Für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus sind weder der Schutz ihrer Gesundheit noch die medizinische Versorgung universelle Grundrechte. Dies gilt derzeit europaweit. Illegalisierte erhalten in der Praxis oft nur allernotwendigste medizinische Leistungen, z.B. während eines Notfalls, und meist keine oder nur sehr rudimentäre medizinische Regelleistungen. Die Betroffenen berichten immer wieder von unwürdigen Behandlungssituationen. Den Zugang zu Leistungen empfinden sie zudem als unsicher; Regelungen sind unklar.
Laut einer in elf (west-)europäischen Ländern durchgeführten Studie der Europäischen Beobachtungsstelle von Médecins du Monde über den Zugang von Menschen ohne Aufenthaltstitel zu medizinischer Versorgung kann man zwei unterschiedliche Umgangsweisen feststellen: Neben der Möglichkeit, Gesundheitsleistungen komplett selbst zu bezahlen (was den allergrößten Teil des betroffenen Personenkreises von vornherein aus der Versorgung ausschließt) existieren in einigen Staaten Systeme, in denen die Kosten (manchmal auch nur anteilig) übernommen werden – so in Frankreich, Belgien, Spanien, den Niederlanden, in Portugal und Italien. Demgegenüber gibt es in anderen Ländern, wie in der Bundesrepublik, in Griechenland, Schweden und der Schweiz, keine gesetzlichen oder administrativen Regelungen; Hilfe kann hier nur in medizinischen Notfällen geleistet werden.
In diesem Artikel soll ein genauerer Blick darauf geworfen werden, wie sich die Situation in Frankreich darstellt. Im Vergleich zu anderen Ländern wird hier das Recht auf Gesundheitsschutz auch ohne legalen Aufenthaltsstatus ausdrücklich anerkannt, was als progressiv bewertet werden kann. Allerdings gilt es, differenziert nach den Vor- und Nachteilen für Illegalisierte und nach der gesellschaftlichen Funktion einer separaten, speziellen Struktur medizinischer Grundversorgung zu fragen.
Eine kurze Erinnerung an die deutsche Situation: Jede Person muss sich hierzulande durch eine Krankenversicherung absichern – das ist seit der jüngsten Gesundheitsreform für alle Pflicht. Das System beruht auf dem Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip. Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen. Nicht so jedoch für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus: Sie haben zu diesem System keinen Zugang. Flüchtlinge, die einen Antrag auf Asyl stellen, erhalten erst nach 48 Monaten Aufenthalt in Deutschland ein Anrecht auf formal gleiche Leistungen. Vorher haben sie lediglich Anspruch auf eine Notfallversorgung und einige Grundleistungen (Schwangerschaftsfürsorge, Pflichtimpfungen, Vorsorgeuntersuchungen u.a.). Jedoch müssen sie auch nach Ablauf obiger Frist vor jeder Behandlung immer einen Kostenübernahmeschein beim Sozialamt besorgen. Menschen ohne Aufenthaltstitel wiederum, Personen also, die sich illegal im Land aufhalten, haben theoretisch zwar Anspruch auf die gleichen medizinischen Leistungen wie Asylsuchende; die Sozialbehörden müssten die Kosten von Gesundheitsleistungen für Menschen ohne Aufenthaltstitel eigentlich übernehmen. Sie müssen aber zugleich jede Person ohne legalen Status den Ausländerbehörden melden. Das hat zur Folge, dass Betroffene selbst in ernsteren Krankheitsfällen auf eine Behandlung verzichten (müssen), da sie zu Recht befürchten, angezeigt und abgeschoben zu werden. Einige Gesundheitseinrichtungen bzw. einzelne Ärztinnen und Ärzte behandeln dennoch (meist kostenlos) und verstoßen damit gegen das Gesetz. Humanitäre Organisationen, Flüchtlingsgruppen und politische Akteure kämpfen seit langem gegen diese unwürdige Lage.
In Frankreich dagegen – eines der Länder, in denen es Regelungen für die Behandlung und deren Kostenübernahme gibt – wird das Grundbedürfnis auf medizinische Versorgung zunächst einmal anerkannt. Vor etwa 15 Jahren wurde hier eine eigene staatliche Krankenversicherung speziell für Illegalisierte eingeführt. Das System ist weltweit nach wie vor einzigartig und funktioniert grundsätzlich auch: Rund 300.000 Menschen haben Zugang zu Gesundheitsleistungen – eine im internationalen Vergleich geradezu rosige Situation. Fragt man jedoch vor Ort, wie es in der Praxis läuft, finden sich viele Kritikpunkte, denen dieser Artikel nachgehen möchte. Zudem muss sich auch ein vermeintlich vorbildliches System fragen lassen, wem es – neben dem humanitären Imagegewinn für Frankreich – in welcher Weise nützt. Der Vorwurf, auch hier würden lediglich soziale Ausschlüsse produziert und fortgeschrieben, greift zu kurz.
Die Frage ist nicht allein, ob es ein anwendbares Recht auf Gesundheitsschutz für Illegalisierte gibt, sondern wie genau es umgesetzt wird und wem es zum Vorteil gereicht. Seit 1945 wurde in einem reformartigen Prozess die allgemeine Grundversorgung, die zunächst nur die ArbeiterInnen umfasste, Schritt für Schritt auf andere Bevölkerungsteile ausgeweitet. Mit der Schaffung einer gesetzlichen »Allgemeinen Grundversicherung« (Couverture Maladie Universelle – CMU) wurde 1998 das breit angelegte staatliche Projekt, alle Personen mit einer effizienten und einheitlichen Krankenversicherung zu versorgen, abgeschlossen. Die CMU dient dabei als Grundversorgung für all jene (z.B. mittellose RentnerInnen, nicht Erwerbstätige, SozialhilfeempfängerInnen etc.), die nicht in die öffentlichen, gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden. Sei es, weil sie nicht im Erwerbsleben stehen oder ihr Einkommen zu gering ist.
Mit der Schaffung der CMU wurde 1998 jedoch auch eine Gruppe von diesem allgemeinen Grundrecht explizit ausgeschlossen: Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Für sie wurde im Jahr 2000 eine separate »Staatliche Medizinische Sozialhilfe« (Aide Médicale d’État – AME) eingeführt: ein paralleles System, das wie eine Krankenversicherung aussieht und die gleichen Grundleistungen wie die CMU bietet.
Darüber hinaus wurde noch eine weitere Struktur für diejenigen, die durch alle oben erwähnten Netze fallen, eingeführt: 1998 wurden die sogenannten PASS (Permanence d’Accès aux Soins de Santé), die »Stationen für den Zugang zur medizinischen Versorgung«, per Gesetz vorgeschrieben und aufgebaut. Diese speziellen, staatlich finanzierten Stationen, die es in den meisten öffentlichen und einigen privaten Krankenhäusern gibt, sind auf die psychosoziale und medizinische Betreuung von PatientInnen ohne gesetzliche Krankenversicherung wie CMU oder AME spezialisiert und behandeln hauptsächlich illegalisierte MigrantInnen. Das bedeutet, dass das französische Gesundheitssystem das Recht auf Gesundheitsschutz auch ohne legalen Aufenthaltsstatus ausdrücklich anerkennt – was als soziale, bürgerschaftliche Inklusion betrachtet werden kann.
Die Exklusion der »Unerwünschten«
Alle Menschen, die sich in Frankreich aufhalten, kommen seit der Einführung 1945 in den Genuss der allgemeinen Sécurité Sociale (Kranken- und Rentenversicherung sowie Mutterschafts- und Kindergeld). Die dort festgeschriebenen Leistungen sind nicht an die Legalität des Aufenthalts, sondern direkt an Erwerbsarbeit gebunden; Leistungen der Sozialhilfe wiederum an soziale Kriterien. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Sozialversicherung haben alle denselben Anspruch auf eine Krankenversicherung, solange sie folgende Bedingungen erfüllen: Arbeit, Beitragszahlungen, fester Wohnsitz.
Mit einer restriktiveren Einwanderungspolitik seit Anfang der siebziger Jahre, der Einschränkung des Ausländerrechts, der Schließung der Grenzen für GastarbeiterInnen und anderen Maßnahmen hat ein Prozess von der bloßen Ausgrenzung hin zu einer zunehmenden Illegalisierung von EinwanderInnen begonnen. Dies schlug sich schrittweise auch in der Beschneidung von Sozialleistungen für die betroffenen Gruppen nieder. Diese Produktion von IllegalitätNicholas De Genova, Migrant »illegality« and deportability in everyday life, in: Annual review of anthropology 31, 2002, 419–47., also die Schaffung eines illegalen Status per Gesetz, fand parallel zur Konstruktion des gesellschaftlichen Feinbildes »krimineller Ausländer« statt. Bis heute wird dieses Bild, sobald es um den Bezug (bzw. die Kürzung) von Sozialleistungen geht, vor allem von konservativen PolitikerInnen und im medialen Mainstream gepflegt und fortgeschrieben.
Anfang der neunziger Jahre führte dies schließlich zum nach dem damals amtierenden Innenminister benannten Pasqua-Gesetz, das neben anderen Restriktionen den Aufenthaltsstatus zur Bedingung für Sozialleistungen inklusive der Krankenversicherung machte. Dies war ein Wendepunkt, der die Legalität des Aufenthalts als Kategorie des Zugangs zum bzw. Ausschlusses vom Sozialstaat und damit als bedeutendes Merkmal gesellschaftlicher Existenz einführte.
Nicht mehr nur beim Service des Étrangers, der Behörde, die für aufenthaltsrechtliche Fragen zuständig ist (analog zur sogenannten Ausländerbehörde in der BRD), sondern in allen öffentlichen, vor allem sozialstaatlichen Verwaltungen und Krankenkassen muss nun zwischen legalem und illegalem Aufenthaltsstatus unterschieden werden. Damit wird diese Kategorisierung zu einer gesamtgesellschaftlichen sozialen Realität. Von nun an müssen beispielsweise Verwaltungsangestellte immer auch den Aufenthaltsstatus kontrollieren, ohne dass dies gesondert in Antragsformularen oder Akten abgefragt wird. Die weitgehend unsichtbare Kategorie wird hiermit zu einem Ausschlusskriterium, das von der Verwaltung immer mitgedacht werden muss. Die Bedingung der Legalität des Aufenthalts wird so zu einem Instrument der Akkulturation, das weit über aufenthaltsrechtliche Aspekte hinaus im administrativen Alltag Fuß fasst, und zwar vor allem dort, wo die Verwaltung direkten Kontakt zu den Betroffenen hat. Akkulturation meint hier die Übernahme der Kategorie »illegal« aus der mit Aufenthaltsrecht befassten und in Frankreich direkt dem Innenministerium unterstellten Administration in viele andere Bereiche sozialstaatlicher Verwaltung und bürokratischer Kultur sowie deren Institutionalisierung und Verinnerlichung in der Vorstellung der Angestellten.
Im Gesundheitswesen ist der Ausgrenzungsprozess noch deutlicher. 1998 wurde die erwähnte CMU per Gesetz eingeführt. Sie bedeutete praktisch eine Abschaffung der unterschiedlichen Behandlung von Krankenversicherten und Nichtversicherten: Alle wurden in der vereinheitlichten Grundversicherung zusammengefasst. Illegalisierte wurden davon allerdings kategorisch ausgeklammert und in der kurz darauf reformierten AME isoliert. Deren Einführung bedeutete eine klare Verbesserung der Lage für illegalisierte MigrantInnen, besonders im Vergleich zur katastrophalen Situation zwischen 1993 und 2000, in der der Zugang zur konkreten medizinischen Versorgung für Illegalisierte auf die allernotwendigsten medizinischen und nur in öffentlichen Krankenhäusern erhältlichen Leistungen beschränkt war.
Man kann jetzt mit der neuen AME (und in dieser Hinsicht völlig vergleichbar mit der Grundversicherung CMU) in die ärztliche Praxis oder ins Krankenhaus gehen und gebührenfrei Medikamente verschrieben bekommen. Trotz des Ausschlusses aus der CMU stellt dieses Recht also eine Anerkennung der Existenz und damit der Zugehörigkeit zur Gesellschaft dar – ein Recht auf Gesundheitsschutz für 278.262 Menschen (im Jahr 2013), das ein neues und starkes Zeichen einer formellen sozialen Inklusion bedeutet.
Diese Inklusion heißt jedoch zugleich auch soziale Kontrolle. Die zuvor nur von humanitären Organisationen (wie Médecins du Monde oder Flüchtlingshilfe-Gruppen) angebotene medizinische Versorgung bedeutete in diesem Bereich nahezu kein Ein- oder Zugriff staatlicherseits. AME und PASS sind nun neue, wirksame Mittel, um biopolitische Macht»Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen vollzieht sich nicht nur über das Bewusstsein oder die Ideologie, sondern auch im Körper und mit dem Körper. Für die kapitalistische Gesellschaft ist es die Biopolitik, die vor allem zählt, das Biologische, Somatische, Körperliche.« Michel Foucault, Schriften Bd. III, Frankfurt a.M., 2003. über die Gesundheit und damit das Leben illegalisierter Menschen zu erlangen.
Mittels der Werkzeuge Inklusion und Isolation im Gesundheitssystem wird dank einer nationalen Verordnung (2007) eine weitere Gruppe identi-fiziert: »mittellose EU-BürgerInnen«. Sie haben eigentlich Anspruch auf Gesundheitsversorgung per CMU, müssen sich jetzt aber ebenfalls über AME Zugang zu Leistungen verschaffen – ein Winkelzug, der vor allem nach Frankreich kommende Roma treffen soll und trifft. Sie werden aus der CMU ausgeklammert und als weitere Gruppe »Unerwünschter« abgestempelt. Antiziganistische Ressentiments ergänzen einen in Frankreich gegen EinwanderInnen gerichteten, kolonial verwurzelten Rassismus. Vorurteile werden in der politischen Debatte offen geäußert; breite Kreise der Bevölkerung sehen sich in ihrer ablehnenden Haltung gegen Roma bestätigt. Die AME zeichnet sich hier durch eine Form des strukturellen Rassismus aus, der die »Unerwünschten« offen und unverblümt zum Bodensatz eines sozial geschichteten Gesundheitssystems macht.
Die Kategorie der Unerwünschten wird als soziales Problem konstruiert und der Staat hält diese Gruppe in Bezug auf Gesundheitsschutz in einem prekären Zustand. Mit sozialer Anerkennung und gleichzeitiger Isolation sind Illegalisierte ein einfaches Angriffsziel im öffentlichen Diskurs. In den 16 Jahren seit ihrer Einführung wurde die AME in der Nationalversammlung immer wieder attackiert, meistens mit der Argumentation, dass sich AME-EmpfängerInnen Leistungen erschleichen würden und die Zahl der Anträge unkontrollierbar anstiege, da sich die Attraktivität einer kostenlosen Krankenversicherung herumspreche. Ein einfaches soziales Feinbild.
Mit der AME wird ebenfalls eine differenzierte und für den Staat effiziente Organisation der Verwaltung auf lokaler Ebene möglich. In Paris zum Beispiel, wo etwa 65.000 Illegalisierte jedes Jahr einen AME-Antrag abgeben, sind die Antragstellenden gezwungen, sich an eines der beiden völlig unterbesetzten Zentren zu wenden, in denen täglich nur zwischen zehn und zwanzig Anträge bearbeiten werden. Ab drei Uhr nachts stellen sich dutzende Hilfesuchende an, um möglicherweise einen Antrag abgeben zu dürfen. Die Verwaltung des AME ist in ganz Frankreich notorisch unterbesetzt und braucht oftmals sechs Monate und mehr, um Anträge zu bearbeiten (und das obwohl die Bewilligung nur auf ein Jahr befristet ist). Im Département Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris ist wiederholt entschieden worden, alle per Post eingesandten Anträge einfach wegzuwerfen, weil das Verwaltungspersonal keine Kapazität hat, sie zu bearbeiten. Die Antragstellenden wurden darüber nicht informiert.
Generell führt das Bestreben, den Ablauf zu rationalisieren, zu einem hohen Anteil von falsch begründeten, fehlerhaften AME-Ablehnungen, was wiederum eine verlängerte Wartezeit aufgrund von Widersprüchen und Klagen zur Folge hat – Wartezeit, die eine Zeit ohne Gesundheitsschutz für die Antragstellenden bedeutet. Das ganze System des AME führt so zu einem verspäteten Zugang zur Krankenversicherung oder gar zu einem völligen Ausschluss aus dieser. Dieser formelle Inklusionsprozess der »Unerwünschten« generiert letztendlich informelle Exklusion innerhalb dieser Gruppe: Einige fallen schlicht durch das gespannte Netz.
Auch werden AME-EmpfängerInnen zu leichten Opfern diskriminierender und illegaler Praxen. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich zahlreiche privat niedergelassene ÄrztInnen und insbesondere SpezialistInnen weigern, AME-Versicherte zu behandeln. Für diese Form der Exklusion haben sie hauptsächlich zwei Begründungen parat: Erstens seien AME-PatientInnen aufmüpfig und hätten eine »Fürsorgementalität« oder »Anspruchshaltung« – was auf Feindbildern des »kriminellen Ausländers« beruht. Zweitens sei die Kostenerstattung der AME-Leistungen umständlicher und dauere länger. Wo sonst per Chipkarte abgerechnet wird, muss alles per Hand in Abrechnungsformulare eingetragen werden – eine weitere Folge der administrativen Isolierung der AME.
Der vielleicht radikalste Ausschlussmechanismus ist der der formellen Exklusion. Der Nachweis der Identität, einer festen Adresse und der Aufenthaltsdauer in Frankreich sowie die Angabe des Einkommens (das unterhalb einer bestimmten Grenze liegen muss) sind Pflichtkriterien. Wer eine dieser Bedingungen nicht erfüllen oder nicht nachweisen kann, wird von allen AME-Gesundheitsleistungen ausgeklammert. Besonders Illegalisierte, die kürzer als drei Monate im Land sind oder keinen lückenlosen Nachweis erbringen können, sind hiervon betroffen. Für die meisten von ihnen ist es extrem schwierig, dieser Rechenschaftspflicht nachzukommen. Änderungen des Reglements zielten jedoch bisher immer darauf ab, den Zugang weiter zu erschweren.
Die beschriebenen Mechanismen prägen die Struktur eines fein abgestuften Sondergesundheitssystems; eines Systems der Hierarchie durch Inklusion und Exklusion. Je prekärer die existenzielle Situation, desto höher die Gefahr der Ausgrenzung. Je höher der Grad der sozialen Integration, desto höher die Chance, Krankenversicherungsschutz genießen zu dürfen. Verbildlichen lässt sich AME als Rand der Gesellschaft, der wiederum einen eigenen Rand hat. Innerhalb der Gruppe der »Unerwünschten« gibt es sozusagen »Mehrfach-Unerwünschte« am Rande des Randes.
Die letzte Stufe
Greift kein noch so fragiler Versicherungsschutz, bleibt für die akuten Fälle der Gang zu einer der »Stationen für den Zugang zur medizinischen Versorgung« (PASS), die speziell für Menschen ohne Krankenversicherung in vielen französischen Krankenhäusern eingerichtet wurden. Fragt man GesundheitspolitikerInnen oder PASS-Angestellte, ist PASS lediglich temporäre Hilfe und Brücke zum regulären Gesundheitssystem. Das Versprechen: Einstieg in die Integration. Die Realität ist eine andere: Die PatientInnenschaft besteht dort hauptsächlich aus all jenen, die von den oben erwähnten informellen und formellen Exklusionsmechanismen betroffen sind. Das sind EinwanderInnen ohne legalen Aufenthaltsstatus, die gerade erst in Frankreich angekommen oder in einer sehr prekären Lage (z.B. wohnungslos) sind; Asylsuchende sowie Menschen mit abgelehntem Asylantrag; von Armut betroffene EU-BürgerInnen (vor allem Roma aus Rumänien und Bulgarien) und schließlich Menschen mit (touristischen) Visa. Neben anderen marginalisierten Gruppen (Obdachlose, DrogengebraucherInnen, langfristig Illegalisierte, temporär nicht krankenversicherte MigrantInnen), werden hier also mittels PASS neue, »besondere« Gruppen von EinwanderInnen definiert.
Ein noch minderjähriger Flüchtling aus Pakistan beispielsweise, seit zwei Jahren auf der Reise und in schlechtem körperlichen Zustand, hat in Frankreich erst einmal keinen legalen Status. Ein Aufenthalt von weniger als drei Monaten bedeutet für ihn die Ablehnung der AME. Im Moment eines Asylantrags erhält er temporären legalen Status als Asylbewerber und damit Anspruch auf CMU. Die Bewilligungen seines Krankenversicherungsantrags wird im Schnitt etwa sechs Monate dauern – Zeit ohne Versicherungsschutz, in der nur PASS für die allernotwendigsten Behandlungen bleibt. Da circa 70 Prozent (Stand 2013) der Asylanträge abgelehnt wurden, die Abgelehnten das Land aber nicht immer verlassen, wird der pakistanische Jugendliche mit einiger Wahrscheinlichkeit in die Illegalität gedrängt. In diesem Fall besteht Anspruch auf AME, allerdings nur nach explizitem Antrag. Eine neue Runde in einer anderen Verwaltung mit anderen Regeln: Der Antrag wird wohl erst einmal abgelehnt. Geforderte Nachweise fehlen dem jugendlichen Flüchtling möglicherweise völlig, was durchschnittlich eineinhalb Jahre ohne Krankenversicherung bedeutet.
Administrativ bleibt die Situation also auf Dauer kompliziert und prekär, was dazu führt, dass einer Person mit einem besonderen Bedarf die Möglichkeit auf Hilfe verwehrt wird und nur erschwert Zugang zur PASS als allerletzter Möglichkeit medizinischer Grundversorgung besteht.
PASS ist also keine Brücke, sondern ein Produkt von Gesetzen und Verordnungen, das die medizinische Behandlung derjenigen Menschen übernimmt, die von eben diesen Gesetzen ausgegrenzt werden. Somit ist PASS Teil eines selbst geschaffenen Problems und zugleich dessen Lösung. So widersprüchlich es klingt: Damit Menschen am Rande des Randes überhaupt überleben können, gibt es PASS.
Hilfsorganisationen wie Médecins du monde und Médecins sans frontières haben die Einrichtung einer solchen Struktur jedoch selbst immer wieder gefordert. In den neunziger Jahren waren von der Situation und ihren katastrophalen Folgen von Zentausenden ohne Zugang zu medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung überfordert . Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Forderung nach einer Kombination von medizinischen und sozialen Leistungen, die heute fast jedes PASS anbietet. Ebenso war die Erfindung von PASS auch eine Folge überlasteter Notaufnahmen voller Menschen mit medizinischem und sozialem Hilfebedarf jenseits akuter, lebensbedrohlicher Indikationen. Notaufnahmen sind teuer. Sie dürfen niemanden abweisen. Wer keine Krankenkassenkarte vorzeigen kann, bekommt eine Rechnung, die dann oft nicht bezahlt werden kann. Außerdem kommen Menschen ohne Krankenversicherung oft mit einem komplizierteren Gesundheitszustand – das macht ihre Behandlung noch teurer. Auf all diesen Kosten bleiben die Krankenhäuser sitzen. PASS springt hier ein und wird zu einer neuen Einnahmequelle.
Um die Bedürfnisse der auf PASS angewiesenen Personen geht es bei alledem am allerwenigsten. Medizinische Leistungen werden nur im Krankheitsfall und auch nur nach Einzelfallprüfung bewilligt; sie sind i.d.R. zeitlich begrenzt. Wer PASS nutzen will, muss zunächst zeigen, dass sie oder er als PatientIn legitimiert ist. Lebensgeschichten werden von SozialarbeiterInnen in Aufnahmegesprächen abgefragt, und wer die Inklusionskriterien nicht erfüllt, bekommt keine Behandlung. Auch hier herrscht wiederum eine klare Hierarchie: Die »MehrfachUnerwünschten« sind darin diejenigen, denen »Medizin-Tourismus« oder anderes unterstellt wird oder die schlicht das Spiel der Fürsorgelogik nicht mitspielen können. Ehrerbietung, mitleiderregende Geschichten und Dankbarkeit – wer den Erwartungen der PASS-AngestelltInnen entspricht, hat bessere Chancen auf Leistungen.
Tatsächliche Behandlung kann das erwünschte Verhalten allerdings nicht garantieren: Die Leistungen sind nicht selten budgetiert und alles, was medizinisch irgendwie vertretbar ist, wird aufgeschoben – möglichst, bis die Person krankenversichert ist.
Arbeitskraft und Kapitalismus
Aus der Einrichtung einer speziellen Krankenversorgung lässt sich noch etwas Weiteres schlussfolgern: Sie enthüllt die Isolation der Gruppe der Illegalisierten als Grundprinzip eines Gesundheitssystems, in dem Exklusionen am Rand dieser Gruppe erzeugt werden. Ob in den Arztpraxen, im Krankenhaus, in der Krankenkasse: Durch die Isolation werden an verschiedensten Stellen Diskriminierungen unterschiedlichen Ausmaßes im Kauf genommen. Die formelle Inklusion einer dominierten Gruppe generiert Formen von Exklusion durch die Reproduktion dominanter sozialer Verhältnisse im Gesundheitssystem und führt eine staatliche, biopolitische Kontrolle dieser Gruppe ein.
Die Analyse zeigt, dass Kategorien an den Rändern eines Systems produziert werden und dass dieser Prozess, der Menschen von Exklusion bedroht oder sie bereits ausgeschlossen hat, dynamisch ist. Der Soziologe Robert CastelRobert Castel, Les métamorphoses de la question sociale. Une Chronique du salariat, Paris 1995.
hat in seiner Arbeit über die »Soziale Frage« herausgestellt, dass Prekarisierung und »soziale Ränder« keine Ausnahmen, sondern vielmehr grundlegende Elemente der Struktur des modernen Kapitalismus sind. Ein System, das Menschen nach unterschiedlichen, abgestuften Kategorien behandelt, erzeugt nach innen eine Tendenz zu zunehmender Inklusion – ein Prozess, der Gesellschaften stabilisiert und nur auf Kosten der Exklusion zu haben ist. Dies gilt im Besonderen für ein stratifiziertes, also sozial geschichtetes Gesundheitswesen, in dem Menschen am Rand mit ihrer Gesundheit und Würde bezahlen.
Die Kategorien, die am Rand des Gesundheits- und Versicherungssystems stehen zeigen, dass die Prekarisierung und Marginalisierung mancher Gruppen eben nicht die Ausnahme sind, sondern als struktureller Rassismus verstanden werden müssen. Die »legale Produktion von Illegalität« versorgt westliche Ökonomien mit flexiblen, billigen und weitgehend rechtlosen Arbeitskräften. Die Anerkennung ihrer Gesundheitsrechte und überhaupt ihrer sozialen Existenz entlarvt sich als eine Mogelpackung, die den betroffenen Menschen Rechte zweiter Wahl und eine daraus resultierende schlechtere Versorgung zweiter Klasse bietet. Das stabilisiert und reproduziert den Platz der »Unerwünschten« in der Hierarchie der Legitimität innerhalb der marktdemokratischen Gesellschaft.
Die Allgemeinbevölkerung profitiert dennoch durch diese staatliche Intervention, beispielsweise durch die Verringerung von Infektionszahlen bei übertragbaren Krankheiten, wie HIV, Tuberkulose oder Hepatitis im Rahmen von Public-Health-Kampagnen.
Gerade aus moralisch-ethischer oder humanitär-karitativer Perspektive muss man froh sein, wenn eine Behandlung Illegalisierter überhaupt möglich ist. In Frankreich jedoch ist eine Person mit illegalisiertem Aufenthaltsstatus nur als leidende und kranke Person anerkannt. Sterbende werden zwar nicht in die Herkunftsländer zurückgeschickt, Illegale existieren aber auch nur in dem Moment, wo sie auf medizinische Behandlung angewiesen sind. Wer einigermaßen gesund ist, ist weiter schlicht unsichtbar.
Jérémy Geeraert
Der Autor arbeitet am Centre Marc Bloch der Humboldt Universität Berlin als Soziologe, wo er sich u.a. mit dem Zugang von Menschen ohne Krankenversicherung zum französischen Gesundheitssystem beschäftigt.