Im letzten Jahr hat sich innerhalb der Interventionistischen Linken (iL) Einiges getan. Im Oktober wurde ein Zwischenstandspapier veröffentlicht, in dem vor allem strategische und auch einige politische Leitlinien festgelegt sind. Um es kurz zusammenzufassen: Die iL soll nicht nur ein Bündnis, sondern eine bundesweite Organisation sein. Verschiedene langjährig bestehende Politgruppen haben bereits ihre Auflösung und völlige Integration in die iL verkündet. Die Gruppe Prisma aus Leipzig ist seit 2014 ebenfalls in der iL organisiert. Phase 2 traf sich mit Vertreter_innen der Gruppe zum Interview im virtuellen Raum.
Phase 2: Was hat euch dazu bewegt, Teil von der iL zu werden? Für welche Inhalte steht ihr als Prisma und wozu braucht es dafür eine bundesweite Organisation?
Prisma: Unsere inhaltliche Ausrichtung ähnelt dem, was sich sonst so innerhalb der deutschen und europäischen Linken finden lässt. Wir beschäftigen uns zum Beispiel mit Antirassismus, Queer-Feminismus und versuchen, uns einer möglichst umfassenden Analyse des Kapitalismus und seiner Konsequenzen auf unsere Leben und Gesellschaften zu nähern. Das ist der grobe Rahmen, in dem wir uns bewegen. Auf einer höheren Ebene heißt politisch aktiv sein für uns auch, sich als Teil einer globalen Bewegung zu verstehen, die an möglichst vielen Ecken und auf verschiedene Weisen für die »befreite Gesellschaft« kämpft. Und wir sind der Auffassung, dass eine Veränderung von der jetzigen Gesellschaft hin zu einer, die wir besser finden, vor allem darüber funktioniert, dass sich viel mehr Menschen mitverantwortlich fühlen, die Zustände um sie herum wahrzunehmen, zu kritisieren und zu verändern.
Wir finden aber eine Situation vor, in der sehr wenige Menschen tatsächlich an Diskursen partizipieren und sich viele mit dem Rahmen, der ihnen vom Kapitalismus vorgegeben wird, zufrieden geben. Sie fragen also nicht nach, was es außer dem lückenlosen Lebenslauf und einem geregelten Arbeitsalltag in der Kleinfamilie oder alleine noch so geben könnte. Viele Leute entwickeln keine Utopien, und nicht wesentlich mehr Leute bringen sich in soziale Auseinandersetzungen ein, in denen Veränderungen errungen oder Alternativen entwickelt werden können. Einer unserer Ansprüche ist also in den Feldern, mit denen wir uns beschäftigen, mehr Menschen einen Zugang zu klassisch linken Themen zu ermöglichen, möglichst viele Menschen dazu zu bringen, sich mit den Widersprüchen, mit denen sie täglich konfrontiert sind, auch zu beschäftigen.
Das versuchen wir jetzt in Leipzig seit zwei Jahren und es klappte von Anfang an auch ganz gut. Trotzdem sind wir uns bewusst, dass es nicht ausreicht, nur an einem Ort politisch aktiv zu sein und nur an einem Ort zu versuchen, Widersprüche zuzuspitzen. Dazu kommt, dass sich viele Auseinandersetzungen auf einer anderen als der lokalen Ebene abspielen und wir also eh mit Gruppen und Zusammenhängen in anderen Städten oder Ländern in Kontakt treten müssen. Und eine überregionale Organisierung, in der es einige verbindliche Absprachen und Grundlagen für die gemeinsame Arbeit gibt – wie etwa das Zwischenstandspapier –, helfen dabei, nicht bei jedem Anlass neu einen Zusammenhang schaffen zu müssen, in dem einmal gegen die Verschärfung des Asylrechts und ein andern Mal gegen Sozialabbau im Namen der Krise gearbeitet wird.
Natürlich ist der Ansatz, linke Politik zugänglicher zu machen kein Neuer. Viele Leute vor uns haben sich ähnliche Gedanken gemacht wie wir und einige Versuche hinter sich, von denen einige gescheitert sind und andere zu Gruppen geführt haben, die es heute noch gibt. Sich als neue Gruppe nicht mit diesen Menschen und Zusammenhängen zu vernetzen und so von deren Erfahrungen zu profitieren, scheint uns beinahe fahrlässig. Den Prozess der iL, von einem Netzwerk langsam zu einer organisationsähnlichen Struktur zu kommen, fanden wir von Anfang an sehr interessant, und auch die Art des Aktivismus und der inhaltliche und aktionistische Ausdruck der iL in den letzten Jahren ähnelt unserer lokalen Praxis.
Phase 2: Ihr sprecht es an: ähnliche Versuche gab es in der Geschichte der Linken bereits häufiger. In dem Zwischenstandspapier heißt es, dass die iL keine Partei und kein »schwerfälliger Apparat« sein soll. Gleichzeitig fordert ihr strenge Kaderdisziplin ein, wenn ihr den einzelnen Mitgliedern vorschreibt, dass die iL immer der »primäre Ort« der Betätigung sein muss, die einzelnen Gruppen ihre Namen aufgeben sollen und es in jeder Stadt nur eine iL Basisgruppe geben sollte. Das klingt alles ziemlich nach einer straffen Organisation. Was unterscheidet euch von den K-Gruppen der siebziger Jahre und wie vermeidet ihr es, all eure Kapazitäten auf Organisationsfragen zu verschwenden?
Prisma: Die Frage nach Entscheidungsmacht wird ja nicht explizit gestellt, ist aber der implizite Kern eurer Frage nach Kaderdisziplin. In der iL haben wir das Prinzip von Autonomie und Vertrauen entwickelt: Autonomie meint dabei, dass die kleinstmögliche Einheit die mit der Entscheidung befasst ist, diese auch fällt. Eine Ortsgruppe oder überregionale AG kann also im Rahmen unserer Verabredungen autonom handeln. Wir geben unseren Genoss_innen dabei einen Vertrauensvorschuss. Das halte ich für den wirklichen organisierungspolitischen Bruch mit den K-Gruppen, weil das Prinzip weder die Weisung von oben noch den Mehrheitsentschluss kennt. Meiner Meinung nach ist es aber auch etwas anderes als ein Verständnis von Basisdemokratie, in dem alle Entscheidungen in einem ermüdenden Prozess von allen zusammen gefällt werden. Es beinhaltet eben doch die Legitimierung für Wenige, Entscheidungen für die iL zu fällen. Aber halt nicht top-down. Durch die (perspektivische) Schaffung von vielen Orten der Entscheidung versucht die iL eine Organisierungsform, die auf Eigeninitiative und Selbstermächtigung basiert zu etablieren in einer Größenordnung jenseits autonomer Gruppen. Das autonome Erbe ist da einfach bedeutend größer als das der autoritären K-Gruppen-Schule. Der Weg geht in Richtung einer multizentrischen postautonomen Organisation, in der die einzelnen Ortsgruppen Autonomie besitzen.
Dass die iL der primäre Ort unserer Politarbeit sein soll, schließt es nicht aus in anderen Gruppen oder Stadtteilinitiativen aktiv zu sein oder für Gewerkschaften und Stiftungen zu arbeiten. Viele unserer Genoss_innen sind nicht nur in der iL aktiv. Doppelmitgliedschaft in der iL ähnelnden Strukturen wollen wir hingegen nicht: Die enge politische Zusammenarbeit mit Ums Ganze oder der Linkspartei setzt halt auch die organisatorische Trennung voraus. Insbesondere auf Leute, die sich in anderen Zusammenhängen zur instrumentellen Teilnahme an der iL verabreden, haben wir keine Lust.
Alle diese Fragen zu bearbeiten, kostet natürlich Zeit und Ressourcen. Aber Verschwendung ist es nicht. Es sind doch absolut politische Fragen. In unseren Organisierungsweisen müssen sich unsere emanzipatorischen und basisdemokratischen Ansprüche niederschlagen. Auf der anderen Seite haben wir die iL entworfen, um überregionale und transnationale Handlungs- und Interventionsfähigkeit zu gewinnen. Ob die iL als Organisation dieses Versprechen einlöst, werden wir in den nächsten Jahren beweisen müssen.
Phase 2: Im Zwischenstandspapier kann man zwischen den Zeilen lesen, dass viele Kompromisse getroffen werden mussten, und dass ihr euch in den Diskussionen bei bestimmten Themen schlicht nicht auf gemeinsame Positionen einigen konntet. Dafür sind viele Formulierungen nun recht oberflächlich, die Analysen gehen nicht in die Tiefe und zum Teil sind die Positionen widersprüchlich. Ihr strebt sowohl eine Revolution als auch eine Transformation an, wollt euch niemals mit der »bürgerlichen Macht« gemeinmachen und unterstützt trotzdem Bündnisse mit bürgerlichen Organisationen. Auch in der Gewaltfrage scheint ihr euch nicht ganz einig zu sein. Wie wollt ihr mit solchen Differenzen umgehen, ohne sie autoritär zu lösen oder politische Differenzen in inhaltsleere Verallgemeinerungen aufzulösen?
Prisma: Es stimmt, dass es in der Diskussion um das Zwischenstandspapier an vielen Punkten keine Einigung gab oder Kompromisse eingegangen werden mussten. Und darin liegt auch schon eine der Antworten auf die Frage, wie die iL damit umgeht, dass die Positionen der Einzelgruppen sich widersprechen. Wir diskutieren sie und begreifen Pluralität als Stärke. Genau deswegen hat es so lange gedauert ein Papier zu schreiben, dass weder besonders lang noch in seiner Analyse besonders tiefgehend ist. Das Zwischenstandspapier ist ja auch nicht der Weisheit letzter Schluss, an dem sich ab jetzt alles orientieren muss und über das nichts hinausgehen kann. Es ist auf seine Weise ein Minimalkonsens, auf den sich alle Gruppen einigen können. Die Einzelgruppen gehen aber in ihrer Analyse tiefer und verzichten natürlich auch nicht darauf, weiterhin widersprüchliche Positionen zu vertreten. Der Prozess vom Netzwerk zur Organisation wird von uns und von den anderen Gruppen als ein Prozess verstanden, der eine Weile dauern wird. Das heißt, dass vor uns viele Diskussionen und Streits liegen. Innerhalb der einzelnen Arbeitsbereiche wurden auch während der Diskussion um das Zwischenstandspapier weiterhin Texte, Analysen und Stellungnahmen veröffentlicht. Wir sind aber nach wie vor der Auffassung, dass es bereichernd ist, wenn sich verschiedene Denkmuster und theoretische Konzepte begegnen und miteinander konfrontiert sind. Daher kommt der Gedanke, dass eine Gruppe pro Stadt wünschenswert ist. So kann ausprobiert werden, auf welche Weise wir miteinander diskutieren können und wie zum Beispiel durch ein Zusammenlegen verschiedener Themen in derselben Gruppe intersektionale Theorie umgesetzt werden kann. Diskussionen und Auseinandersetzungen haben in der linken Geschichte bisher ja oft zur Weiterentwicklung und Vertiefung von Analysen geführt, und wir würden sagen darin liegt eine Chance, die komplexen Verhältnisse, in denen wir leben, auch als solche aufzufassen und anzugreifen.
Phase 2: Ihr sagt ja selbst, dass innerlinke Diskussionen zur Weiterentwicklung von Positionen führen. Im Zwischenstandspapier scheint es aber so, dass innerlinke Kritik in der iL nicht sonderlich hoch angesehen ist. Da heißt es beispielsweise, dass es »auf der Hand liegt«, dass linke Strömungen sich nicht gegenseitig bekämpfen sollten. Aber schärft nicht gerade auch Kritik die eigene Position? Und sollten Meinungsverschiedenheiten nicht politisch ausgetragen werden, damit sie für die Allgemeinheit nachvollziehbar werden?
Prisma: Den Unterschied zwischen kritisieren und bekämpfen habt ihr doch wahrscheinlich selbst erkannt. Etwas später im Absatz heißt es »Wir wollen ein Teil einer solchen pluralen Linken mit unterschiedlichen Strömungen sein, weil wir wissen, dass wir nur gemeinsam stärker werden können – und nicht die eine Strömung auf Kosten der anderen.« Also gehen wir davon aus, dass es immer verschiedene Positionen und verschiedene Strömungen gibt und natürlich führt das zu Reibung und zu Kritik. Für die Veränderung einer Gesellschaft ist es nicht unbedingt dienlich, wenn die Leute, die eine ähnliche Kritik an den Verhältnissen und eine ähnliche Utopie teilen, sich gegenseitig bekämpfen. Also sollte Kritik beispielsweise so formuliert sein, dass sie dazu führen kann, dass die Kritisierten sie annehmen. Es ist eher eine Frage der politischen Kultur. Die Weise, wie wir uns kritisieren, und die Kritik, die wir aneinander haben, führen ja idealerweise dazu, dass wir alle ständig unsere Standpunkte überdenken und eine bessere, genauere Vorstellung davon entwickeln, was wir warum ablehnen und wofür wir kämpfen.
Phase 2: Im Zwischenstandspapier distanziert ihr euch explizit vom »Zynismus der reinen Kritik«. Wir haben eine Ahnung, wen und was ihr damit meint, aber könntet ihr das noch einmal explizieren?
Prisma: Unter Zynismus der reinen Kritik fassen wir den Teil der akademischen Linken, der sich damit begnügt, zu jedem Geschehen die richtige Geisteshaltung einzunehmen. Kritik schrumpft somit zu einer Haltung oder einem Bekenntnis, weil sie ihres Drangs zur Aufhebung der kritisierten Zustände beraubt ist. Mit dieser Haltung geht der Irrglaube einher, selbst außerhalb gesellschaftlicher Prozesse zu bestehen; das resultiert häufig in einer empathielosen und herablassenden Art gegenüber den notwendig unvollkommenen Versuchen gesellschaftlicher Bewegung und emanzipatorischer Praxis. Es geht uns darum, den vermeintlichen Widerspruch, der zwischen Theorie und Praxis aufgemacht wird, zu bearbeiten und beides gemeinsam zu denken.
Phase 2: Aus eurer Antwort – wie auch aus dem Zwischenstandspapier – geht eine deutliche Fokussierung auf Praxis hervor. Kritik soll einer verbesserten Praxis dienen. Warum ist Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen oder auch linken Zuständen für euch keine Praxis?
Prisma: Natürlich ist auch das gemeinsame Schreiben, Lesen und Verbreiten von Gesellschaftskritik eine Form der Praxis. Die Frage ist doch, ob wir eine Vorstellung von Gesellschaftsveränderung haben, nach der uns Aufklärung und innerlinke Kritik als Praxis genügen. Damit erledigt sich meiner Meinung nach auch die Frage Kritik oder Praxis. Wir glauben, wer sich mit Aufklärung und der Verbreitung von innerlinker Kritik begnügt, sitzt einem gewissen Idealismus auf. Politisches Bewusstsein – und darum geht es ja letztendlich – entsteht doch häufig erst in politischen Konflikten. Das zeigt nicht zuletzt das Gros der meisten linksradikalen Biographien, die ihren Anfang in der Antifa- oder Studiprotestbewegung nehmen. Unsere Praxis müsste es demnach sein, soziale Prozesse entlang gesellschaftlicher Widersprüche zu organisieren in und aus denen wir unsere Kritik hör- und wahrnehmbar machen können. Eine Kritik, die losgelöst von Handlungsoptionen und einer Perspektive der Überwindung von Ohnmacht und Vereinzelung formuliert wird, wird langfristig keine gesellschaftlichen Resonanzen erzeugen können. Zumindest nicht außerhalb der gewohnten Kreise.
Phase 2: Eure Positionen diskutiert ihr dennoch ausschließlich intern, womit es erschwert wird, die Positionsfindung nachzuvollziehen. Gleichzeitig geht ihr mit der iL ja eindeutig Richtung Masse. Wir denken, Masse geht immer auf Kosten von Inhalten. Wieso ist euch ersteres wichtiger?
Prisma: Ja stimmt, das Zwischenstandspapier haben wir intern diskutiert, wie es wahrscheinlich alle Gruppen außer der NAO gemacht hätten. Das ist ja eigentlich auch ein Kern von Organisierung: interne Räume der Bestimmung von Politik zu schaffen. Andererseits sind mit der iL zwei Zeitungsprojekte (analyse&kritik und Arranca!) assoziiert, in denen regelmäßig Kontroversen öffentlich gemacht werden. Die Anregung, mehr Transparenz über unsere internen Differenzen zu schaffen, nehmen wir trotzdem mit. Zu der Frage nach der Orientierung auf Massen möchten wir wenigstens einmal mit einem Marx Zitat antworten: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.« Die Frage nach der Radikalität einer Kritik lässt sich nicht von der Frage nach ihrer Wirksamkeit lösen. Wir sagen, es reicht für die große Veränderung nicht aus, wenn es eine theoretische Avantgarde gibt, die sich bemüht, im kleinen Kreise die möglichst beste, reinste, und wahrste Kritik zu finden, wenn gleichzeitig ein neuer Rechtsruck droht und viele Leute sich lieber mit Reality-TV statt mit Gesellschaftstheorie beschäftigen. Eine tatsächliche Umwälzung dieser Verhältnisse, können wir uns nur als massenhafte Praxis in einer solidarischen und pluralen Kollektivität vorstellen. Die dogmatische Skepsis gegenüber einer an Massen orientierten Politik zeigt, dass keine Vorstellung mehr davon existiert, dass wir tatsächlich revolutionäre Prozesse befördern könnten. Über den real existierenden politischen Zustand der Massen in Deutschland ist natürlich noch gar nichts gesagt. Gerade in Sachsen können wir ja alle unser Lied von einer rassistischen und völkischen Massenbewegung singen.
Phase 2: Die iL ist bereit oder sogar bestrebt, in breiten Bünd-
nissen zu agieren. Ihr sagt selber, ihr wollt niedrigschwellig möglichst viele Menschen erreichen. Wenn sich der Erfolg an der Beteiligung misst, gerät Gesellschaftskritik leicht in den Hintergrund. Würdet ihr sagen, das ist bei Castor schottern oder den G8 Protesten passiert? Muss sich eine Organisation an den Menschen messen lassen, die sich an ihren Aktionen beteiligen?
Prisma: Die Bündnisorientierung der iL resultiert aus dem historischen Scheitern autoritärer Avantgardekonzepte. Weder wollen wir eine Bewegung anführen noch ihr Zentrum sein. Daraus folgt für uns, das Bündnis mit anderen moderaten oder radikalen linken Kräften zu suchen. Der Erfolg misst sich dabei nicht an Beteiligung, sondern an der Verschiebung von politischem Bewusstsein und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Beteiligung ist dabei nur ein Indiz. Da Gesellschaftskritik auf politische Subjekte angewiesen ist, die sie tragen und üben, ist die Frage doch, ob sich Menschen radikalisiert haben. Es ist ja bekannt, dass die iL widerständige Selbstwirksamkeitserfahrungen und Selbstermächtigung in kollektiven Regelübertritten organisieren will. Wir glauben, dass darin ein wirksames Angebot liegt, als radikales, politisches Subjekt zu handeln. Im Wendland und in Heiligendamm wurde es auch massenhaft angenommen. Die Castor- und G8-Kampagnen haben wir nicht mit kommunistischen Pamphleten beworben, sondern die Eigentumsfrage im Anti-AKW-Diskurs gestärkt und die antikapitalistische Linke in der Antiglobalisierungsbewegung wieder sichtbar gemacht. Das halten wir für eine handfeste Verankerung von radikaler Gesellschaftskritik.
Häufig erleben wir eine moralische Abgrenzung, man könne bei diesem oder jenem Ereignis nicht mitmachen, da dort auch fragwürdige Positionen formuliert würden. Das mangelnde Selbstbewusstsein in die eigene Durchsetzungsfähigkeit überrascht dabei. Wichtiger als die Frage, wer wann wo mit gelaufen ist, ist uns: Durch unsere Beteiligung an Bewegungen wollen wir reaktionären Kräften in Bewegungen Grenzen aufzuzeigen und für ein progressives Deutungsangebot stehen, das sich nicht vor Auseinandersetzung mit verkürzter Kritik und Verschwörungstheorien versteckt. Auch wer das alles kritischer sieht als die notorischen Bewegungsoptimist_innen von der iL, ist mit der Teilnahme an Bewegungen meistens besser beraten. Ums Ganze hat mit ihrer Teilnahme und inhaltlicher Intervention in Form von englischsprachigen Broschüren und Workshops gegen strukturellen Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik anlässlich des G8 der Verbreitung dieser Standpunkte in der europäischen radikalen Linken definitiv einen größeren Dienst erwiesen als ihre zuhausegebliebenen Kritiker_innen.
Phase 2: Wenn ihr im Zwischenstandspapier von den »imperialen Mächten« und dem Kampf gegen einen nicht näher bestimmten »äußeren Gegner« sprecht, suggeriert ihr ein Gesellschaftsverständnis, dem ein manichäisches Weltbild zugrunde liegt, dass die Komplexität des Kapitalismus verkennt und in ein simples Gut/Böse denken auflöst. Um den Kapitalismus zu überwinden, bedarf es doch aber zunächst einer Analyse seiner Funktionsweise und einer entsprechenden Kritik. Es scheint als würdet ihr diesen Schritt zu Gunsten einer massenkompatiblen Praxis umgehen wollen.
Prisma: Das halten wir für eine eigenwillige Interpretation von zwei Mini-
ausschnitten. Generell liegt uns sowohl als Prisma als auch als iL nichts daran, simple Gut/Böse Schemata zu bedienen, auch wir sind uns der darin liegenden Gefahren durchaus bewusst. Um noch einmal aus dem Zwischenstandspapier zu zitieren: »Wir leben in einer Welt schreiender Widersprüche zwischen Macht und Ohnmacht, Armut und Überfluss, Profitmaximierung und Zwang zur Lohnarbeit, Anerkennung und Ignoranz, Privilegien und Diskriminierungen. Die Widersprüche laufen entlang verschiedener Herrschaftsachsen, entlang sexistischer und rassistischer Zuordnungen, entlang von Klassenunterschieden. Diese Unterdrückungsverhältnisse sind zwar miteinander verwoben, stützen sich gegenseitig bzw. bauen aufeinander auf, haben aber jeweils eine eigene Dynamik und Logik. Sie alle haben mit gesellschaftlicher Macht und der Verfügung über materielle und immaterielle Ressourcen zu tun, haben sich gleichzeitig tief in die Subjektivität eingegraben und finden sich auch in linken und linksradikalen Gruppen und Organisationen. Für uns erfordert die Überwindung dieser Verhältnisse daher sowohl den Kampf gegen einen äußeren Gegner als auch die bewusste Reflexion und Veränderung unserer Strukturen.«
Kluge Analysen vom Kapitalismus gibt es wirklich genug. Die interessantere Frage ist doch, wie sie sich vermitteln lassen. Wenn man an den subjektiven Faktor von Gesellschaftsveränderung glaubt, landet man dabei irgendwie bei der Organisierungsfrage als Brücke von Theorie und Praxis und als Vermittlung von Kritik und Subjekt. So sollte auch das Zwischenstandspapier gelesen werden. Es ist nicht der Versuch von 500 Linken, sich auf eine Krisentheorie des Kapitalismus zu einigen. Sondern der Versuch, die Handlungslogik und strategischen Ziele einer linksradikalen Organisation unter den Bedingungen gesellschaftlicher Marginalität festzulegen. Das sehen wir als Bedingung an, um außerhalb unserer eigenen Milieus überhaupt wieder kommunikationsfähig zu werden. Dass eine solche Organisation auch eine kollektive Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren muss, gegen die wir kämpfen, ist klar. Da ist bei der iL auf jeden Fall noch Luft nach oben. Wir müssen noch Wege finden, die von vielen einzelnen geleistete Theorieproduktion zu kollektivieren.
Wenn theoretische Konzepte für viele Leute zugänglich werden, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass wir klugen Linken von unseren Super-Theorien einen Teil weglassen müssen, damit »die Anderen« sie verstehen. Es kann auch heißen, andere Formulierungen zu finden und in konkrete gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu intervenieren. Für Leipzig heißt das zum Beispiel, das Alltagsverständnis der Streikenden bei amazon über den Kapitalismus um eine Ebene zu erweitern und sie kritisch-solidarisch zu unterstützen.
Phase 2: Auffallend an dem Zwischenstandpapier ist, dass die Bekämpfung von Antisemitismus kaum Erwähnung findet. Lediglich an einer Stelle heißt es, dass unter anderem auch Antisemitismus diskutiert wird. Über den Holocaust und die spezifisch deutsche Geschichte, ebenso wie über das Scheitern der deutschen Linken in diesem Kontext schreibt ihr nichts. Ihr seid eine der größten linksradikalen Organisationen in Deutschland, ist es nicht ein verheerendes Signal Antisemitismus zu ignorieren? Wie könnt ihr diesem Phänomen, gerade jetzt, in Zeiten einer zunehmenden antisemitischen Stimmung in Deutschland und Europa keine Relevanz beimessen?
Prisma: Im Zwischenstandspapier findet nichts so richtig ausführlich Erwähnung, wie du ja schon bemerkt hast. Das trifft dann auch bei diesem Thema zu. Dort steht: »Wir führen und verfolgen Diskussionen zu Genderpolitik, globalen sozialen Rechten, Antisemitismus, Rassismus und Grenzregimen oder zur weltweiten Klassenneuzusammensetzung«. Antisemitismus wird also keinesfalls ausgeklammert, sondern ist als Herrschaftslinie ein Thema unter anderen, mit dem wir uns beschäftigen. Auf der Ebene der Organisation findet das Thema in der Praxis wenig Reflektion, das stimmt. Das kann auch daran liegen, dass es gerade auf der überregionalen Ebene auch sonst keine Akteur_innen gibt, die überregionale Praxis dazu haben. Was die Beachtung von antisemitischen Diskussionsmustern und auch dem Anstieg antisemitischer Übergriffe angeht, da ist es schwierig, aufgrund eines Papiers zu erkennen wie viele Aktivist_innen der iL das Thema wie wichtig nehmen oder da rauslesen zu wollen, dass wir uns der deutschen Geschichte nicht bewusst sind oder so. Auch wenn die Verbindung nicht die direkteste ist; die iL hat einen relevanten Teil dazu beigetragen, dass der Naziaufmarsch in Dresden um den 13. Februar nicht mehr stattfindet. Damit wurde, wie ihr sicher wisst, der größte geschichtsrevisionistische Aufmarsch, den es in Deutschland gab, verhindert. Die dortigen Positionen und der deutsche Opferkult, der auf diesen Aufmärschen gepflegt wurde, bedient ja ebenfalls Muster, die ich euch sicher nicht erklären muss.
Dazu kommt ein wichtiger Unterschied zwischen der überregionalen und der lokalen Ebene. Es gibt in der iL nicht wenige Gruppen, die auch in ihrer lokalen Praxis auf Antisemitismus eingehen, indem sie sich um eine linke Geschichtspolitik oder um Erinnerung an den Holocaust bemühen. In Leipzig haben wir in den letzten Jahren beispielsweise jüdische Überlebende und Nachfahren von Überlebenden bei einer Gedenkveranstaltung zum 9. November unterstützt, haben eine Jugendfahrt zur Gedenkstätte Auschwitz organisiert und hatten kürzlich eine Veranstaltung mit Referentinnen, die zum Kontext »deutsche Linke und Antisemitismus« gesprochen haben. Dass es nicht viele Publikationen gibt, ist kein Indikator dafür, dass das Thema unwichtig ist.
Phase 2: So schön es ist, dass in Dresden der Naziaufmarsch am 13. Februar nicht mehr stattfindet, zeigt doch nicht zuletzt Pegida, dass die Hauptprobleme der weitverbreitete Rassismus und Antisemitismus sind. Im Zwischenstandspapier kritisiert ihr immer wieder rassistische Strukturen und Herrschaftsverhältnisse; Antisemitismus lasst ihr dabei wie gesagt zumeist unerwähnt. Auch wenn ihr sagt, Kritik am Antisemitismus spiele eine Rolle, faktisch dokumentiert das Zwischenstandpapier etwas anderes. Es scheint, als hättet ihr euch in Bezug auf Rassismus eher auf eine gemeinsame Linie einigen können. Unserer Meinung nach bräuchte es gerade aufgrund der deutschen Geschichte eine stärkere Positionierung gegen Antisemitismus. Als deutsche Linke steht man doch in einer besonderen Verantwortung. Wenn ihr diese Verantwortung in Leipzig wahrnehmt, wieso konntet ihr euch damit nicht in der iL durchsetzen?
Prisma: Die fehlende Verortung in der deutschen Geschichte ist eine Schwäche des Papiers, das stimmt. Die Frage warum wir uns mit einem historischen Verantwortungsbewusstsein in der iL nicht durchsetzen konnten, wird ihr in meinen Augen nicht gerecht. Antifaschismus ist für viele iL-Gruppen einer der stärksten Bezugspunkte. Nur weil wir von unserer Praxis berichten, heißt das nicht, dass wir die einzige Gruppe sind die eine Verantwortung aus der deutschen Geschichte ableitet. Auch die erwähnte Dresden-Kampagne richtete sich doch nicht nur gegen die Nazis, sondern war ein zentraler Ausdruck der Kritik der deutschen Linken am deutschen holocaustrelativierenden Opfermythos. Vor diesem Hintergrund haben wir wirklich nicht das Gefühl, uns in der iL in irgendeiner Weise durchsetzen zu müssen. Dass wir uns bei dem Thema Rassismus schneller und einfacher einigen konnten, liegt wohl gerade an der Geschichte der deutschen Linken, in der das Thema Antisemitismus kontroversere Debatten und tiefe Gräben hervorgerufen hat. Ein anderes Thema, das heiß diskutiert wird und an dem wir uns trotz viel Beschäftigung nicht umfassend einigen konnten, ist beispielsweise das Geschlechterverhältnis. Auch da gibt es sehr verschiedene Auffassungen dazu, welche Begriffe und Konzepte genutzt werden sollten und was die richtige Analyse und Praxis wäre. Auch diese Kontroverse hat sicher damit zu tun, dass in der iL, gemäß unserem Anspruch, verschiedene politische Generationen und Strömungen zusammenkommen, um gemeinsam zu kämpfen. Da ist Antisemitismus nicht das einzige relevante Thema, zu dem wir noch Diskussionen offen haben.
Klar stehen wir als Enkelkinder der NS-Täter_innen in einer besonderen Verantwortung, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Genauso wie wir als Nachkommen der Kolonialherren in der Verantwortung stehen, gegen neokoloniale Abhängigkeiten und Verhältnisse zu kämpfen oder als Männer gegen die Privilegien, die das Patriarchat uns einräumt. Uns ist wichtig, nicht auf einzelne Themenfelder spezialisiert und beschränkt zu bleiben. Unser Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse sollte sich nicht in isolierte Teilbereichskämpfe aufteilen, sondern auch in der Praxis die Komplexität greifen können und intersektional behandeln. In der iL organisiert zu sein, ist für uns ein Schritt in diese Richtung.
Phase 2: Leitet ihr aus der deutschen Geschichte oder eurer Fami-
liengeschichte auch ein spezifisches Verhältnis zu Israel ab und eine besondere Verantwortung sich in Deutschland für Israel einzusetzen?
Prisma: Wir sehen eine Rolle des israelischen Staates als Schutzstaat für Juden und Jüdinnen vor antisemitischer Verfolgung. Seine Entstehungsgeschichte ist mit dem Holocaust verbunden. Gerade angesichts der neuen Emigrationswelle von Juden und Jüdinnen aus Frankreich zeigt sich die Notwendigkeit eines solchen Schutzraums. Vor dem Hintergrund, dass es hinterfragt wird, folgt daraus auch für das Existenzrecht Israels einzustehen. Das ist unserer Meinung nach, was spezifisch aus der deutschen Geschichte unmittelbar in Bezug auf Israel folgt, aber keine umfassende Bestimmung Israels oder des Nahostkonfliktes. Eine solche können und wollen wir hier nicht vornehmen. Deswegen leiten wir daraus auch keine bedingungslose Solidarität ab. Sie würde die politische Bezugnahme ja offensichtlich zu einem Dogma machen. Ebenso wie zu den meisten anderen internationalen Konflikten haben wir als Gruppe keine konsensuale Position zum Nahostkonflikt. Viele von uns haben eine scharfe Kritik an den Bomben auf Gaza oder der Besatzung- und Siedlungspolitik. Klar ist aber, dass alle antisemitischen Argumentationen in einer Kritik an der israelischen Regierung, wie Holocaustvergleiche, versteckte Solidarisierungen mit religiösem Fundamentalismus oder eine Identifizierung von »den Juden« mit dem israelischen Staat nicht hinnehmbar sind. Die linke Debatte um den Nahostkonflikt macht uns aber häufig auch sehr ratlos. Beide Pole sind oft von einer Empathielosigkeit für die Opfer auf der jeweils anderen Seite, Zustimmung zur Vergeltungslogik oder einer Schönfärberei und Pauschalisierung der beteiligten Parteien geprägt. In diesen Debatten Zwischentöne, die sich gegen den Antisemitismus und die israelische Besatzungspolitik richten, oder die eigene Hilflosigkeit angesichts des Nahostkonflikts zu formulieren, ist in der deutschen Linken fast unmöglich. Sich in diesem innerlinken Grabenkampf auf die richtige Seite zu schlagen ist keine Gretchenfrage unserer Gruppe, bei uns versammeln sich verschiedene Positionen in dem oben umrissenen Rahmen.
Phase 2: Vielen Dank für das Interview.