Im Angesicht der faschistischen Bedrohung hat Walter Benjamin eine berühmte – und vielerorts strapazierte – Einsicht formuliert, die die politischen Implikationen von Geschichtsdeutungen hervorhebt: »Vergangenes historisch artikulieren«, so Benjamin, »heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.« Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders., Illuminationen. Frankfurt a. M. 1955, 270. Zu keiner Zeit geht es bei der Auseinandersetzung mit Geschichte also um »Objektivität«, sondern vielmehr geht es um das »Überleben« gesellschaftlicher Gruppen und Interessen. Unter dem Begriff der »Geschichtspolitik« ist eine Praxis erfasst, die nach dem vermeintlichen »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) bewusst die Instrumentalisierung historischer Deutungsmuster betreibt. Für die Frage nach der Fortsetzung antikommunistischer Politik, Geschichtsschreibung und Denkweise scheint ein Blick auf das bald den 20. Jahrestag seiner Wiedervereinigung feiernde Deutschland viel versprechend – allerdings auch recht spezifischer Natur. Obwohl über 40 Jahre Produkt einer latenten »Sowjetisierung«, Konrad H. Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt a. M./New York 1997. kommt der DDR aufgrund ihres kapitalistischen siamesischen Zwillings im Zusammenhang mit dem »Ostblock«, dem ehemaligen kommunistischen Hegemonialbereich, eine Sonderstellung zu. Diese jedoch ermöglicht es, im Brennglas einer vorgeblich wiedervereinigten deutschen Gesellschaft, das Phänomen des »Antikommunismus nach dem Realsozialismus« eingehender zu untersuchen und zu beschreiben. Eine Sonderstellung, die nicht zuletzt eine selbstgefällige nationale Praxis reflektiert, welche die übrigen osteuropäischen Länder und Nationen getrost übergehen zu können glaubten, um das historische Phänomen des »real existierenden Sozialismus«, seine Wurzeln und Auswüchse, seine Zusammenhänge und seine Widersprüchlichkeiten verstehen zu können. HistorikerInnen kommt hierbei eine politische Funktion zu.
Für diese Einschätzung spricht auch der »Vorbildcharakter«, den der Staatsminister und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, in der Debatte über die »Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption« im Deutschen Bundestag am 13. November 2008 der Birthler-Behörde bei der »Aufarbeitung der SED-Diktatur in ganz Europa« zusprach. Die Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung war letztmals im Jahr 1999 beschlossen worden. Rede Neumanns unter http://www.bundesregierung.de/nn_23376/Content/DE/Rede/2008/11/2008-11-13-rede-neumann-bundestag-gedenkstaetten.html. Hat die Bundesrepublik bereits international und vor allem im »Westen« angesehene Zeichen bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gesetzt, so versucht sie diese Zeichen in der Jetztzeit des Post-Kommunismus auch in den »Osten« Europas zu senden. Ein würdiges Gedenken der »Opfer vor allem am Ort ihrer Leiden« sei das »Fundament der Erinnerung«; dieses »Verständnis der eigenen Geschichte trägt zur Identitätsbildung jeder Nation bei«, wie die »Unterrichtung« Neumanns weiß. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/9875 »Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien« vom 19.06.08, nachzulesen unter http://www.bundesregierung.de.
Fragwürdig an diesen deutschen »Normal«-Zuständen war, ist und bleibt die Gleichsetzung von Drittem Reich und »Realsozialismus« wie auch die nationale Identitätsstiftung über den »Zivilisationsbruch«. Allzu einseitig erscheint darüber hinaus eine Interpretation, wonach die postkommunistische Welt an einer deutschen Erinnerungskultur genesen würde. Ebenso wenig spricht aus Neumanns Worten eine »Orientierungslosigkeit« und »Ungewissheit«, wie sie der konservative Historiker und Kanzlerberater Michael Stürmer kurz vor Beginn des »Historikerstreits« von 1986 noch konstatierte, um sie mit der Forderung nach einer »neue[n] Suche nach der alten Geschichte« zu verknüpfen. Auschwitz sollte damals als kurze Episode einer Nationalgeschichte erscheinen und das Ende des »deutschen Sonderwegs« einläuten. Michael Stürmer, Geschichte in einem geschichtslosen Land, in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, 3. Auflage, München 1987, 36-38. Heute umgehen die RednerInnen in der Arena der Geschichtspolitik Auschwitz nicht mehr. Vielmehr fungiert es als konsensualer Dreh- und Angelpunkt, um die »zweite deutsche Diktatur« »aufzuarbeiten« und die endgültige »Ankunft« (Heinrich August Winkler) im Westen zu zelebrieren. Zu kurzsichtig blicken demgegenüber aber auch »kritische« BetrachterInnen, wenn sie einzig der Totalitarismustheorie Wirkungsmächtigkeit in diesem Feld unterstellen. Wie kam es dazu und wie können sich KritikerInnen angesichts derartiger Selbstverortungsversuche hier positionieren?
Seit dem Niederfall der Gesellschaften des Warschauer Paktes vor dem westlichen Zivilisierungsmodell geistern sie hierzulande weitgehend orientierungslos umher. Eigentliche, Jahrzehnte zurückreichende Grundlagen hat selten jemand plastischer erfasst als Heiner Müller (1929–1995). In der ersten Szene »Nächtliche Heerschau« seiner Germania 3 lässt er Ernst Thälmann und Walter Ulbricht, deren »Geist« – mag man sich dessen bewusst sein oder nicht – heute noch »unter uns ist«, an der Berliner Mauer zusammenkommen. Thälmann spricht: »Das Mausoleum des deutschen Sozialismus. Hier liegt er begraben. Die Kränze sind aus Stacheldraht, der Salut wird auf die Hinterbliebenen abgefeuert. Mit Hunden gegen die eigene Bevölkerung. Das ist die rote Jagd. So haben wir uns das vorgestellt in Buchenwald und Spanien.« Und Ulbricht fragt: »Weißt Du was Besseres«, was sein Gegenüber mit einem »Nein« quittiert. Heiner Müller, Germania 3. Gespenster am toten Mann, 2. Auflage, Köln 1996, 7.
Exakt jenes Zwiegespaltensein zwischen Erbe und Zuversicht bestimmte auch Müllers persönliche Sicht auf den »Staat auf Widerruf, eine Ableitung der Sowjetunion, militärisches Glacis im Westen, schwer zu halten gegen den ökonomischen Sog des anderen reicheren Deutschland, schwer aufzugeben wegen der zunehmenden Unsicherheit des polnischen Zwischenraums«: die DDR. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln 1994, 362.
Das Oszillieren zwischen abgeschüttelter wie aufgeladener Unterdrückung, zwischen der Schande der Tyrannei und dem Hoffnungsschimmer utopischer Erlösung, das Müller der DDR und ihrer Existenz zuschrieb, ist nach ihrem Ende einer einseitigen Interpretation gewichen, die von einem vermeintlich »ideologiefreien« Zeitgeist getragen wird. Dabei ist sie stehen geblieben, die Zeit, wenn (renommierte) WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und andere weiterhin einzig auf den diktatorischen oder totalitären Charakter jenes »anderen Deutschland« und seiner »Bruderstaaten« verweisen. Dem kritischen Betrachter aber sollte dieser konsensuale Blick auf den »Unrechtsstaat« bekannt vorkommen, scheint er doch direkt aus den ideologischen Schützengräben des Kalten Krieges herauszuhallen.
Verdammung wie Verherrlichung des ersten »Arbeiter-und-Bauern-Staates« der deutschen Geschichte offenbaren gleichermaßen das Verkennenwollen historischen Geschehens. Wer heute meint, jegliche kritische Auseinandersetzung mit dieser Diktatur spiele der offiziellen Politik und ihrer Ideologie in die Hände, sitzt vor allem einer ominösen »Diskursangst« auf, die sich jeder differenzierten Betrachtungsweise verweigert.
Wie ist es zu erklären, dass der in den Jahren 1989/90 entstandene »Müllhaufen der Geschichte« (Hermann Lübbe) einen solchen »Chock« (Walter Benjamin) auslöste? Seinerzeit hatte niemand diese Entwicklung vorausgesehen. Auf der einen Seite schlug die Überraschung schnell in Euphorie und Freude um, die ihrerseits Feuerwalzen durch die neue Bundesrepublik schickte und Sonnenblumenhäuser in Flammen aufgehen ließ. Auch die linken KritikerInnen des Ostblocks, die zeitlebens bekannten, niemals »nach drüben« gehen zu wollen, zeigten sich vom Zusammenbruch sichtlich irritiert und verfielen in eine unübersehbare Identitätskrise – Indiz dafür, dass ihnen die DDR näher gewesen ist, als sie sich eingestehen konnten oder mochten. Der Kalte Krieg auf dem militärischen Schlachtfeld war ausgefochten; nun begann der »Kalte Krieg der Köpfe« – über die Deutung des »Jahrhunderts der Diktaturen«, wie die eine Seite betonte, während die KritikerInnen den Nexus von Ursache und Wirkung differenzierter hervorhoben: Erst die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hätten eine zweistaatliche Nachkriegszeit eröffnet, deren Ende nun besiegelt und in eine »Geschichtsschreibung der Sieger« übergehen würde.
»Ostalgie« – ein Phänomen übrigens, dem die fragwürdige Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung ebenfalls zu begegnen trachtet – und der immer wieder laut werdende Vorwurf, die fünf neuen Bundesländer seien mit der Wiedervereinigung gleichsam kolonisiert worden, verweisen auf einen breit gestreuten, gesellschaftlichen »Antirealismus der Gefühle«. Sie reflektieren eine Einseitigkeit, die nicht zuletzt durch die Tatsache gestützt wird, dass die professionelle »Aufarbeitung der DDR« auch 20 Jahre nach ihrem Zusammenbruch zumeist noch von westdeutschen ForscherInnen betrieben wird. Angesichts solch offenkundiger historischer Siegerjustiz stellt sich, frei nach Alexander Kluge, die Frage, ob die Toten wirklich tot sind oder nicht vielmehr unter dem Deckmantel einer sich inzwischen über jeden Ideologie-Verdacht erhaben wähnende Zunft wieder und weiter ermordet werden: »Wir aber haben in unserem Land die Tradition, eine ganze Traditionskette, dass das Neue gemacht wird, wenn es nicht sein muss. Und umgekehrt, wenn es sein muss, es noch längst nicht gemacht wird, sondern gewaltsam unterdrückt wird. […] Es geht nicht darum, immer neue Anfänge zu setzen und diese dann abzubrechen. Dieses Prinzip der Diskontinuität zur Geschichte ist ein spezifisch deutsches Rezept für verheerende Katastrophen.« Alexander Kluge, Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle, in: Thomas Böhm-Christl (Hrsg.), Alexander Kluge, Frankfurt a. M. 1983, 318.
Nicht herauszukommen aus den Gräben längst geschlagener Schlachten, scheint eine spezifisch deutsche Geisteshaltung zu beschreiben. »Wir werden vieles über das neue Deutschland aus seinen Interpretationen der alten Deutschen Demokratischen Republik lernen«, hatte 1994 der amerikanische Historiker Charles S. Maier gemutmaßt. Charles S. Maier, Geschichtswissenschaft und »Ansteckungsstaat«, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), 624. In der Mehrzahl bewegten und bewegen sich die »neudeutschen« Interpretationen und Bewertungen im Fahrwasser scheinbar längst aufgegebener Deutungskonflikte, die den diktatorischen Charakter – mit Zusätzen wie totalitär, autoritär, modern, erzieherisch, etc. – pointierten, auch wenn sie insgesamt ein durchaus widersprüchliches DDR-Bild entstehen ließen. Nicht zu unterschätzen war (und ist) der antitotalitäre Konsens zwischen Politik und Wissenschaft – und damit auch der Gesellschaft ?, der sich unmittelbar nach dem Niedergang der Staaten des Warschauer Paktes entspann. Schließlich hatte die Totalitarismustheorie, die in der Hochzeit des Kalten Krieges mit eindeutig antikommunistischer Stoßrichtung populär geworden war und den »Ostblock« dämonisierte, seit Beginn der »Entspannungspolitik« der siebziger Jahre ausgedient.
Weil man aus der Geschichte gelernt habe, so der Duktus in Erklärungen der Regierung Helmut Kohls nach den Umbrüchen von 1989/90, gelte es nun, die »zweite deutsche Diktatur« umgehend aufzuarbeiten. Nebst konservativen VertreterInnen in (historischen) Kommissionen, die sich jener Aufgabe widmeten, engagierten sich dabei diejenigen, die einige Jahre zuvor noch einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatten, als sie den »deutschen Sonderweg« kreierten. Zwar verwiesen Personen wie Jürgen Kocka auf die einzigartigen Verbrechen des Nationalsozialismus, förderten jedoch gleichzeitig die Ausstrahlung des Totalitarismuskonzepts. Karl Heinz Roth, Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie, Hamburg 1999, 90 ff. Dessen Repräsentanten ereiferten sich über KritikerInnen und unterstellten ihnen, marxistischen Ansichten anzuhängen und »faktisch ein Vergleichsverbot« zwischen »roter« und »brauner Diktatur« zu errichten, wie zwei der heute noch führenden Protagonisten 1992 betonten. Uwe Backes/Eckard Jesse, Totalitarismus und Totalitarismusforschung, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 4 (1992), 24. Während nun westdeutsche Institutionen – von den ostdeutschen ganz zu schweigen –, die über Jahrzehnte ein vielschichtiges und differenziertes Bild über die DDR und ihre Bruderstaaten entworfen hatten, abgewickelt wurden, sprossen Einrichtungen aus dem Boden, die das Bild vom »roten Holocaust« mit beschworen.
Einen ihrer Höhepunkte erlebten die Debatten im Jahr 1998 mit dem Erscheinen des Schwarzbuches des Kommunismus. Stéphane Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, Bd. I: Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998. Darin wurde der verbrecherische Charakter sämtlicher kommunistischer Regimes abgehandelt, indem die Herausgeber Millionen von Toten – eine Ursachendifferenzierung blieb aus – zu deren Opfern addierten. Jenes eindeutig tendenziöse Werk erschien in einer Bundesrepublik, in der sich der Staub der »Goldhagen-Debatte« über den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen soeben wieder gesetzt hatte und die ihrem »Antifa-Sommer« des Jahres 2000 entgegenging. Es erfreute sich breiter medialer Rezeption. Andreas Dietl/Stefan Voigt, Deutsche Reaktionen, in: Jens Mecklenburg/Wolfgang Wippermann (Hrsg.), »Roter Holocaust«? Kritik des Schwarzbuches des Kommunismus, Hamburg 1998, 40?50.
Demgegenüber blieben die Versuche weitgehend unbeachtet, den Alltag, besser noch: die Alltage in den Staaten des Ostblockes einzufangen, um die »Grenzen der Diktatur« zu verorten. Sich eines dynamischen Herrschaftsmodells, wie es von Max Weber entworfen wurde, bedienend, gingen HistorikerInnen – einige entstammten den Neuen Sozialen Bewegungen – daran, »die komplizierte Wechselwirkung […] zwischen dem totalen Geltungsanspruch der Diktatur und den auf die einwirkenden, zum Teil von ihr selbst geschaffenen, aber nicht immer von ihr kontrollierten Umweltbedingungen zu beschreiben«. Richard Bessel/Ralph Jessen, Einleitung, in: Bessel/Jessen, Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, 7; grundlegend Alf Lüdtke, Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36 (1998), 11 ff. Eben dieser Versuch einer differenzierteren Betrachtungsweise wird aber immer wieder der »Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur« verdächtigt.
Zwar hebt auch die neue Gedenkstättenkonzeption des Bundes auf den Alltag ab, sie pointiert aber einzig die Frage nach Widerstand und Entzug der Individuen gegenüber der Diktatur – als Zeichen für eine Fortführung der »historisch objektiv entwerteten Vergangenheit«. Wolfgang Engler, Die ungewollte Moderne. Ost-West-Passagen, Frankfurt a. M. 1995, 8. Wie die heftige Debatte um das Papier zu einer Neujustierung der »Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit« – vorgelegt von einer neunköpfigen Expertenkommission unter Leitung des Potsdamer Historikers Martin Sabrow im Mai 2006 –, zeigt, Martin Sabrow u.a. (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007. bestehen die politischen Fronten wie die Intensität der Auseinandersetzung auch 17 Jahre nach dem Zusammenbruch des anderen, (selbstproklamierten) »antifaschistischen Deutschlands« fort.
Verwahrte Sabrow sich selbst gegen ein »politisches Lagerdenken«, Martin Sabrow, Öffentliche Aufarbeitung und fachliche Verantwortung, in: Deutschland Archiv 39 (2006), 1083–1086. dessen Gegensätze die Geschichte Deutschlands im »kurzen« 20. Jahrhundert auf paradigmatische Weise bestimmt hat, wirft diese Diskussion Fragen auf, inwieweit das Schreckgespenst des Kommunismus auch weiterhin seine Wellen in der politisch-geistigen Landschaft dieses Deutschlands schlägt, das sich am Ende seiner Geschichte angekommen wähnt.
Plädierte auch die aus neun, beinahe gleichteilig aus Ost- und Westdeutschland stammenden und zu gleichen Anteilen (aber nicht ausschließlich) beiden großen Volksparteien nahestehenden Fachleuten zusammengesetzte Expertenkommission unter Vorsitz Sabrows für einen »Paradigmenwechsel« der DDR-Aufarbeitung – weg von der »politischen Delegitimation« hin zu einer »kritischen Historisierung« –, wurde sie dafür sogleich der politischen Schlagseite bezichtigt. Die Kritik einer vorgeblichen »Homöopathisierung« der Diktatur folgte im Grunde dem Muster, dass eine »linke Regierung« (die rot-grüne Koalition) eine »linke Historikerkommission« eingesetzt habe, um die DDR »weichzuspülen«. Hubertus Knabe, Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens, in: Die Welt vom 8. Mai 2006. »Anachronistisch« und »in die Deutungskämpfe der ersten Jahre nach dem Untergang des SED-Staates zurückzuführen«, schien selbst Sabrow die Kritik an seiner Kommission. Martin Sabrow, Das letzte Donnern. Erinnerungslandschaft DDR. Zum Streit um die Empfehlungen der Expertenkommission, in: Der Tagesspiegel vom 29. Mai 2006. Und in der Tat konnten sich auch unabhängige BetrachterInnen dieses Eindrucks nicht erwehren, zielte ein Teil der Kritik doch darauf, dass ihr weder VertreterInnen des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin noch des Dresdener Hannah-Arendt-Instituts angehört hätten. Wohl lässt sich mutmaßen (und das ist auch geschehen), dass sich der Streit vor allem an der Verteilung von Fördermitteln entzündete, nicht zu übersehen ist jedoch, dass die drei genannten Einrichtungen als Befürworter der Totalitarismustheorie bekannt sind. Und so fehlte auch diesmal nicht der Fingerzeig, dass die Kommissionsempfehlungen unter anderem »die Zeit der Diktaturdurchsetzung in der SBZ, […] die sowjetischen Speziallager, die Todesurteile, Erschießungen und Menschenverschleppungen der fünfziger Jahre« ignoriert hätten, Jochen Staadt, Kollision der Fachleute. Die Einrichtungen zur DDR-Aufarbeitung sollen neu geordnet werden, in: FAZ vom 13. Mai 2006; auch Horst Möller, Trabi, Stasi, Kinderkrippen, in: Rheinischer Merkur vom 22. Juni 2006. allesamt Argumente, die wohl für jenen Zeitraum geltend gemacht werden können, kaum jedoch für die gesamte, vierzigjährige Dauer der DDR, darüber hinaus – und für den hier zu diskutierenden Zusammenhang vielleicht noch wichtiger – auf einen antikommunistischen Kanon verweisen, der die DDR als »Ableitung der Sowjetunion« gelten lassen will.
»Die Stasi dürfte doch wohl charakteristischer für die DDR gewesen sein als die Kinderkrippen!«, brachte der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte Horst Möller, der sich bereits als Laudator des im Jahre 2000 mit dem Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland-Stiftung e.V. ausgezeichneten Ernst Nolte Ernst Nolte hatte im Juni 1986 mit seinem, in der FAZ veröffentlichten Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will« den »Historikerstreit« ausgelöst. Im Jahre 2000 hatte Angela Merkel es abgelehnt, die Laudatio auf Nolte zu halten. hervorgetan hatte, die konservative Kritik am zentralen (methodologischen) Streitpunkt der Diskussion auf den Punkt. Horst Möller, Trabi, Stasi, Kinderkrippen, in: Rheinischer Merkur vom 22. Juni 2006. Während die Kommissionsempfehlungen eine bis dato starke Fokussierung auf die »Repression« beklagt hatten und nun für eine stärkere Ausrichtung auf den »Alltag« in der Diktatur warben – erklärtermaßen nicht, um die Erfahrungsperspektiven der Diktatur zu verharmlosen, sondern um ihre Funktionsmechanismen genauer auszuloten (die Frage sei erlaubt: wie stellt sich jemand, der den Alltag für »eine Fülle von anthropologischen Konstanten, baren Selbstverständlichkeiten oder aber durchaus interessanten, jedoch für die politische Herrschaft zweitrangigen Bereichen« hält, Horst Möller, a.a.O. eigentlich die Praxis jener und jeder »politischen Herrschaft« vor?) – lehnten ihre KritikerInnen diese Tendenzwende rundweg ab. Für sie blieb die DDR, »was sie immer war – ein totalitäres Regime, mit unsäglich vielen Opfern«. Ines Geipel, Kleine, graue, miese DDR. Das Expertenpapier zur Aufarbeitung der SED-Diktatur markiert keinen Paradigmenwechsel, in: Die Welt vom 10. Juni 2006.
Gestattet sei ein weiterer Kommentar zu solch fahrlässiger, historischer »Gleichschaltung«: »Ein totalitäres Regime, mit unsäglich vielen Opfern« – das war der Nationalsozialismus. Für die DDR ist diese Behauptung nicht haltbar: Kaum wird man ihr mit den Kollektivierungs- und Homogenisierungskampagnen eine gezielte Ausrottungs- und Vernichtungspolitik unterstellen können, kaum auch wird man die Millionen Toten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und die Abermillionen Toten des von ihnen angezettelten Vernichtungskrieges mit den Mauertoten und Opfern der politischen Repression in der DDR – ohne deren Leid herabmindern zu wollen – vergleichen können. Selbstverständlich ist und muss die Geschichtswissenschaft mehr sein als eine quantitative Wissenschaft, muss sie eine kritische und damit auch politische Funktion wahrnehmen, die Aussagen, wie sie in der Stellungnahme der Verbände der Verfolgten in der SBZ und DDR zu den Empfehlungen der Expertenkommission artikuliert werden – dass »die DDR ohne Mauer und Unterdrückungsapparat nicht lebensfähig war und deshalb im Herbst 1989 entsprechend sang- und klanglos zusammenbrach« Stellungnahme der Verbände der Verfolgten in der SBZ und DDR zu den Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 29. Mai 2006. –, bei allem Verständnis für die Opfer nicht für bare Münze nimmt oder als unhintergehbare Axiome postuliert, sondern zum Ausgangspunkt kritischen Interesses an der Geschichte der Diktatur bestimmt. Solange dies nicht der Fall ist, hat sich auch das »Gespenst des Kommunismus« als Mittel eines Mobilisierungsinstruments nicht erledigt. Natürlich wird die politische Zuordnung und Ausrichtung in einer posthistorisch sich gebärdenden Wissenschaft immer undeutlicher, proklamiert selbst Sabrow trotz aller Kritik und in Verkennung ihres politischen Subtextes das »Ende der ›großen Gesänge‹« in »unserer nachideologischen Zeit« Martin Sabrow, zitiert nach Heinz Niemann, Wer jagt den rosaroten Panther? Der Historiker-Streit um die DDR. Differenzierung, Trivialisierung oder Dämonisierung, in: Neues Deutschland vom 4. November 2006. – nicht zu leugnen ist jedoch, dass die Dämonisierung des Kommunismus ein Lackmustest deutscher Gesinnung bleibt.
Geboten scheint demgegenüber, keiner Verklärung jener epochalen Bewegung aufzusitzen, die eine »ganze Bevölkerung« – »eine ganze Bewegung« wäre dem hinzuzufügen – »zu Gefangenen der Toten« machte. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, 364. Jene Toten entsprechen zwar keinen Gespenstern, dafür aber »Geistern« (Hermann L. Gremliza), die an der Irrealität des Vergangenen hängen und den distanzierten Blick auf jene Zeit verstellen. »In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«, wie Benjamin schreibt. Um seinen Gedanken fort zu spinnen, wären zusätzlich der eigene Konformismus und dessen (selbst-)beschränkende Wirkung zu hinterfragen. Ob vielleicht dadurch der »Funken der Hoffnung anzufachen« ist, bleibt dennoch dahingestellt. Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, 270.
~ Von Jan Kiepe und Tilmann Siebeneichner. Die Autoren arbeiten als Historiker.