Die wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit für die Nachgeborenen der Kritischen Theorie ist keineswegs gleich verteilt. Jürgen Habermas’ Projekt, die Tradition Theodor W. Adornos und Max Horkheimers wissenschaftlich respektabel zu machen und vermeintliche normative Leerstellen kommunikationstheoretisch aufzufüllen, hat daran einen beträchtlichen Anteil. Seine Theorie des kommunikativen Handelns wurde zwar nicht zum verpflichtenden Programm; die darin enthaltene Kritik am unterstellten Negativismus und Pessimismus der späten Kritischen Theorie ist im akademischen Betrieb allerdings schlechthin unhinterfragbar. Mit steigender Prominenz des ehemaligen Assistenten Adornos entwickelte seine Theorie eine Strahlkraft, die all jene überblendete, die sich nicht unmittelbar der Revision durch Habermas anschlossen, sondern sich zuweilen deutlich von Habermas absetzten und die Weiterführung der Kritischen Theorie auf ihre Weise unternahmen.
Muharrem Açikgöz‘ wissenssoziologische Studie Die Permanenz der Kritischen Theorie macht es sich zur Aufgabe, Klarheit in die unübersichtlichen und von Habermas dominierten Zusammenhänge der Nachfolger Adornos, Horkheimers et al. zu bringen. Der grundlegende Impuls, die Kritische Theorie als lebendige Tradition zu präsentieren, die weit über ihre kommunikationstheoretische Verbreitung und Institutionalisierung an den Universitäten hinausgeht, ist in jedem Falle zu begrüßen. Ausgangspunkt und Gegenstand der Studie ist dabei die meist unterschiedslose Zusammenfassung der einzelnen VertreterInnen unter dem Begriff der »zweiten« oder gar »dritten Generation« – gemeint sind hier neben Habermas Personen wie Hermann Schweppenhäuser, Kurt Lenk, Regina Becker-Schmidt, Rolf Tiedemann u.a. Açikgöz vertritt im ersten Teil des Buches die These, dass der Generationenbegriff, wie er am prominentesten von Karl Mannheim elaboriert wurde, nicht den schlechtesten Rahmen für eine Analyse der Entwicklungen Kritischer Theorie darstellt. Immerhin stellt sich unter historischen Gesichtspunkten ganz besonders die Frage, inwiefern sich die jeweils in die Kritische Theorie eingegangenen Erfahrungen über die Zeit hinweg transformieren und wie sich die einzelnen VertreterInnen zum (keineswegs unumstrittenen) »ursprünglichen« Programm Adornos, Horkheimers, Marcuses etc. ins Verhältnis setzen; all diese Verzweigungen und Überlagerungen werden von Açikgöz sorgfältig auseinandergelegt und rekonstruiert. Im zweiten Teil des Buches erstellt der Autor eine Skizze der zweiten Generation anhand kurzer Portraits von 15 Theoretikern (einschließlich einer Theoretikerin); die Kriterien der Auswahl, die von Karl-Otto Apel bis Albrecht Wellmer reicht, sind zum einen die direkte Schülerschaft bei Horkheimer und Adorno und zum anderen das Bekenntnis bzw. die Parteinahme für Kritische Theorie.
In gewissem Sinne handelt es sich bei Açikgöz Studie um eine Reaktion auf die enorme akademische Verbreitung, Internationalisierung und Ausdifferenzierung der Tradition Kritischer Theorie, die mit jedem Jahrzehnt, die über die erste Generation hinausgeht, ihre eigene Relektüre, Neuordnung und Aufarbeitung hervorbringt, ja in gewisser Weise sich durch sie hindurch weiter verlängert. Insofern ist Açikgöz‘ Studie nicht nur Reaktion, sondern auch Ausdruck der Entwicklung, die sie beschreibt. So rekonstruiert Permanenz der Kritischen Theorie zwar sorgfältig die nicht selten von heftigen Streitigkeiten begleitete Aufspaltung der Tradition Adornos und Horkheimers in verschiedene Spielarten, die Analyse erliegt aber in letzter Instanz den Kategorien, die der wissenssoziologische Ansatz selbst vorgibt. So scheint der im Zentrum der Studie stehende Generationenbegriff kaum mehr zu ermöglichen als biographische Kohärenz herzustellen (im Sinne eines überschaubaren Zeitraums, in dem die zweite Generation geboren ist), während die stark divergierenden Theorieansätze – beispielsweise eines Ralf Dahrendorf im Vergleich zu den Schriften Karl-Heinz Haags – dem unterstellten Zusammenhang äußerlich bleiben. So hilfreich die überblicksartige Zusammenstellung ist, haftet ihr doch etwas Schematisches an. Zum anderen wird bei Açikgöz nur am Rande erwähnt, was der Generationenbegriff und die ihm zugeordneten Personen eindrücklich zeigen: die deutsch-jüdische Erfahrung, die sich überhaupt nur durch Flucht und Exil weitertragen konnte und die Kategorien der Kritischen Theorie bis ins Innerste berührte, ist aus der sogenannten zweiten Generation weitgehend verschwunden. Mit anderen Worten, es hat einen Grund, dass sich die jüdischen Mitschüler und Mitschülerinnen der in den zwanziger und dreißiger Jahren geborenen zweiten Generation den Schriften Adornos und Horkheimers gar nicht erst zuwenden konnten. An diesem Bruch und seinen Implikationen für eine sich dennoch verlängernde Kritische Theorie geht der wissenssoziologische Ansatz von Açikgöz‘ Studie leider vorbei.
Robert Zwarg
Muharrem Açikgöz: Die Permanenz der Kritischen Theorie. Westfälisches Dampfboot, Münster 2014, 247 S., € 29,90.