschiedenen Aufteilungen zwischen Deutschland, Österreich und Russland. Die Erinnerung an die deutschen Barbarei bis 1945 und die Überhitzung der polnischen Presse dazu schon im Vorfeld, machte es auch den AntifaschistInnen nicht leicht, zur Unterstützung der polnischen AktivistInnen anzureisen. Polnische Zeitungen warnten vor den »gewalttätigen Deutschen« und die polnische Polizei setzte diese Warnung »präventiv« um. Von den an diesem Tag 200 Festgenommenen, kam fast die Hälfte aus Deutschland – und sehr viele davon hatten es gar nicht bis zur linken Gegendemonstration geschafft. Insgesamt 2000 Linke, Alternative, Gays und AnarchistInnen blockierten später aber erfolgreich den Aufmarsch der Rechten, auch ohne die verhinderte Unterstützung. Für die festgenommen AntifaschistInnen bedeutete es meist zwei Tagen Zwangsaufenthalt, dann konnten sie mit der Ankündigung der noch folgenden Anklagen wieder gehen. Der Zwiespalt aber bleibt, zwischen grenzüberschreitenden Antifaschismus und historisch belasteten Daten den Mittelweg zu finden. Dass es zumindest ein Bewusstsein über diese Schwierigkeit gibt, zeigt die Selbstreflektion und Debatte in verschiedenen linken Internetmedien.
Viel weniger über die eigene Teilnahme zu grübeln und einen deutlich kürzeren Anreiseweg hatten dafür die TeilnehmerInnen der antifaschistischen Demonstration am 24. September 2011 in Leipzig. Auf der Abschlussdemonstration der Kampagne gegen das »Nationale Zentrum« in Leipzig-Lindenau konnten 3000 TeilnehmerInnen ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Nicht zuletzt nach den Streitereien zwischen NPD und den »freien Kräften« und der Debatte um die sich andeutende Verwicklung einiger Leipziger Beteiligter in das Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) besteht also weiterhin die Hoffnung, dass es zu einer baldigen Schließung zumindest dieses NPD-Stützpunkts kommt.
Dass eine nationalsozialistische Terror-Untergrund-Organisation (NSU) seit zwei Jahrzehnten in Deutschland existiert und für mindestens neun rassistisch motivierte Morde in den letzten zehn Jahren verantwortlich ist, wurde in jüngster Zeit erschrocken in der deutschen und internationalen Presse diskutiert. Die nicht neue Kritik, dass der deutsche Verfassungsschutz »auf dem rechten Auge blind« sei und es ein Skandal ist, dass nach den Morden lange (und erfolglos) nach den kriminellen Machenschaften der Opfer gesucht wurde, zieht sich dabei quer durch alle Bundestagsparteien. Die, die ihr Entsetzen jetzt kundtun und nun (endlich) um eine Aufarbeitung des Falles bemüht sind, hatten bei acht türkischstämmigen und einem griechischstämmigen Opfer bisher über einen rassistisch motivierten Tatzusammenhang wohl zuwenig nachgedacht. Auch die Möglichkeiten eines NPD-Verbots soll nun erneut geprüft werden.
Unter deutlich unangenehmeren Rahmenbedingungen als in Leipzig demonstrierten am 17. September 2011 300 Menschen in Erinnerung an die rassistischen Pogrome in Hoyerswerda vor 20 Jahren. Die dazumal mehrtägigen Angriffe auf vietnamesische StraßenhändlerInnen und das Wohnheim für VertragsarbeiterInnen haben bis heute nicht zu einer Auseinandersetzung mit dem rassistischen Normalzustand geführt. 20 Jahre nach den Übergriffen begegnete der kleinen linken Erinnerungsdemonstration eben dieser – mit einer am Schutz der Demonstration desinteressierten Polizei, dem offenen Auftritt pöbelnder Nazis und einem Bürgermeister der heute keine Probleme mehr sehen will. Schon im Vorfeld waren ReporterInnen und zurückgekehrte Betroffene erneut attackiert worden, so dass das im Rahmen der Demonstration errichtete Mahnmal aus Sicherheitsgründen auch gleich wieder mitgenommen werden musste. Die Gefahr der sofortigen Zerstörung ist auch 2011 noch zu groß. Ob das Denkmal jemals einen festen Platz in Hoyerswerda finden kann, bleibt mehr als unwahrscheinlich.
Im Nachgang der Februar-Demonstrationen gegen den Dresdner Opfermythos und den jährlichen Naziaufmarsch in diesem Jahr, zeigt sich die deutsche Polizei dagegen weniger zurückhaltend: In Jena, Berlin, Stuttgart und anderen Städten wurden Wohnungen durchsucht, um endlich Beweise für das laufende §129-Verfahren zu finden. Bisher lassen sich diese, trotz flächendeckender Telefonüberwachung und der ersten Vernehmungen einiger Aktiver, einfach nicht auftreiben. Noch im August erfolgte eine breite Kritik an der Telefonüberwachung und der Bürodurchsuchung bei dem Jenaer Pfarrer Lothar König, als die sächsische Polizei ohne Amtshilfegesuch an das thüringische Innenministerium Kirchenräume auf den Kopf stellte. Auch wenn besonders seine Verhaftung und die aufgedeckte Handyortung in Dresden einen gewissen öffentlichen Unmut nach sich zogen, die späteren Durchsuchungen bei weniger »Prominenten« blieben weitgehend unbeachtet. Die Beteiligten aus dem Innenministerium und der Polizei wird es freuen. In den neuen Zeiten der öffentlichen Aufmerksamkeit für Nazigruppen ist aber wenigstens Lothar König als Akteur der Zivilgesellschaft wieder medial gefragt.
Im Rahmen der Debatte um die NSU und die umfangreichen rechten Netzwerke in der Bundesrepublik wurde auch die sogenannte »Extremismusformel« zuletzt auf den Prüfstand gestellt. Die Pläne der Bundesministerin Kristina Schröder, die Ausgaben für die Auseinandersetzung mit »Rechtsextremen« zugunsten der Arbeit gegen »Linksextreme« zu kürzen, sind zunächst vom Tisch. Darüberhinaus hat die Kritik an der Unsinnigkeit dieser Konstruktion zumindest eine breitere Basis gefunden. In Berlin soll aber, so die Aussage der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU, das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Form der Extremismusklausel Einzug halten. Zukünftig wird auch in Berlin jede/r politische/r AkteurIn mit Landesförderung seine/ihre Abgrenzung zu »verfassungsfeindlichen« Gruppierungen schriftlich erklären dürfen. In Sachsen sind nach der Weigerung, die sogenannte Demokratieerklärung zu unterzeichnen gerade erst wieder einem Verein, der Bildungsarbeit gegen Nazis macht, die Fördermittel gesperrt worden.
Die im Rahmen des Papstbesuchs Ende September in Deutschland geplante Rede des Vertreters Gottes auf Erden vor dem Bundestag erregte die Gemüter fast mehr, als die linke Gegendemonstration mit 15.000 TeilnehmerInnen aus queeren und antifaschistischen Kreisen gegen die menschenfeindliche Geschlechter- und Sexualpolitik des Papstes. Bei der Rede von Joseph Ratzinger im Bundestag missachteten mehrere Abgeordnete den »westlich?christlichen Wertekonsens«, so VertreterInnen der CDU, indem sie einfach fernblieben und dem anwesenden Gast keinen Respekt zollten. Muss eine demokratische Gesellschaft, nach Ratzinger, die kritische Meinungsäußerung in Form einer Demonstration gegen die Kirche noch aushalten, ging ihm der Bundestagsboykott dann doch gegen den Strich. Dennoch lobte er auch die deutsche Ökobewegung für ihre Bemühungen um den Schutz der Natur. Die anwesenden Abgeordneten der Grünen nahmen es freudig auf.
Im Sinne des sich modern und weltoffen gebenden Deutschlands fand die jährliche Einheitsfeier in diesem Oktober in Bonn statt. So etwas blieb wie in jedem Jahr nicht ohne kritische Begleitung. Unter dem Motto »Organisiert den Vaterlandsverrat« lud ein linkes Bündnis aus verschiedenen Antifagruppen aus NRW zu Gegenveranstaltungen und einer Demonstration am 3. Oktober. Dass nur rund 600 Menschen an dieser teilnahmen, könnte regionale Verhinderungsgründe haben, lässt aber auch Vermutung zum Zeitgeist der deutschen Linken zu. An diesem Tag mobilisierte der im Vorfeld verbreiteten Aufruf, auch wenn er die permanente kapitalistische Konkurrenz und das Verschmelzen von Staat und Bevölkerung zu einer Wirtschaftsnation kritisiert, kaum. Die Feststellung der OrganisatorInnen, in der derzeitigen Krise des Kapitals habe Opferbereitschaft für den eigenen Standort wieder Konjunktur, mobilisierte zumindest nur wenige für den geforderten »praktischen Antinationalismus«.
Dafür hat die aktuelle Krise des Kapitals eine neue weltweite Kritikwelle ausgelöst und in der »Occupy«-Bewegung eine Form gefunden. Nach ersten anfänglichen Protestdemonstrationen in New York im September und der Beteiligung eines sehr heterogenen (u.a. auch verschwörungstheoretischen) Publikums in den Vereinigten Staaten, fand am 15. Oktober ein weltweiter »Occupy«-Tag statt. In Deutschland kam es aus diesem Anlass zu größeren Demonstrationen in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Stuttgart und (fast) alle fanden es gut. Selbst der Bundesfinanzminister wollte eine gewisse »Sympathie« mit den Zielen nicht verheimlichen, wie auch schon Michael Moore oder Slavoj Žižek. Wenn sich in Deutschland die Kritik auf soziale Ungleichheit und die Konzentration von Reichtum auf einige Wenige bezieht, sind die üblichen Verdächtigen von Attac, Linkspartei und Gewerkschaften auch nicht weit. Ihre alte Kritik an den globalen Finanzmärkten und die Forderung nach einer besseren Regulierung des Aktienhandels entwickeln auch durch die häufige Wiederholung und den Verweis auf »kapitalistische Wahrheiten« keine revolutionäre Perspektive. Eine neue Antwort auf diese Krise war damit bisher leider nicht zu entwickeln.
Eine ganz andere Ausdrucksform von Kritik suchte im Oktober eine Gruppe durch das Abstellen von (Mehrweg-)Plastikflaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit an diversen Bahnanlagen. Rund um Berlin wurden nach Zeitungsberichten 20 solcher Behälter gefunden, einer hatte bis dahin einen Brand in einem Bahnkabelschacht ausgelöst. »Entschleunigung« sollte die mit jedem Fund einhergehenden Unterbrechung des Zugverkehrs erreichen, so das im Internet veröffentlichte BekennerInnenschreiben, um den von der deutschen Bevölkerung nicht unterstützten Krieg in Afghanistan anzuprangern. Auch bei weiterer Lektüre bleibt dies eine Begründung, die an die eingehend geäußerte Kritik an die ideologische Vergangenheit anschließt. Mit der Parole, dem deutschen Volk zu dienen, hatte schon eine andere Gruppe 1972 ihre Bankrotterklärung abgegeben. Es bleibt abzuwarten, ob sich jetzt wie im Fall von Andrej Holm und seiner Verhaftungsbegründung auf Grundlage der Wortnutzung von »Gentrification«, einige WissenschaftlerInnen wegen »Entschleunigung« vor Karlsruhe fürchten müssen.
Eine Marx-Herbstschule in Berlin gab es auch noch, die nur unbeabsichtigt hier zum Schluss stehen soll. Vom 28. bis 30. Oktober diskutierten die Teilnehmenden mit Michael Heinrich, Hendrik Wallat oder Matthias Wiards über den Fetischbegriff und die Fetischkritik bei Karl Marx. Ein neuer Band dazu wird laut den VeranstalterInnen von TOP bald folgen.
Phase 2, Leipzig