Tjark Kunstreich und die „Initiative: Kritik im Handgemenge“ nehmen in den folgenden Beiträgen auf Anfrage von „Phase 2/Leipzig“ zum Streit über die Bedingungen von Fortschritt und Emanzipation Stellung, der insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September die linke Debatte prägt.
Dabei wurde von einem Teil des antideutschen Spektrums immer wieder auf den relativen Fortschritt bürgerlicher Verhältnisse verwiesen. Zwar hätte die Moderne die Versprechen der Aufklärung nicht wahr gemacht, allerdings seien die existierenden Zustände in der westlichen Welt doch eindeutig einem vorzivilisatorischen Grauen vorzuziehen. Die real existierende Zivilisation sei aber nicht nur aufgrund der besseren Lebensbedingungen verteidigenswert. Darüber hinaus müsse sie als Vorbedingung aller weitergehenden emanzipatorischen Veränderung begriffen werden. Die Hoffnung auf eine rudimentäre gesellschaftliche Transformation in Gegenden, in denen Ideologien der Elendsverwaltung herrschen, bestimmt entscheidend die positive Haltung gegenüber der US-amerikanischen Militärintervention in Afghanistan und gegenüber dem wahrscheinlichen Angriff auf den Irak. Dieser Auffassung wird entgegengehalten, dass die dauerhafte und über den Bereich militärischer Protektorate hinausgehende Etablierung grundlegender bürgerlicher Verhältnisse nur über eine Einbindung der betreffenden Regionen in den Weltmarkt, die ihnen überhaupt die Möglichkeit zu einer nachholenden ökonomischen und politischen Entwicklung geben würde, zu gewährleisten ist. Die krisenhaften Prozesse des Weltmarktes - so die Argumentation - sorgten allerdings fortwährend für Verlierer der Staatenkonkurrenz, für ökonomische und politische Abhängigkeitsverhältnisse und das Herausfallen ganzer Regionen aus dem Weltmarkt. Statt nachholender Entwicklung kollabieren immer mehr Staaten in der Weltkrise. Die dauerhafte Verwirklichung bürgerlicher Verhältnisse scheint somit nicht möglich.
Phase 2/Leipzig fragte Tjark Kunstreich, wie sich seiner Meinung nach der Zusammenhang zwischen den Zentren relativen Wohlstandes sowie industrieller Entwicklung und den Armutsregionen der Welt derzeit darstellt. Müsse daraus geschlossen werden, dass die westliche Zivilisation, vorausgesetzt, sie würde durch Interventionspolitik verwirklicht, nur Pyrrhussiege erringen kann, weil die Alimentierung der einen Armutszone eine Andere zum nächsten Krisenherd inklusive aggressiver Ideologien der Elendsverwaltung erhebt? Und müsste man angesichts der sich reproduzierenden und ökonomisch bedingten Asymmetrien im Weltsystem nicht sowohl an der Verwirklichung menschlicherer Lebensverhältnisse in Afghanistan als auch an der politischen Vision einer stufenförmigen Emanzipation, die zunächst zu annähernder globaler Gleichheit mit dem Nenner „bürgerliche Verhältnisse“ führt und von dort in Richtung Kommunismus fortgesetzt werden könnte, stark zweifeln?
Die Freiburger „Initiative: Kritik im Handgemenge“ wurde aufgrund ihrer (vermuteten) anderen Positionierung in der linken Diskussion aber mit Bezug auf den selben Problembereich gefragt, ob eine ökonomische Determination wirklich die Möglichkeit emanzipatorischer Fortschritte in den derzeitigen Konfliktgebieten verhindert? Und wenn, wie dann überhaupt eine Verwirklichung menschlicherer Lebensverhältnisse im globalen Maßstab denkbar wäre?
Phase 2 Leipzig