Das Konzept »Rasse« ist alles andere als tot. Zwar werden rassifizierte Unterschiede immer häufiger mit »kulturellen Differenzen« begründet, doch auch biologische »Rasse«-Konzepte erfreuen sich weiter oder wieder großer Beliebtheit und Verbreitung. Nicht nur an medizinischen Fakultäten deutscher Universitäten oder in Asylverfahren, wenn DNA-Tests zur Bestimmung der Nationalität verwendet werden. Bei der Schweizer Firma Igenea kann jede/r ab 99 € mit einer einfachen Speichelprobe die genetische jüdische Herkunft untersuchen lassen, in den USA boomen Firmen wie DNAPrint Genomics oder African Ancestry. Mit der Einführung von BiDil schließlich, einem allein für schwarze US-AmerikanerInnen zugelassenen Medikament gegen Herzversagen, wird die »nicht nur in den Naturwissenschaften selbst längst ad acta gelegte, sondern zudem normativ immer schon höchst kritikwürdige phänotypisch ausgerichtete ›Rassen‹-Forschung der vergangenen Jahrhunderte [...] genwissenschaftlich aktualisiert […]«. Das konstatiert der Sammelband Gemachte Differenz, der den Kontinuitäten, Modernisierungen, Begründungsmustern und Wirkungen biologischer »Rasse«-Konzepte in den Lebenswissenschaften nachgeht und damit eine Lücke in der sozialwissenschaftlichen deutschsprachigen Debatte schließen will. Der Band gibt dazu im ersten Kapitel einen Überblick über »Rasse«-Konzepte und Rassismen in Medizin, Genetik, Forensik und Pharmakologie. Der Beitrag der HerausgeberInnen Rassifizierte Gene eröffnet mit einem Abriss der Geschichte des »wissenschaftlichen Rassismus«, der konstitutiv für die Legitimation von gesellschaftlicher Herrschaft in der europäischen Moderne war und auch nicht nach 1945 mit der Verabschiedung der UNESCO-Statements zum Menschenrassenbegriff endete. Einhergehend mit der rhetorischen Modernisierung von »Rasse« durch »Genetifizierung« konstatieren sie eine »strategische Humanisierung« der Rechtfertigung solcher Forschungen und Kategorisierungen, z.B. im Rekurs auf den medizinischen Nutzen für VertreterInnen gesellschaftlicher Minderheiten. Ihr Beitrag wirft schließlich die Frage auf, was es heißt, biologieinterne Kritik zu üben und welche Chancen und Probleme ein sozialkritischer, dekonstruktivistischer Zugriff auf den Rassebegriff mit sich bringt. Ihre Antwort kann als ein Credo des Sammelbandes gelten: Rassismus kann nicht erfolgreich mit wissenschaftlichen Fakten begegnet werden ohne politische Debatten um Rassismus in seinen alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Formen.
Anne Fausto-Sterlings sehr empfehlenswerter Beitrag führt naturwissenschaftlich informiert und sozialkritisch in Grundbegriffe und Verfahren der Humangenetik und der race-basierten Medizin ein und wirft die Frage nach dem Verhältnis von genetischen Dispositionen und Einflüssen der sozialen Umwelt auf. Die Stärke des gesamten Bandes ist der interdisziplinäre Blick, womit nicht nur die natur- und sozialwissenschaftliche Betrachtung, sondern auch die Blickwinkel US-amerikanischer und deutscher AutorInnen sowie solcher mit und ohne Rassismuserfahrungen angesprochen sind. Viele Beiträge schöpfen aus feministischer Naturwissenschaftskritik und postkolonialer Theorie und thematisieren dadurch Parallelen und Verknüpfungen verschiedener essentialisierender Zuschreibungen sowie der damit verbundenen Diskriminierungen. Der zweite Teil des Bandes vereint Beiträge zur Geschichte wissenschaftlicher Konstrukte um Rasse und Geschlecht in der Anthropologie, Biologie und der Eugenik, wobei hier besonders deutsche Spezifika hervorgehoben werden. Eindrücklich und erschreckend sind einmal mehr die personellen Kontinuitäten und die selbstentlastende Konstruktion einer unbefleckten, von den Nazis missbrauchten Wissenschaft und Forschung. Interessanter als der nicht wirklich neue Verweis auf völkische RassistInnen in der NPD oder CDU wäre hier z.B. die Diskussion um die Kontinuitäten in deutschen Arztpraxen, in Asyl- oder Strafverfahren oder die Frage, wie in den deutschen Biowissenschaften Beschränkungen, die aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus resultieren, diskutiert werden und zu bewerten sind.
Der dritte Teil schließlich diskutiert die Frage, welche Effekte die Verwendung von Rassekategorisierungen bzw. ihre Vermeidung angesichts der sozialen Realität von Rassifizierungen hat. Wie umgehen mit dem Fakt, dass aufgrund sozialer Gegebenheiten wie armutsbedingter Ernährungsdefizite und diskriminierungsbedingtem Stress das Bluthochdrucksrisiko Schwarzer US-AmerikanerInnen tatsächlich höher ist, als das ihrer Weißen Landsleute? Neu für den deutschen Kontext ist die fundierte und differenzierte Darstellung der wissenschaftlichen Rassekonzepte und vor allem deren Konsequenzen für die wissenschaftliche Forschung, für Gesundheits- und Bevölkerungspolitik und für rassistische Wissenschafts- und Alltagsdiskurse. Dieses mit umfangreichen Literaturhinweisen versehene Buch sei daher all jenen ans Herz gelegt, die sich an aktuellen politischen Debatten um die Wirkungsmächtigkeit von Rassismus beteiligen wollen. Das Problem heißt nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern Rassismus und es fängt bei der Klassifizierung an.
~Von Doris Liebscher.
AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hrsg.): Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer »Rasse«-Konzepte, Unrast Verlag Münster 2009, 376 S., € 19,80.