Das Konzept eines »sekundären Antisemitismus«, vom Frankfurter Institut für Sozialforschung in den 1950er Jahren entwickelt, wird häufig herangezogen, um die Israel-Feindschaft innerhalb der antiimperialistischen und globalisierungskritischen Linken zu erklären. In neueren Veröffentlichungen liegt diesem Erklärungsversuch die Annahme zugrunde, ein auf Israel oder den Zionismus gerichteter Antisemitismus habe sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Timo Stein schreibt in Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antizionismus in der deutschen Linken, dass »zwischen einem Antizionismus vor und einem Antizionismus nach Auschwitz genau zu unterscheiden« sei.Timo Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antizionismus in der deutschen Linken, Hamburg 2011, 12. Siehe auch Timo Stein, Wie der Antisemitismus in die Linke kam, in: Cicero, 5. Juli 2011, http://www.cicero.de/berliner-republik/wie-der-antisemitismus-die-linke-kam/42297. »Erst der Antizionismus nach Auschwitz führte zu einem genuin linken Antisemitismus.«Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik, 82. Entsprechend behandelt Stein die sekundäre und die antizionistische Judenfeindschaft als sehr ähnliche Phänomene: Zum Verständnis der Israel-Feindschaft in der radikalen Linken nach 1967 seien »die neueren Figuren des Antisemitismus nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Gestalt eines sekundären bzw. eines antizionistisch geprägten Antisemitismus« relevant.Ebd., 19. Holger Knothe nennt in seiner Untersuchung zu Attac Deutschland zwei Gründe für den dort beobachtbaren Antisemitismus: zum Ersten die strukturelle Nähe der »Globalisierungskritik« zu antisemitischen Narrativen, zum Zweiten den »in Deutschland vorhandenen sekundären Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr«.Holger Knothe, Eine andere Welt ist möglich – ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritik bei Attac, Bielefeld 2009, 138. Ebenso verweist Holger J. Schmidt bereits mit dem Titel seiner Untersuchung Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax«. Antisemitismus in der deutschen Linken nach 1945 darauf, dass bei der Entstehung des Antizionismus nach 1967 außer dem Sechs-Tage-Krieg die »Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vergangenheit« eine »Schlüsselstellung« eingenommen habe.Holger Schmidt, Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax«. Antisemitismus in der deutschen Linken nach 1945, Bonn 2010, 8. In ihrem Papier Antisemiten als Koalitionspartner?, das im Sommer 2011 zu einer erneuten Debatte über Judenfeindschaft in der Linkspartei geführt hat, schreiben Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, der antizionistische Antisemitismus resultiere »aus einer Ideologie, die in enger Verbindung zur nationalsozialistischen Vergangenheit stand«. Denn: »Nur so ist die Vehemenz des Antizionismus und die Gleichsetzung von Israel mit Nazi-Deutschland zu verstehen«.Samuel Salzborn/Sebastian Voigt, Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit, unter: www.fr-online.de/blob/view/-/8467798/data/5567673/-/Studie+Antisemitismus+in+der+Linkspartei.pdf
Dieser Erklärungsansatz ist nicht falsch, aber einseitig. In der Tat lassen sich vor allem Äußerungen und Taten der 68er-Linken mit Verweis auf den sekundären Antisemitismus präziser erfassen und kritisieren. Doch wenn man sich zu sehr auf diesen Zusammenhang konzentriert, wird ausgeblendet, dass es bereits 20 Jahre vor der Shoah einen linken Antizionismus gab, der nicht eindeutig vom Antisemitismus getrennt werden kann.Mario Keßler, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus. Arbeiterbewegung und jüdische Frage im 20. Jahrhundert, Mainz 1994; Olaf Kistenmacher: Gegen das »jüdische Kapital« und den »zionistischen Faschismus«, in: Phase 2.29 (2008), 78–82. Schon in den 1920er Jahren setzte z.B. die deutsche kommunistische Partei den Zionismus mit dem Nationalsozialismus gleich. Diese Vorgeschichte gilt es aufzuarbeiten. Sie zeigt u.a. auch, dass es längst nicht ausreicht, von der Linkspartei zu fordern, das Existenzrecht Israels anzuerkennen.
Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung zur Nachkriegsgesellschaft
Den Begriff »sekundärer Antisemitismus« gebrauchte Theodor W. Adorno 1962 in dem Radiovortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute«. Er knüpfte dabei an Überlegungen an, die sich in verschiedenen Veröffentlichungen wie dem Essay »Schuld und Abwehr« (1954) fanden, die unterschiedliche Aspekte des »Nachleben[s] des Nationalsozialismus in der Demokratie« beleuchteten.Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit [1959], in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, 10. In jüngster Zeit hat sich in Deutschland für den sekundären Antisemitismus der Begriff »Schuldabwehr-Antisemitismus« etabliert.Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010. Bekannt sind auch Henryk M. Broders Formulierungen aus den 1980er Jahren, es handele sich um eine Judenfeindschaft »nicht trotz, sondern wegen Auschwitz«, oder: »Und Auschwitz, sagte mal ein kluger Israeli, ›Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen‹.«Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls [1986], Berlin 2006, 2. Auflage, 158–159. Hervorhebungen im Original. Broder bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Adornos Vortrag von 1962.
Entwickelt wurde das Konzept »sekundärer Antisemitismus« im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts, in dem die Einstellungsmuster in der deutschen, postfaschistischen Gesellschaft untersucht wurden. Dabei konzentrierte sich das Frankfurter Institut für Sozialforschung weniger auf alte Nationalsozialist_innen als auf die Deutschen, die sich nach 1945 den neuen Gegebenheiten, der Kriegsniederlage und dem Besatzerstatut, anpassten. Weil die Kritische Theorie zu dieser Zeit eine Judenfeindschaft beschrieb, die nicht mit dem Nazi-Antisemitismus identisch ist, sondern sich gerade in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Ideologie entwickelt haben soll, scheint sich ihr Ansatz in besonderer Weise zum Verständnis des Antisemitismus in der Linken anzubieten. Zum Zeitpunkt der Untersuchungen, so Theodor W. Adorno 1954, »unterlag« die nationalsozialistische Ideologie, »oft einer inneren Zensur, sicherlich aber einer äußeren, der Angst, sich politisch zu demaskieren. In der Nachkriegssituation haben sich daher die nationalsozialistischen Thesen etwas umgeformt«.Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr [1954], in: Ders.: Soziologische Schriften II.2, Frankfurt a.M. 2003, 263. In dem Radiovortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« erklärte Adorno, wie es dazu komme, dass bestimmte Formen der Judenfeindschaft im Nachkriegsdeutschland wiederaufleben. Bei einer Umfrage habe sich herausgestellt, dass »Kinder aus kleinbürgerlichen und zum Teil auch aus proletarischen Kreisen eine gewisse Neigung zu antisemitischen Vorurteilen haben. Wir bringen das damit zusammen, daß die Eltern dieser Kinder seinerzeit zu der aktiven Gefolgschaft des Dritten Reiches gehörten. Sie sehen heute nun sich gezwungen, ihren Kindern gegenüber ihre damalige Haltung zu verteidigen, und werden dadurch fast automatisch veranlaßt, ihren Antisemitismus aus den dreißiger Jahren aufzuwärmen.«Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute [1962], in: Das Argument. 29 (1964), 89–90.
Dieser neue, sekundäre Antisemitismus ergab sich also aus den innerfamiliären Narrativen: Die Generation der Täter_innen versuchte, ihr Verhalten während der Nazi-Zeit zu rechtfertigen, und verwies dabei z.B. auf die »reichen Juden« oder deren angeblichen großen Einfluss während der Weimarer Republik. Die Generation der Kinder übernahm diese Sichtweisen und Stereotype, teils aus Unwissenheit, teils um mit den Eltern nicht in einen Konflikt zu geraten.
Dazu kam eine weitere Motivation, die Adorno in dem Essay »Schuld und Abwehr« ausführlicher behandelte. Auch in diesem Essay ging es um die Besonderheiten der Judenfeindschaft, die erst in der Nachkriegssituation entstanden sein konnte. Bei einer Erhebung habe sich, so Adorno, gezeigt, dass »die furchtbaren Tatsachen der nationalsozialistischen Judenverfolgungen im allgemeinen nicht zu einer radikalen Abkehr vom Antisemitismus geführt«,Adorno: Schuld und Abwehr, 323. sondern vielmehr eine neue Variante des Antisemitismus motiviert hatten. Die befragten Personen waren mitunter keine überzeugten Nazis (mehr). Doch ihre Aussagen offenbarten eine feindselige Haltung gegen Jüdinnen und Juden, weil die befragten Personen Überlebende der Shoah oder generell »Juden« als »Repräsentanten oder Verkörperungen einer unerwünschten oder verdrängten Erinnerung« wahrnahmen.Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2005, 91. Zentral für diesen Erklärungsansatz ist die Annahme, hinter dieser neuen Judenfeindschaft steckten bewusste oder unbewusste Schuldgefühle, eine Schuld, die abgewehrt und auf die Jüdinnen und Juden projiziert würde. So schrieb Adorno grundsätzlich: »Wenn man Schuldgefühle und Verantwortung gegenüber dem von den Nazis Begangenen abwehrt, so bedeutet das nicht nur, daß man sich reinwaschen will, sondern ebenso auch, daß man, was begangen ward, eben doch unrecht fand und darum ablehnt. Wäre das nicht der Fall, so bedürfte es nicht des Eifers der Distanzierung.«Adorno, Schuld und Abwehr, 149–150.
Die Befragten, sei es die Generation der Täter_innen oder deren Kinder, befänden sich demnach in einem Dilemma: Einerseits waren sie über die millionenfachen Verbrechen erschrocken; andererseits versuchten sie ihr eigenes Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus zu rechtfertigen oder fühlten sich ihren Eltern oder ihrem eigenen nationalen Kollektiv verbunden – Adorno spricht mehrmals von der »blinde[n] Identifikation mit der Nation« und der »Gewalt solcher Identifikationsmechanismen«. Um sich weiterhin mit der eigenen, deutschen Nation identifizieren zu können, musste das vielfach »unbewußte Schuldgefühl« abgewehrt werden und wurde auf die Überlebenden der Shoah projiziert.
Antisemitismus bei der 68er-Generation
Die Kritische Theorie hatte bereits zuvor Marx’sche Theorie und Psychoanalyse verknüpft. In dieser Freud’schen Tradition arbeitete Adorno in »Schuld und Abwehr« unbewusste Prozesse heraus, die in den Aussagen nur anklangen. Wenn man sich hingegen mit Texten aus der Neuen Linken beschäftigt, lässt sich die Logik des sekundären Antisemitismus kaum übersehen – auch wenn die Schuldabwehr nicht als treibendes Motiv benannt wurde. Ein gutes Beispiel ist das Bekennerschreiben der Tupamaros Westberlin für die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus. Die Bombe sollte am 9. November 1969 bei einer Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht explodieren und hätte mehrere Gäste, darunter Mitglieder der jüdischen Gemeinde, getötet. In ihrer in der Zeitschrift Agit 883 veröffentlichten Erklärung verwahrten sich die Tupamaros Westberlin dagegen, Anschläge wie diesen »als rechtsradikale Auswüchse zu diffamieren«. Vielmehr sollte gerade die Erinnerung an die Shoah und ein antifaschistisches Vermächtnis dazu dienen, ihre Tat zu rechtfertigen. »Jede Feierstunde in Westberlin und in der BRD« unterschlage, so die Tupamaros, dass »die Kristallnacht von 1938 heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt wird. Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.«Schwarze Ratten TW: Schalom + Napalm [1969], zitiert nach: Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005, 48.
Die Tupamaros Westberlin leugneten demnach, anders als alte Nazis zu der Zeit, nicht die Shoah, sondern riefen die Verbrechen mit Formulierungen wie »Kristallnacht«, »vom Faschismus vertriebenen Juden« und »Volk ausradieren wollen« in Erinnerung. Allerdings projizierten sie diese Vernichtungspolitik auf die Militärpolitik Israels Ende der 1960er Jahre (»sind selbst Faschisten geworden«). Für diese Art der Argumentation brachte Henryk M. Broder in den 1980er Jahren eine Fülle an Beispielen.
Während sich der Antisemitismus in der 68er-Generation mit dem Konzept des sekundären Antisemitismus gut erklären lässt, stellen sich, wenn man diesen Erklärungsansatz generell auf die Israel-Feindschaft in der radikalen Linken anwenden will, einige Fragen. Eine Frage betrifft z.B. den gesellschaftlichen Kontext: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung bezog sich in den 1950er und 1960er Jahren auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft, die noch mehrheitlich von den Nazi-Täter_innen geprägt war. Aber der linke Antizionismus etablierte sich nach dem Sechs-Tage-Krieg nicht nur in Deutschland – und den europäischen Gesellschaften, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert haben –, sondern war und ist ein globales Phänomen. Der zweite mögliche Einwand gegen das Konzept ist für die folgenden Ausführungen zentral: Der Ansatz des sekundären Antisemitismus bezeichnet nicht nur neue judenfeindliche Argumentationen, die erst nach der Shoah benutzt werden konnten (»Die Juden benutzen die Erinnerung an die Shoah als Machtinstrument«), sondern geht zudem von einem bewussten oder unbewussten Schuldgefühl als Motivation aus. Doch selbst wenn man die Annahme einer »blinden Identifikation« mit der Nation für plausibel hält und deswegen unbewusste Schuldgefühle unterstellt, bleibt die Frage, ob die Schuldabwehr das treibende Motiv für den Hass auf Israel gewesen sein muss. Der Antizionismus könnte wie der Antisemitismus in der Linken auch ganz andere Ursachen haben. Eines ist jedenfalls sicher: Als die Neue Linke sich im Laufe der 1970er Jahre den Texten des Marxismus-Leninismus zuwandte,Jens Benicke, Von Adorno zu Mao. Über die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, Freiburg im Breisgau 2006. fand sie in den klassischen Texten seit den 1920er Jahren einen Antizionismus, der zu ihrer eigenen Haltung in keinem Widerspruch stand. Holger Schmidt kritisiert in Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax« ebenfalls das geläufige Bild, erst in Folge des Sechs-Tage-Kriegs sei die Neue Linke auf einen radikalen Antizionismus umgeschwenkt: Vor diesem »Bruch« gab es »zumindest in Teilen bereits eine innere Distanzierung« von Israel.Schmidt, Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax«, 38.
Antizionismus und Krypto-Antisemitismus vor dem Sechs-Tage-Krieg
In seiner Untersuchung zum Antisemitismus von links hat Thomas Haury einen Erklärungsansatz entwickelt, der gänzlich ohne die Motive des sekundären Antisemitismus auskommt – auch wenn diese verstärkend hinzukommen können. Haury beschreibt die Verhaftung von »Zionisten« in der DDR Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre.Thomas Haury, Antisemitismus von links. Nationalismus, kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002. Zeitgleich wurden in der Sowjetunion und der CSR »Zionisten« verfolgt und ermordet. Mit der realen Situation im Nahen Osten oder der Staatsgründung Israels hatte die Zuschreibung »Zionist« nichts zu tun. Der Ausdruck war vielmehr eine Tarnbezeichnung und sollte anzeigen, dass die Verhafteten – unter ihnen prominente Kommunistinnen und Kommunisten – Jüdinnen und Juden waren bzw. aus jüdischen Familien stammten. Artur London, im tschechisch-slowakischen Schauprozess gegen Rudolf Slánský einer der Hauptangeklagten, der nicht zum Tode verurteilt wurde, erinnerte sich später: »Sobald ein neuer Name auftaucht, wollen die Referenten unbedingt erfahren, ob es sich da nicht um einen Juden handelt. Die Geschickteren unter ihnen fragten: ›Wie hieß er vorher? Hat er nicht im Jahr 1945 seinen Namen geändert?‹ […] Der Referent setzt aber dann jedesmal an Stelle der Bezeichnung Jude das Wort ›Zionist‹ ein. ›Wir gehören dem Sicherheitsapparat einer Volksdemokratie an. Das Wort Jude ist eine Beschimpfung. Deshalb schreiben wir ›Zionist‹.‹ Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß ›Zionist‹ eine politische Bezeichnung ist. Er erwidert, das sei nicht wahr, und übrigens seien dies die Weisungen, die er erhalten habe.«Arthur London, Ich gestehe. Der Prozeß um Rudolf Slansky, Hamburg 1970, 219–220.
Haury erklärt diesen antizionistischen Antisemitismus mit der Übernahme des bürgerlichen Nationalismus durch den Marxismus-Leninismus. Bereits Wladimir I. Lenin, ein erklärter Gegner des Antisemitismus und Nationalismus, behandelte in seiner Kritik des Imperialismus und anderen Schriften das Proletariat und die Nation als Identität und setzte beide gemeinsam in Opposition zu einem weltweit operierenden »Finanzkapital«. Unter Josef W. Stalin wurde dieser Nationalismus dann offiziell. Zu einem solchen Nationalismus von links bildete das traditionelle Bild von den »Juden« den absoluten Gegensatz: »Juden« galten im modernen Antisemitismus nicht als Feinde unter vielen, sondern als »Anti-Volk«,Haury, Antisemitismus von links, 461. als das Gegenprinzip zu jedem Nationalismus, als Gruppe, die jegliches Kollektiv »unterwandern« und »zersetzen« würde. So sagte der Staatsanwalt Josef Urvalek im Slánský-Verfahren, die im Rundfunk und Fernsehen übertragenen Schauprozesse sollten »allen kommunistischen und Arbeiterparteien die Gefahr vor Augen« führen, »mit der der Zionismus in seiner Eigenschaft als Büro des amerikanischen Imperialismus sie bedroht. Seit jeher sind die zionistischen Organisationen durch die tausend Fäden der Klasseninteressen mit dem Weltkapitalismus verbunden.«Erster Staatsanwalt Josef Urvalek, zitiert nach: London: Ich gestehe, 311–312.
Entsprechend sei, so der Staatsanwalt, »der Hauptsitz der zionistischen Organisationen« auch nach der Gründung des Staates Israel »weiter in Amerika, wo die Zionisten zahlreiche Anhänger unter den amerikanischen Monopolisten haben«.
Dieser Antizionismus ist weitgehend erforscht. Gleichwohl war der antisemitische Charakter dieses »Antizionismus« Zeitgenoss_innen verborgen geblieben. Denn es wurde selten ausdrücklich von der ›jüdischen‹ Identität der Angeklagten gesprochen. Dieses Phänomen, das die Kritische Theorie »Krypto-Antisemitismus« genannt hat und das auch als »Kommunikationslatenz« bezeichnet wird,Werner Bergmann/Rainer Erb, Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), 223–246. wird oft mit dem sekundären Antisemitismus in eins gesetzt, weil vermutlich zurecht angenommen wird, krypto-antisemitische Aussagen kommen seit 1945 häufiger vor als zuvor. Doch versteckte Formen des Antisemitismus gab und gibt es nicht erst als Reaktion auf die Shoah. Adorno hat in einem Aufsatz von 1945 im Rückblick auf »versteckte Anspielungen« faschistischer Agitatoren in den USA hingewiesen. Diese Codes seien nicht nur eine Reaktion auf gesellschaftliche Tabus oder entsprechende Gesetze, sondern ihr Gebrauch würde die jeweilige Zielgruppe und die Führer zusammenschweißen. »Ein Agitator sagt zum Beispiel: ›Jene dunklen Mächte, Sie wissen schon, wen ich meine‹, und die Zuhörer verstehen sofort, daß seine Bemerkungen gegen die Juden gerichtet sind. So werden die Zuhörer als eine In-Group behandelt, die schon alles weiß, was der Redner ihr sagen will, und die noch vor jeder Erklärung mit ihm übereinstimmt.«Theodor W. Adorno, Antisemitismus und faschistische Propaganda [1946], in: Ernst Simmel (Hg.), Antisemitismus, übersetzt von Heidemarie Fehlhaber, Frankfurt a.M. 2002, 159.
Die Schauprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht die ersten in den sozialistischen Staaten. Zwischen 1936 und 1938 wurde in den Moskauer Schauprozessen fast die ganze Generation der alten Bolschewiki zum Tode verurteilt. Das Ausmaß und die Grausamkeit dieser Schauprozesse sind bekannt.Bini Adamczak, Gestern morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Münster 2007, 47–81. Doch obwohl kein Geringerer als Leo Trotzki auf die subtile antisemitische Hetze gegen ihn, Kamenew und Sinowjew hingewiesen hat, wird dieser Aspekt bislang kaum berücksichtigt: »In der sowjetischen Zeit hat mich nie jemand beim Namen meines Vaters (Bronstein) genannt, genauso wie nie jemand Stalin Dschugaschwili genannt hat. […] Als mein Sohn, Sergei Sedow, jedoch unter die äußerst unglaubliche Anklage gestellt wurde, Arbeiter vergiften zu wollen, kündigte die GPU in der sowjetischen und ausländischen Presse an, dass der ›echte‹ Name meines Sohnes nicht Sedow, sondern Bronstein sei.«Leo Trotzki, Thermidor und Antisemitismus [1937], in: Iring Fetscher (Hg.), Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg 1974, 183–184.
Mit dieser scheinbar harmlosen Richtigstellung wollte, so Trotzki, die stalinistische Fraktion »meine jüdische Herkunft und die halbjüdische Herkunft meines Sohnes herausstellen«. Wenn Trotzki mit seiner Beobachtung recht hat, wäre dieser Verweis auf den angeblich »richtigen« Namen ein Beispiel für Krypto-Antisemitismus – vor 1945.
Antizionismus in der Linken vor 1933
In der Diskussion herrscht die Ansicht vor, der Antizionismus in der politischen Linken vor 1945 sei zwar vermutlich eine falsche Position gewesen, habe aber zu dieser Zeit mit Judenfeindschaft nichts zu tun gehabt. Diese Sichtweise verwundert insbesondere bei Autor_innen, die die sonstige Geschichte des linken Antisemitismus vor 1933 thematisieren.Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg im Breisgau 2007, 319. Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005, 82–83. Für die NSDAP wäre diese Annahme absurd. In seiner ersten großen Rede »Warum sind wir Antisemiten« begründete Adolf Hitler 1920 seinen Hass auf den Zionismus mit seinen antisemitischen Vorstellungen einer »jüdischen Rasse«. »Juden« könnten keinen eigenen Staat aufbauen, so Hitlers Argumentation, weil »Juden« nicht »arbeiteten« und deswegen keine Gemeinschaft und keine Volkswirtschaft aufbauen würden. Stattdessen lebe »der Jude«, so Hitler wörtlich, »in erster Linie als Parasit am Körper anderer Völker, und das mußte so sein; denn ein Volk, das sich der Arbeit nicht selber unterziehen will – der manchmal auch undankbaren Arbeit, einen Staat zu bilden und zu unterhalten – Arbeit zu tun im Bergwerk, in den Fabriken, am Bau u.s.w., alle diese für einen Hebräer so unangenehme Arbeit – solch ein Volk wird sich niemals einen Staat selber gründen«.Adolf Hitler, Warum sind wir Antisemiten [1920], in: Reginald H. Phelps, Hitlers ›grundlegende‹ Rede über den Antisemitismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1968, 405.
Die Vorstellung, dass »Juden« nicht arbeiteten, sondern auf der Seite des Kapitals stünden, fand sich in Veröffentlichungen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) insofern, als »Juden« vor allem als Vertreter des Kapitals dargestellt wurden. Das Zentralorgan der KPD, die Tageszeitung Die Rote Fahne, verwendete bis 1933 unbefangen den Ausdruck »jüdisches Kapital«. Ende der 1920er Jahre benutzte die KPD-Tageszeitung ihn vor allem für den vermeintlichen Nachweis, die NSDAP und die »reichen Juden« würden zusammenarbeiten. Die entsprechenden Überschriften lauteten: »Jüdischer Warenhausbesitzer finanziert Nazipropaganda«, »Hitler proklamiert Rettung der reichen Juden« oder »Nazis für jüdisches Kapital«.»Jüdischer Warenhausbesitzer finanziert Nazipropaganda«, Rote Fahne 174, 29. Juli 1930. »Hitler proklamiert Rettung der reichen Juden«, Rote Fahne 208, 15. November 1931. »Nazis für jüdisches Kapital«, Rote Fahne 7. September 1932. Zur gleichen Zeit verkündete das Zentralkomitee der KPD in einem Text »Kommunismus und Judenfrage«, der einzigen Erklärung zum Thema: Die »Kommunisten bekämpfen den Zionismus genau so wie den deutschen Faschismus«.Zentralkomitee der KPD, Kommunismus und Judenfrage, in: Der Jud‘ ist Schuld...? Diskussionsbuch über die Judenfrage, Basel 1932, 284. Mit Aussagen wie diesen konnte die KPD ein Verbrechen wie die Shoah noch gar nicht relativieren wollen. Aber der Antizionismus der KPD führte bereits Ende der 1920er Jahre dazu, pogromartige Ausschreitungen in Palästina gutzuheißen und mit den jüdischen Mitgliedern der Kommunistischen Partei Palästinas (KP Palästina) nicht mehr solidarisch zu sein. Zwar bezeichnen antiimperialistische Linke erst seit 1948 Israel als »Brückenkopf des Imperialismus«.Schmidt, Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax«, 45. Aber der erste Beitrag in der Roten Fahne zum Zionismus war 1925 betitelt: »Zionismus – Kettenhund des Imperialismus«.»Zionismus – Kettenhund des englischen Imperialismus. Zum Wiener Zionistenkongreß«, Rote Fahne 168, 25. Juli 1925.
Besonders deutlich wurde der antisemitische Charakter dieses Antizionismus nach den pogromartigen Ausschreitungen im britischen Mandatsgebiet Palästina im Spätsommer 1929. Im Laufe von zwei Wochen ermordeten Araber_innen über 100 jüdische Erwachsene und Kinder. Die Gewalt richtete sich nicht vornehmlich gegen Zionist_innen, sondern ebenso gegen ältere jüdische Gemeinden. Joseph Berger, Vorsitzender der KP Palästina, berichtete: »In der Talmudschule von Hebron wurden 60 jüdische Schüler – auch Kinder – getötet und verstümmelt. In der Kolonie Moza wurde eine jüdische Familie samt Frau und Kind abgeschlachtet.«Joseph Berger, Das Blutbad im »Heiligen Lande«, in: Inprekorr 86 (1929). Diese Tatsachen waren innerhalb der KPD bekannt. Otto Heller, Redakteur der Roten Fahne, schrieb 1931 in seinem Buch Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage/Ihre Kritik/Ihre Lösung durch den Sozialismus: »Im August dieses Jahres kam es zum blutigen Araberaufstand, zu großen Judenpogroms, der ersten Frucht der britischen imperialistischen Politik, die sich des Zionismus bedient, um mit seiner Hilfe jene blutigen Konflikte in Palästina, dem nördlichen Brückenkopf des Suezkanals Englands, zu schaffen, die für eine militärische Okkupation dieses Gebiets die notwendigen Vorwände zu bieten.«Otto Heller, Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage/Ihre Kritik/Ihre Lösung durch den Sozialismus, Berlin/Wien 1931, 163.
Obwohl Heller sich gegen den Zionismus aussprach, war der Parteiführung schon die Bezeichnung »Judenpogrom« zu viel. Die Rote Fahne kritisierte in ihrer Buchbesprechung Hellers Wortwahl.»›Der Untergang des Judentums‹. Otto Hellers Buch (Verlag für Literatur und Politik)«, Rote Fahne 30, 6. Februar 1932. In der zweiten Auflage 1933 fehlten die Worte »großen Judenpogroms«.
In Reaktion auf die antijüdische Gewalt verlangte die Kommunistische Internationale von der KP Palästina, sie habe sich zu »arabisieren«. Die KP Palästinas war 1919 von Jüdinnen und Juden gegründet worden, hatte aber auch arabische Mitglieder und vertrat seit 1923 eine antizionistische Position. Dem ZK der KPD galten die jüdischen Mitglieder der KP Palästina 1929 trotzdem als »Zionisten«. Dass Linke nicht zwischen »Juden« und »Zionisten« unterscheiden, ist mithin keine Erfindung der Zeit nach 1945.Schmidt, Antizionismus, Israelkritik und »Judenknax«, 15. Die Kommunistische Internationale bestellte die führenden Mitglieder Ende der 1920er Jahre nach Moskau. Leopold Trepper, Mitglied der KP Palästina, erinnerte sich später an den Widerstand der jüdischen Mitglieder gegen diese Forderung: »als wenn es genügt hätte, in den verantwortlichen Organen einfach die Juden durch Araber zu ersetzen, um automatisch stärkeren Zulauf von Moslems zu haben! […] Bei dem Versuch, die Weisungen von oben buchstabengetreu zu befolgen, wurde einer unserer Kameraden in der Nähe von Haifa gelyncht.«Leopold Trepper, Die Wahrheit. Autobiographie, München 1975, 33–34.
Die meisten jüdischen Mitglieder, die von der Komintern nach Moskau beordert worden waren, wurden in den Jahren der »Großen Säuberung«, 1936 bis 1938, verhaftet und verschwanden in den Gefängnissen und Arbeitslagern. Leopold Trepper überlebte, ebenso wie Joseph Berger, der über 20 Jahre in sibirischen Arbeitslagern zubrachte.Joseph Berger, Shipwreck of a Generation. The Memoirs of Joseph Berger, London 1971. Doch nicht nur die Mitglieder der KP Palästina wurden verhaftet. Mitte der 1920er Jahre hatte die Sowjetunion im fernöstlichen Birobidshan eine jüdische nationale Verwaltungseinheit geschaffen. Mitte der 1930er Jahre wurde der Vorsitzende des Birobidshaner Gebiets-Exekutivkomitees, Josif Liberberg, verhaftet. Die Anklage gegen ihn bildete, so der Historiker Mario Keßler, Mitglied der Linkspartei, den Auftakt zu einem staatlich verordneten Massenmord im jüdischen autonomen Gebiet und mit der Auflösung nahezu aller autonomen Körperschaften der sowjetischen Jüdinnen und Juden. Keßler kommt zu dem Schluss: »Der Stalinsche Terror richtete sich gegen jüdische Kommunisten zwar nicht unmittelbar als Juden. Indem jedoch der Antisemitismus als Mittel diente, um sie zu diskreditieren, verschlechterte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion insgesamt.«Mario Keßler, Der Stalinsche Terror gegen jüdische Kommunisten 1937/1938, in: Ders., Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus. Arbeiterbewegung und jüdische Frage im 20. Jahrhundert, Mainz 1994, 2. Auflage, 129.
Keßler vertritt eine ähnliche Position, wie sie Trotzki 1937 formuliert hatte: Die Judenfeindschaft war nicht das alleinige Motiv für die Verfolgungen von Jüdinnen und Juden während der Moskauer Schauprozesse. Aber der Antisemitismus wurde als probates Mittel zur Legitimation eingesetzt. Aus heutiger Sicht wäre zu fragen, seit wann diese Konsequenz des linken Antizionismus unverkennbar war: 1929, 1937, erst während der Schauprozesse in den 1950er Jahren oder nach 1969?
Antizionismus in der Linken heute
Die Auseinandersetzung mit der Israel-Feindschaft innerhalb der radikalen Linken konzentriert sich auf die Weigerung, die Notwendigkeit eines jüdischen Staates nach der Shoah anzuerkennen. Entsprechend schreibt Holger Knothe, dass sich Attac Deutschland in dem Dilemma »der gleichzeitigen Verdammung des Antisemitismus und der Berufung auf den Antizionismus« befinde.Knothe, Eine andere Welt ist möglich, 92. Timo Stein führt den Antisemitismus ebenfalls auf die »Ignorierung der historischen Zäsur, die mit dem Namen Auschwitz verbunden ist«, zurück. »Die Linke musste also, wollte sie weiterhin einen Antizionismus propagieren, der das Existenzrecht Israels negiert, die Judenvernichtung verdrängen.«Stein, Zwischen Antisemitismus und Israelkritik, 73. Doch die fehlende Anerkennung des Existenzrechts ist nur ein Problem unter vielen. Sich nur auf das Versagen der Linken nach 1945 zu beziehen, ignoriert die längere Vorgeschichte des linken Antizionismus. Es müsste aufgearbeitet werden, weshalb die Kommunistische Internationale Ende der 1920er Jahre sich nicht für einen gemeinsamen Staat der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen einsetzte, sondern nach dem Pogrom 1929 weiterhin »Palästinas Befreiungskampf«»Palästinas Befreiungskampf. Von Albert Norden«, Rote Fahne 172, 6. September 1929. unterstützte, bei dem Jüdinnen und Juden, selbst die in der KP Palästina, im Weg waren. Diese Geschichte ist nicht überwunden, und im heutigen linken Antizionismus überlagern sich drei Traditionslinien, die zu ähnlichen Konsequenzen führen und deswegen schwer auseinanderzuhalten sind. Die erste Ebene bildet eine linke Israel-Feindschaft, die mit den Motiven des sekundären Antisemitismus und einer eher unbewussten Identifikation mit Deutschland und der Tätergeneration verknüpft ist. Die zweite Ebene ist nicht durch einen unbewussten, sondern durch einen ganz bewussten Nationalismus gekennzeichnet, eine Art »Befreiungsnationalismus«, der als Antiimperialismus eine Gruppe von Nationen (»unterdrückte Völker«) gegen andere Nationen (»die Imperialisten«, die USA und »den Zionismus«) verteidigen will. Die Vertreter_innen dieses linken Nationalismus erkennen in der israelsolidarischen Linken lediglich ihr Spiegelbild: Sie selbst stehen an der Seite Palästinas, die anderen an der Seite Israels. Diese zweite Traditionslinie wird zwar durch Motive wie des sekundären Antisemitismus wie Erinnerungs- und Schuldabwehr noch bestärkt. Aber sie bestand bereits vor 1945.
Die dritte Ebene ist heutzutage schwer nachzuweisen, weil ein Ausdruck wie »jüdisches Kapital« seit 1945 tabuisiert ist; ähnliche Vorstellungen kehren in Ausdrücken wie »jüdische Lobby« wieder. In der historischen Entwicklung lässt sich jedoch zeigen, dass der linke Antizionismus mit dem zusammenhing, was die KPD noch 1932 unbekümmert die »Judenfrage« genannt hatte; und die Haltung der KPD zur »Judenfrage« basierte auf den personifizierten Vorstellungen von Arbeit und Kapital. Zionismus galt der KPD als »Kettenhund des Imperialismus«, und die jüdischen Mitglieder der KP Palästina als »Zionisten«, weil »Juden« durch ihr besonderes Verhältnis zum Kapital definiert sein sollten. Diese Traditionslinie des Antizionismus und Antisemitismus ist mit der Form des Antikapitalismus, der Neigung zu Verschwörungstheorien und dem »Juden«-Bild innerhalb der Linken verbunden. Es liegt an diesen drei Ebenen und ihrer Verbindung, dass das Problem, das Antisemitismus heißt, auch innerhalb der Linken nicht verschwindet.
Olaf Kistenmacher
Der Autor ist Historiker aus Hamburg. Der Text basiert auf einem Diskussionsbeitrag bei der Veranstaltung »Das Problem heißt Antisemitismus. Duisburg, die Linke und die ›Israelkritik‹«, mit Alex Feuerherdt, Sebastian Mohr und Sebastian Voigt, am 5. Oktober 2011 in Duisburg.