Das Scheitern des linken Versuchs einer Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, so der amerikanische Marxist Murray Bookchin vor ziemlich genau 35 Jahren, »wurde gefolgt von einer hoch abstrakten Form sozialistischer Theorie, die zum praktischen revolutionären Projekt in scharfem Gegensatz steht. Der Rückzug von der Fabrik in die Akademie […] hat dem Sozialismus das Recht auf ein angemessenes Begräbnis verwehrt, indem er als professionelle Ideologie verewigt wurde.«
Als Bookchin seine Kritik formulierte, war zur Regel geworden, was lange Zeit eher die Ausnahme gewesen war: Dem Bekenntnis nach radikale KritikerInnen der Gesellschaft bevölkerten die Universität, nicht allein als Studierende wie in den sechziger Jahren, sondern auch als Angestellte oder ProfessorInnen. Die Zahl der linken, wissenschaftlich ausgerichteten Zeitschriften – Das Argument in Deutschland, Tel Quel in Frankreich oder Telos in den USA – war stark angestiegen und der Marxismus selbst hatte sich in ein schwer überschaubares Feld von Unterdisziplinen aufgefächert (semiologisch, feministisch, strukturalistisch, ökologisch etc.). Damals lag 1968, als die Universität selbst ein umkämpfter Ort gewesen war, noch nicht so lange zurück. Die Pariser StudentInnenunruhen hatten als konkreten Anlass den Protest gegen die Geschlechtertrennung der Universität Nanterre. In Deutschland wollte man Lehrpläne entrümpeln, ProfessorInnen austauschen, den Muff von tausend Jahren hinwegfegen, in den Vereinigten Staaten wurde auf dem Campus für die Bürgerrechte gestritten. Der erklärte Versuch, mit der studentischen Protestbewegung schlussendlich über die Universitäten hinauszugehen, scheiterte jedoch; das Proletariat mochte sich von den Studierenden nicht agitieren lassen. Als es mit der Bewegung bergab ging, wurde sich gegen die einstigen intellektuellen Vorbilder gewandt, in Deutschland vor allem gegen die Kritische Theorie, in Frankreich u.a. gegen Louis Althusser. Das Pariser Graffiti »Strukturen gehen nicht auf die Straße« war auch ein Protest gegen eine wissenschaftliche Erklärung der Gesellschaft, die kurz zuvor noch begierig aufgesogen worden war.
Die Anfänge dieser Entwicklung lagen möglicherweise bei der dezidiert philosophischen Anstrengung des sogenannten Westlichen Marxismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Der Fokus auf der Erarbeitung eines theoretischen Programms statt einer erneuten praktischen Initiative war eine Reaktion auf die fragwürdig gewordene Revolutionstheorie des Sowjetmarxismus einerseits und die Korruption der Sozialdemokratie andererseits gewesen. Erkauft wurde sie allerdings durch eine abstraktere Sprache und eine immer stärkere Anbindung an die bürgerlichste aller Institutionen, die Universität. Georg Lukács beispielsweise hatte sich einmal viel eingebildet auf den Wechsel von der einen Klasse in die andere, auf den Schritt vom bürgerlichen Kulturkritiker hin zum Theoretiker des Proletariats. Nachdem Geschichte und Klassenbewusstsein erschienen war, wurde er selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, den Kontakt zum vorgeblich revolutionären Subjekt verloren zu haben und nichts anderes als ein professoraler Lehrstuhl-Marxist zu sein.
Wenngleich die Linke den Universitäten also nie völlig fern stand, scheint sich der Trend zur Akademisierung in jüngerer Zeit jedoch zu verstärken. Dies korrespondiert zunächst mit einem gesamtgesellschaftlichen Trend. So hat sich in Deutschland die Quote der Personen mit Universitätsabschluss in den zurückliegenden 40 Jahren nahezu verfünffacht. Wesentlicher Grund hierfür war die Bildungsreform der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger und siebziger Jahren, die sowohl eine Bildungsexplosion als auch eine Entwertung von Abschlüssen nach sich zog. Und dennoch stellen sich an die Linke besondere Fragen, die mit dieser Akademisierung in Zusammenhang stehen. Ein nicht so fernes Beispiel hierfür ist die Zeitschrift Phase 2 selbst. 2001 als Debattenorgan gegründet, war sie das Produkt der Krise der Antifa, des Wegbrechens linker Selbstverständlichkeit und eines umfassenden politischen Neuorientierungsprozesses. In den folgenden zehn Jahren hat die Zahl der Gruppentexte jedoch stetig abgenommen, die AutorInnen-Angaben wandelten sich von Vornamen und Pseudonymen zu Klarnamen, immer öfter kamen SpezialistInnen und ProfessorInnen zu Wort (nicht selten durch Verbindungen zu ihren StudentInnen innerhalb der Redaktion), Fußnoten wurden zum Standard der eingereichten und veröffentlichten Texte. Kaum jemand hätte sich vor zehn Jahren die Redaktions- oder Veröffentlichungstätigkeit bei der Phase 2 in den Lebenslauf geschrieben. Heute lassen sich damit sicherlich einige GutachterInnen linker Stiftungen beeindrucken. Mit dem zuletzt immer wiederkehrenden Vorwurf der Akademisierung an die Adresse der Phase 2 scheint allerdings recht Unterschiedliches gemeint zu sein. Während die einen auf den tendenziell ausschließenden Charakter vieler Texte durch ihr spezifisches Vokabular und eine Entfernung von linker Praxis verweisen, kritisieren andere die Verselbstständigung akademischer Formen als unreflektiert verwendeten und aufgenommenen Wissenschaftsjargon.
Die hier aufgezeigten Veränderungen innerhalb der Phase 2 sind Ausdruck einer allgemeinen Problemlage, die mit der Akademisierung der Linken in Zusammenhang zu stehen scheint. Dass das bewegungslinke Setting aus Organisations- und Sprachkompetenz, aus Theoriewissen und konkurrenzfähigem Durchsetzungsvermögen für die akademische Karriere durchaus förderlich sein kann, überrascht zunächst nicht. Die Rückwirkungen des linksakademischen Betriebs auf die außerakademische Bewegungslinke ist hingegen nur selten Gegenstand von Auseinandersetzungen. Was bedeutet es beispielsweise für linke Gruppenzusammenhänge, wenn deren Mitglieder zum Großteil dem akademischen Milieu angehören? Gruppendynamisch könnte dies zur Folge haben, dass Personen mit einem nichtakademischen Hintergrund in der Auseinandersetzung um die richtige Position ins Hintertreffen geraten, weil sie gegen jene im Nachteil sind, für die diskutieren, belegen und überzeugen auch beruflicher Alltag sind. Für die inhaltliche Kritik steht zu befürchten, dass sie sich dem akademischen Prozedere angleicht, indem sie automatisch auf Ausgewogenheit, Autoritätsverweise (Fußnoten und Zitate) oder die Vermeidung übermäßiger Spitzen setzt, um nur einige Charakteristika universitären Schreibens zu benennen. Die Beteiligten mögen zwar zwischen Akademie und Politik/Kritik unterscheiden können, der akademische Denkstil scheint sich allerdings auf Dauer zu verfestigen, wird sich nie vollständig ausschalten lassen und bedingt somit auch das außerakademische, bewegungslinke Denken und Handeln.
Diese Entwicklung ist in verschiedenen Bereichen augenfällig. Die gruppeninterne Textproduktion steht im Zentrum nahezu jedes politischen Organisierungszusammenhangs. Es handelt sich dabei aber nur noch selten um BekennerInnenschreiben oder Rechtfertigungen einer bestimmten Praxis, sondern vorwiegend um elaborierte Werke mit sauberen Zitaten aus der linksakademischen Welt und sorgfältigem Fußnotenapparat. Gruppen wie das »kommunistische Bündnis« …ums Ganze! beispielsweise veröffentlichen ihr Selbstverständnis in einer monographieähnlichen Broschüre unter dem Titel Staat, ›Weltmarkt‹ und die Herrschaft der falschen Freiheit. Zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs.
Der Antifa-Kongress »2001 – Das Jahr in dem wir Kontakt aufnehmen« im April 2001 in Göttingen, bei dem die Antifaschistische Aktion / Bundesweite Organisation (AA/BO) aufgelöst wurde, war zwar eine Selbstreflektion der autonomen Antifa-Bewegung und kein akademisiertes Happening. In der Rückschau ist es dennoch fast schon eine Ironie der Geschichte, dass die AA/BO ausgerechnet auf einem Kongress, der an der Göttinger Universität stattfand, begraben wurde. Kongresse gehören mittlerweile zum Alltag politischer Praxis und Reflektion. Ob nun größere Diskussionszusammenhänge wie Historical Materialism, eher losere Zirkel wie die OrganisatorInnen des »Indeterminate Communism«-Kongress im Jahr 2003 oder erneut das bundesweite Bündnis …ums Ganze! – linke Tagungen scheinen das adäquate Ausdrucksmittel politischer Analyse zu sein. Die Kongresse finden dabei der Einfachheit halber an Universitäten statt, enthalten Vorträge, Keynotelectures (Abendvorträge) und Workshops, so wie es aus dem akademischen Alltag bekannt ist. Die Drittmittelakquise gehört dabei zu den wichtigsten Instrumentarien der linken Kongressarchitektur. Die Liste der Kooperationspartner des sogenannten Kulturkongresses »Indeterminate Communism« von 2003 liest sich somit auch wie eine Parodie auf den anvisierten Inhalt: Kulturstiftung des Bundes, Hessische Gesellschaft für Demokratie und Ökologie, Kokerei Zollverein, Suhrkamp Verlag oder DGB Jugend Hessen – um nur einige zu nennen.
Hiermit verbindet sich die Frage, inwiefern die Ähnlichkeit der Formen (Publikationen, Kongresse etc.) als Akademisierung der Linken bezeichnet werden kann und ob eine solche Akademisierung auch deren inhaltliche Korruption bedingt. Dass die Universität aus sich heraus Opportunismus und Konformismus produziert, weil sie denselben Kräften des Kapitals unterworfen ist, wie der Rest der Gesellschaft, war 1976 bereits die These des amerikanischen Historikers Russell Jacoby. Er sprach damals, durchaus spekulativ, in Anlehnung an Karl Marx von einem »tendenziellen Fall der Intelligenzrate«. Den gleichnamigen Text veröffentlicht die Phase 2 hier erstmals auf Deutsch. Jacoby unternimmt den Versuch, intellektuelle Produktion mit Rekurs auf die Kategorien der politischen Ökonomie zu analysieren. Phänomene, die oft als Teil der Binnenlogik des akademischen Betriebs behandelt werden, beispielsweise die Publikationsflut, die immer schnellere Abfolge von »Paradigmenwechseln« und theoretischen Moden sowie die Ausdifferenzierung der jeweiligen Fachsprachen zum Jargon, werden so im Kontext einer Kritischen Theorie der Gesellschaft verständlich.
Akademismus bzw. Akademisierung sind keine Themen, für die es bereits ausgewiesene SpezialistInnen gibt, außer die Aussage wird dergestalt verstanden, dass auch in dieser Ausgabe die Mehrzahl der AutorInnen haupt- oder nebenberuflich an der Universität beschäftigt sind. Zwar sind akademische Linke mit den entsprechenden Sachzwängen meist hinlänglich vertraut, einen Niederschlag in ihrer theoretischen und praktischen Arbeit findet dies aber jenseits des Kneipengesprächs eher selten. Scheinbar gibt es für die Auseinandersetzung mit den eigenen Produktionsbedingungen nur die Möglichkeit, sich in dem wiederum hauptsächlich akademisch und interessenspolitisch agierenden Bereich der Hochschulpolitik zu betätigen. Einen Versuch, sich dem Akademismus der Linken, d.h. den Linken in der Universität, kritisch zu nähern, unternimmt der Beitrag von Yves Stein und Robert Zwarg. Am Beispiel des international agierenden Zusammenhangs Historical Materialism sowie des jüngsten akademischen und politischen Trends, den Critical Whiteness Studies, untersuchen die AutorInnen einerseits die Abnutzung linker Ansprüche innerhalb der Universität und andererseits die Verselbstständigung einer akademischen Theorie zur moralistischen Denunziationspraxis. Für eine Gruppe wie Historical Materialism bedeutet das die Tendenz, von einem überregionalen Diskussionszusammenhang zu einer cliquenhaften Theoriekorporation unter anderen zu werden; mit dem Unterschied allerdings, dass gerade solche Gruppen ihr symbolisches Kapital aus dem vermeintlichen Gegensatz zur »bloßen« Wissenschaft beziehen. Die Critical Whiteness Studies hingegen exemplifizieren in ihren fragwürdigen theoretischen Prämissen und einer noch fragwürdigeren politischen Praxis vor allem die sich bis ins Groteske steigernde Überformung alltäglichen Handelns durch einen akademischen Begriffsapparat.
Chris Wilpert und Vincent Gengnagel nehmen sich in ihrem Beitrag die derzeit aktuellen Mode-Theorien von Slavoj Žižek, Alain Badiou, Jacques Rancière und anderen zur Brust. Kritische Theorien in einem erweiterten Sinne halten sie für grundsätzlich defizitär, weil sie sich immer innerhalb von drei Kraftfeldern bewegen müssen: Sie sollen sowohl einen emanzipatorischen Gehalt haben als auch eine kritische Masse ansprechen und darüber hinaus das Auskommen derer sichern, die sie formulieren, also der KritikerInnen. Das gilt vor allem für die Zeit nach der verlängerten Adoleszenz des Studiums, während dessen Kritik gleichzeitig gefordert und im Seminarraum neutralisiert wird. Ganz wird man die Integrationskraft der Universität als Spielwiese des Wissens aber nicht los. Darauf weisen auch die ähnlich gelagerten Beiträge von Tilman Reitz und Stefan Ripplinger hin, die sich ebenfalls mit der Figur der/des Intellektuellen beschäftigen. Ripplinger konstatiert mit Hilfe Helmuth Lethens die weitgehende Wirkungslosigkeit der Intellektuellen, die Ripplinger auf eine Verengung der Politik auf das Pragmatische zurückführt. Das intellektuelle Feld wird so zu einer Spielwiese ohne politischen Einfluss erklärt. Reitz hingegen entwirft ein etwas positiveres Bild. Zwar steht er der Figur der/des individuellen Intellektuellen, der im Lichte der Öffentlichkeit agiert, ebenfalls grundlegend skeptisch gegenüber, setzt ihr jedoch den Begriff der/des »Massenintellektuellen« entgegen. Die Massenintellektuellen werden von Reitz als ökonomische Klasse beschrieben, die sich aus der erhöhten Wissensakkumulation der modernen Massenuniversität herausbilde. Das Klassenbewusstsein dieser sozioökonomischen Gruppe sei hingegen kaum ausgebildet. Statt der weiteren Beförderung der Wissenschaftskonkurrenz, seien Elemente zu fördern, die auf Kooperation und Gemeinsamkeit drängen.
Mit dem letzten Beitrag des Schwerpunkts von Christine Kirchhoff kehren wir noch einmal zur Ausgangsfrage zurück. Was bedeutet es, von einer »Akademisierung der Kritik« zu sprechen und was wären eigentlich die Alternativen? Ausgehend von einer Reflektion auf Theorie als Rationalisierung – d.h. als Affektverschiebung einerseits und falschem Trost andererseits – sieht sie die dem Schwerpunkt zu Grunde liegende Frage durchaus kritisch. In der Universität wie außerhalb gelte es, so ließe sich mit Adorno sagen, sich weder von der eigenen Ohnmacht noch von der Macht der Anderen dumm machen zu lassen. Eine praktische Anweisung ist also weder von den in Frage stehenden Theorien noch vom aktuellen Schwerpunkt der Phase 2 zu erwarten. Mit der Kritik des linksakademischen Konformismus einerseits und des bewusst oder unbewusst vollzogenen Rückzugs in die Theorie andererseits wäre aber schon viel gewonnen.
~ Redaktion Phase 2.