Früher war mehr Lametta!

Einleitung zum Schwerpunkt

Der moderne Kapitalismus, so schrieb Alexandra Kollontai 1920 in ihrem Essay Kommunismus und die Familie, führe in absehbarer Zeit zur Auflösung der bisher bekannten, klassischen Familienstrukturen. Angesichts zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen, die Heim und Kinder gegenüber der Lohnarbeit vernachlässigen müssten, dem Wandel der Familie von der Produktions- zur Konsumtionsgemeinschaft sowie der immer weiter fortschreitenden Technisierung und Vergesellschaftung ehemals privater Reproduktionsarbeiten werde die Familie mitsamt den in ihr aufgehobenen »Geschlechterbanden« schlicht überflüssig. Fair enough, mochten da die alten Commies denken, schließlich hatten schon Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei siebzig Jahre zuvor die Aufhebung der Familie gefordert, galt sie ihnen doch – zumindest in ihrer bürgerlichen Form – als reiner Ausdruck eines Geldverhältnisses, basierend auf Kapital und Privateigentum. Und auch die Marxistin Kollontai sah ihre Zeitdiagnose nicht zwangsläufig negativ. Vielmehr betrachtete sie das Abflauen der Notwendigkeit von Familie als objektive geschichtliche Tendenz, auf die die aufkeimende russische Arbeitergesellschaft unterstützend einzuwirken habe: durch die möglichst umfassende Verstaatlichung der Produktionsmittel, der unproduktiven Hausarbeit und der Kindererziehung.

Kollontais Text, der sich heute wie eine Mesalliance aus fortschrittlichem Gesellschaftsentwurf und apokalyptischer Apologie eines Staatstotalitarismus liest, zielte vor allem auf die desaströse Situation proletarischer Familien, speziell der Frauen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Denn indem Frauen nicht mehr qua Geschlecht dazu verdammt sein sollten, ein Leben als kinderschenkende Leibeigene ihres Ehemanns zu führen oder aber sich zwischen Lohn- und Hausarbeit aufzureiben, könnten neue, auf Gleichheit und Freiheit beruhende zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb der kommunistischen Gesellschaft entstehen. Dass Kollontai dafür in erster Linie einen omnipräsenten Staat anrief, dass sie den je Einzelnen und sein privates Leben dem sowjetischen Kollektiv unterstellte – immer mit dem Ziel, aus allen glückliche und vor allem produktive ArbeiterInnen zu machen – wirkt gegenwärtig und um einige historische Erfahrungen schlauer, alles andere als erstrebenswert. Entgegen ihrer Hoffnungen entstand in der Sowjetunion weder eine freie Gesellschaft noch wurden auf lange Sicht die traditionellen Familienstrukturen aufgehoben. Ihre These vom Zerfall der bürgerlichen Familie unter dem modernen Kapitalismus scheint sich dennoch bewahrheitet zu haben.

In Analogie zum Übergang vom modernen zum postmodernen Kapitalismus hat sich das bourgeoise Familienmodell mittlerweile in seine Einzelteile zerlegt. In den westlichen Ländern existieren kaum noch Familien, in denen der Vater auf Grundlage seiner gottgegebenen, physischen oder ökonomischen Macht als unumstößliche Autorität über die restlichen Mitglieder herrscht. Vielmehr haben sich die Vorstellungen darüber, wen oder was das Konzept der Familie eigentlich meint, zunehmend Lebensentwürfen geöffnet, die von der Verbindung aus Vater, Mutter und ihren biologischen Kindern als naturhafte Grundform der Familie abweichen. Nur mag diese »Postmodernisierung« der Familie allzu oft darüber hinwegtäuschen, dass sich an der grundlegenden Funktion der Familie in der warenförmig organisierten Gesellschaft kaum etwas geändert hat. Anders als Kollontai meinte, die schrieb, dass der Staat die traditionelle Familie nicht länger benötigen würde, ja sie ihre notwendige Funktion verloren habe, ist sie nach wie vor erste und grundlegendste Sozialisationsinstanz der allermeisten Menschen. Und als solche fällt ihr, wie Max Horkheimer schreibt, die Rolle zu, die Reproduktion der Individuen so zu besorgen, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert. Als hierarchisch oder bisweilen autoritär strukturierte Gemeinschaft im Kleinen ist sie gleichsam Produkt und Produzentin der kapitalistischen Gesellschaft. Ebenso weist Horkheimer aber auch darauf hin, dass die Familie im Privaten nach anderen Prinzipien geordnet sein kann als die sie umgebende Gesellschaft. Zumindest dem Ideal nach seien dort die zwischenmenschlichen Beziehungen nicht durch ihren Nutzen bestimmt, sondern von Verbindlichkeit und gegenseitiger Liebe geprägt. Was bleibt, ist ein zutiefst ambivalentes Bild der Familie, die gewissermaßen die Voraussetzungen dafür schafft, eben das zu reproduzieren wovor sie zu schützen vorgibt.

Es ist also nicht sonderlich überraschend, dass die Familie von der radikalen Linken stets argwöhnisch betrachtet wurde. Wolfgang Pohrt brachte diese Ablehnung einst auf den Punkt, als er schrieb: »Eine Welt, die Auschwitz hervorgebracht hat, und sich danach nicht grundlegend geändert hat, ist eine Welt, in die man besser keine Kinder mehr setzen sollte. Das wäre ein vernünftiger Schluss.« Nur, so musste er hinzufügen, »so logisch verhalten sich die Leute nicht«. Und in der Tat scheint es kaum rationale Erklärungen dafür zu geben, warum sich Menschen nach wie vor Kinder wünschen, selbst dann, wenn man Pohrts Verweis auf die deutsche Vergangenheit nicht folgen mag. In einer Gesellschaft, die Autonomie und Flexibilität, Leistung und persönlichen Genuss zu ihren zentralen Werten erhoben hat, scheint der Wunsch nach Kindern völlig widersinnig. Zumal das Elternwerden nicht unerhebliche ökonomische Nachteile mit sich bringt und – besonders im Falle der Mütter – Karrierechancen bedeutend verringert. Nur: Weder die mangelnden Aussichten auf zeitgenössische Selbstverwirklichung noch Wolfgang Pohrts mahnende Worte scheinen die Menschen nachdrücklich davon abzuhalten, weiterhin Kinder zu bekommen. Nicht zuletzt gilt das sogar für einige RedakteurInnen der Phase 2.

Die Entscheidung für Kinder – und in der Folge die mit ihr verbundenen Nachteile und Risiken – werden gemeinhin als Privatangelegenheit der Einzelnen aufgefasst. Anhand der strukturalen Psychoanalyse Jacques Lacans stellt Maya Dolderer in ihrem Beitrag Why have kids? jedoch die gesellschaftliche Ebene des Wunsches nach Kindern heraus. Für den französischen Psychoanalytiker bildet sich Gesellschaft als Differenzsystem, in dem die Einzelnen sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in Abgrenzung zu den übrigen Subjekten in ihrer Identität konstituieren. Dass Identität für diese damit nicht mehr endgültig bestimmbar ist, bezeichnet er als den konstitutiven Mangel des Subjekts. Um seine Identität herzustellen, suche sich das Subjekt in seiner Phantasie daher ein Objekt, das verspricht diesen Mangel zu beheben. In Zeiten, in denen durch die bis ins hohe Alter verlängerte Jugendlichkeit die Grenze zwischen mündigen und unmündigen Personen immer prekärer werden lässt, ist es gerade die Beziehung zwischen einem Elternteil und seinem Kind, die die scheinbare Ordnung wieder herzustellen vermag. In dem Begehren nach einem Kind, das eben keines auf ein spezielles Kind ist, liege daher der Wunsch, sich selbst seiner eigenen Mündigkeit zu versichern. Gleichzeitig erlaubt die Existenz eines eigenen Kindes wieder mit jenen Teilen der eigenen Vergangenheit in Verbindung zu treten, die beim Übergang in die Welt der Erwachsenen zurückgelassen werden mussten. Der Wunsch nach einem Kind ist also für jene, die sich als fertige Individuen betrachten, sich jedoch gleichzeitig nach einer gestaltbaren Zukunft sehnen – also die Erwachsenen – eine gesellschaftlich konstruierte Sehnsucht und nicht alleiniger Ausdruck eines privaten Wunsches.

Das statistisch häufigste Ergebnis dieses Wunsches ist – sofern er denn überhaupt realisiert werden kann – eine Familie entsprechend gängiger Vorstellungen. Denn nach wie vor stellt der Nukleus aus Vater-Mutter-Kind die häufigste Lebensform da, in der Menschen in Deutschland miteinander zusammenleben. Die Existenz von Kindern scheint aus gesellschaftlicher Perspektive zwar keine hinreichende, zumindest aber eine notwendige Bedingung dafür zu sein, ein Beziehungsgeflecht als Familie zu bezeichnen. Cornelia Schadler unternimmt in ihrem Artikel Genese von Familie daher den Versuch, das Konzept in seiner Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen. Dabei stellt sie eine Korrelation zwischen den wandelbaren Vorstellungen über Familie mit den gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen, Besitz- und Geschlechterverhältnissen sowie der Architektur und Stadtplanung her, um darauf hinzuweisen, dass sich zwar die Grenzen des Vorstellbaren ausgeweitet haben, gleichzeitig aber die traditionelle Form des Zusammenlebens in der Kleinfamilie bestärkt wurde. Deren konkrete Gestalt ist dabei untrennbar mit der kapitalistischen Gesellschaft verbunden, was die scheinbare Öffnung der Familie für auf Wahlverwandtschaft, gleichgeschlechtlichen oder temporären Beziehungen beruhende Konstellationen, in einem Licht der zunehmenden Flexibilisierung im postindustriellen Zeitalter erscheinen lässt. Die Ausweitung abweichender Familienkonzepte bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf familiäre Werte nimmt auch Felicita Reuschling in den Blick. In Eine andere Familie ist möglich umkreist sie unterschiedliche Ansätze sozialistischer Bewegungen, die traditionelle Familienstrukturen aufzubrechen versuchen. Fester Fixierpunkt sind dabei die von Kollontai während der 1920er Jahre in der Sowjetunion angestrengten Reformen. Sämtliche der nachfolgenden Versuche – sei es die kollektive Kindererziehung im Kibbuz oder die antiautoritären Konzepte der 1960er Jahre in Deutschland – haben mit dem russischen Beispiel eines gemein: sie sind alle mehr oder minder gescheitert, da sie sich als experimentelle Enklaven innerhalb der Gesellschaft nicht deren immanenten Gesetzen entziehen konnten. Mittlerweile würden selbst Linke sich jedoch wieder positiv auf die bürgerliche Kleinfamilie beziehen, die Abhängigkeit von Kindern gegenüber ihren Eltern nicht mehr als strukturelles Gewaltverhältnis, sondern prä-feministisch als Liebe bezeichnen und die so entstandene Familieneintracht als ihre private Enklave der Dauerhaftigkeit dem Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen unter dem Neoliberalismus entgegenstellen. Familienformen, die von dem nuklearen Modell abweichen, sehen sich aller Liberalisierung zum Trotz, nach wie vor mit fehlender rechtlicher Gleichstellung konfrontiert. Zwar haben seit 2001 sukzessive Gerichtsurteile die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Paare der Ehe angeglichen, doch immer unter der Maßgabe, diese mögen sich in Dauer und Anzahl der PartnerInnen an die heterosexuelle Norm anpassen. Vor allem Mehrelternschaft, Transelternschaft und soziale Wahlverwandtschaft fordern hingegen das traditionelle Familienverständnis wie auch das Recht gleichermaßen heraus, wie Doris Liebscher und Juana Remus in ihrem Beitrag Blut ist dicker als Wasser darstellen. Die Familienpolitiken und Familienrechtssprechung sind in Bezug auf die Übernahme von Sorgeverantwortung, die Weitergabe von Kapital oder die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung weiterhin am traditionellen Familienkonzept orientiert. Jene Konzepte, die das biologische Reproduktionsmodell – also den heterosexuellen Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Mutter – durch Wahlverwandtschaft in Frage stellen, in denen Reproduktion und Sexualität auseinanderbrechen, die mit der Norm binärer Elternschaft brechen und genetische, soziale und rechtliche Elternschaft nicht mehr zwangsläufig in der heterosexuellen Zweierbeziehung vereinen, sind weit von der Anerkennung als Familie und damit der rechtlichen Gleichstellung entfernt. Denn das deutsche Familienrecht stellt unmissverständlich die Abstammung über alles andere, wenn es heißt: »Die Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat«. Einzig ihr Ehemann wird automatisch zu dessen Vater, ohne dies selbst anerkennen zu müssen. Auf der anderen Seite ist es weder Transmännern, die ein Kind zu Welt bringen, möglich, sich als Väter anerkennen zu lassen noch ist die sozial familiäre Beziehung einer Co-Mutter, die mit der biologischen Mutter verpartnert ist und gemeinsam ein Kind aufzieht, vor der Vaterschaftsanfechtung des biologischen Vaters sicher. Analog zur Reform des Eherechts, die 1977 ein auf Gleichberechtigung basierendes Modell einführte, fordern die Autorinnen das auf Bindung durch Abstammung aufbauende Familienrecht zugunsten sozialer Elternschaft – verstanden als willentliche Sorge- und Verantwortungsübernahme – im Sinne eines emanzipativen Familienmodells zu lockern.

Eine nicht unbedeutende Rolle hierfür könnte der Reproduktionstechnologie zukommen. Abgesehen von Deutschland innerhalb von Europa schon lange nicht mehr nur heterosexuellen Paaren zugänglich, trägt sie die Möglichkeit in sich, die vorherrschenden Konzepte von genetischer Abstammung im speziellen und der Biologie im Allgemeinen in Frage zu stellen. Bislang galt die auf Verwandtschaft basierende Familie als prototypische Mittlerin zwischen den dichotomen Sphären von Natur und Gesellschaft mit der Heirat als gesellschaftlicher Allianz und ihrem Produkt, dem Kind, als naturhaftem Ergebnis. Wo jedoch diese Naturhaftigkeit durch eine der verschiedenen Formen reproduktiver Medizin in Frage gestellt und in einen viel mehr medizinischen, also kulturellen bzw. artifiziellen Vorgang übertragen wird, öffnet sich auch das daran anschließende Familienkonzept dahingehend, die biologischen und sozialen Aspekte von Verwandtschaft neu überdenken zu können wie Sven Bergmann in seinem Artikel Love to love you Baby darstellt.

Darauf, dass die Familie – ganz unabhängig vom Verwandtschaftsgrad zwischen ihren Mitgliedern oder der Existenz von Kindern – nicht ausschließlich als private Enklave innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft besteht, sondern in ihren inneren Strukturen von dieser geprägt ist, haben feministische Theoretikerinnen schon lange vor Kollontai aufmerksam gemacht. Als zentrales Moment dieser Auseinandersetzungen hat sich bis heute die Diskussion um die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre bzw. zwischen Produktion und Reproduktion erhalten. Die Marxistin Kollontai sah in der häuslichen Reproduktionsarbeit zwar ein nicht geringes Übel, wertete sie jedoch gleichsam im Gegensatz zur wertproduzierenden Lohnarbeit als unproduktiv ab. In diesem Punkt unterscheidet sie sich in keiner Weise von der landläufigen Meinung oder den traditionellen Wirtschaftswissenschaften. Diese ökonomische Entwertung des Privaten erfuhr im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts zunehmend Kritik. Denn die privat und unentgeltlich besorgte Reproduktion (der Ware Arbeitskraft) geriet als existenzielle Grundlage einer jeden kapitalistisch organisierten Gesellschaft in den Blick, deren Hauptlast die Frauen trugen und nach wie vor tragen. Während Sonja Engel in ihrem Beitrag Sichtbarkeit produzieren die historische Entwicklung dieser Diskussionen von den Anfängen feministischer Ökonomiekritik über die marxistisch geprägte Hausarbeitsdebatte der 1970er Jahre bis zu ihrer gegenwärtigen Aktualisierung unter dem catchy Slogan der Care-Revolution nachzeichnet, gibt Sarah Speck in Schräge Gleichheit einen Einblick in die empirischen Realitäten von Paaren aus dem Milieu urbaner SelbstverwirklicherInnen. Obwohl es gerade unter großstädtischen FreiberuflerInnen zum guten Ton gehört sich sowohl hinsichtlich der Gestaltung von Lohnarbeit als auch des Privatlebens in Haushalt und Liebe als besonders fortschrittlich zu empfinden, zeigt der Beitrag, dass von einer Gleichberechtigung der Geschlechter kaum die Rede sein kann.

Kann die Illusion einer egalitären Beziehung zwischen Mann und Frau bei kinderlosen Paaren möglicherweise noch aufrecht erhalten werden, ändert sich dies durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes rapide. Allzu deutlich tritt hier ein biologischer Unterschied zwischen beiden aus dem Hintergrund heraus, der der Verpflichtung der Frau auf das häusliche, private Leben und der des Mannes auf die öffentliche Sphäre naturwüchsige Legitimität zu verleihen scheint. Wer der proklamierten Kausalität zwischen dem Geschlecht eines Menschen und seinem Charakter vernünftiger Weise nicht glauben mag, wer als Eltern Betreuung und Fürsorge eines Kindes wie auch individuelle Freiheit zu gleichen Teilen wahrnehmen oder auch nur sein Kind jenseits von geschlechtlichen Stereotypen großziehen möchte, der/die wird sich unangenehm mit dem Einbruch der gesellschaftlichen Realität in der ehemals als von dieser relativ unabhängig betrachteten Privatsphäre konfrontiert sehen. Wie es sich aus einer weiblichen Perspektive anfühlt, Wenn die Blase platzt, beschreibt Jenny Doe; sie weist darauf hin, dass das private Leben damit noch offensichtlicher zum Feld politischer Auseinandersetzungen wird. Das heißt aber auch, dass neben aller notwendigen Gesellschaftskritik eine Beschäftigung mit Familie gleichfalls eine individuelle Perspektive und die dort vorhandenen Handlungsspielräume erfassen sollte. Jochen König plädiert daher in seinem Artikel Väter und ihre Ausreden dafür, dass in erster Linie Väter mehr Verantwortung bei Hausarbeit und Kindererziehung übernehmen müssten, anstatt sich beharrlich hinter alten Rollenmustern oder der Angst vor finanziellen Nachteilen zu verstecken. Nur ist eine dezidiert linke Debatte um die Rolle von Vätern nahezu inexistent.

Dort hingegen, wo die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten von Eltern am handgreiflichsten in Erscheinung treten, in der Erziehung, ist mit der Pädagogik schon lange eine eigene Sparte des Wissenschaftsbetriebs etabliert. Abgesichert durch Artikel 6 des Grundgesetzes kommt der Familie zwar ein vom Staat zugeschriebener Erziehungsauftrag zu, doch dient dieser in erster Linie dazu, einen unmündigen Menschen auf sein Funktionieren im bestehenden politischen und ökonomischen System vorzubereiten. Wer seinen Blick auf dieses System in erster Linie aus der Negation des Bestehenden speist, ist spätestens mit dem Eintritt der Kinder in den Kindergarten mit einem unauflösbaren Dilemma zwischen den eigenen Ansprüchen und dem gesellschaftlichen Alltag konfrontiert. Über die Angst an diesem Widerspruch, an dem Zwang, sein Kind für die gesellschaftliche Konkurrenz »fit« zu machen ohne ihn befördern zu wollen, haben sich Astrid Henning-Mohr, Judith Rudolph und Jonas Engelmann für diese Ausgabe unterhalten. Das angesichts des absehbaren Scheiterns der eigenen Ambitionen von ihnen wiederbelebte altbekannte Diktum hat jedoch nicht nur in der Erziehung, der Liebe oder dem Haushalt nicht an Wahrheit eingebüßt, sondern ist auch aus historischer Perspektive interpretierbar. Als Bestandteil einer jeden deutschen Familienbiografie wirkt die Erinnerung an den Nationalsozialismus im familiären Gedächtnis fort. Unabhängig von ihrer jeweilig besprochenen oder verschwiegenen Be- und Verarbeitungsform, der – auf TäterInnenseite – entschuldenden, leugnenden oder relativierenden Funktion des Gesagten, bleibt der familiäre Raum jenseits des medialen und öffentlichen Diskurses Mittelpunkt des intergenerationell tradierten Gedächtnisses. Seine affektive Bindung an und erzieherische Prägung durch die vorhergehende Generation bildet ein vielfach gegen äußere Einflüsse abgedichtetes historisches Narrativ aus. Das Auseinanderfallen des von Politik und Öffentlichkeit inszenierten Anspruches von umfassender Aufarbeitung und der Versiegelung des privaten Gedächtnisses unterstreicht den Trutzburgcharakter von Familie. Vor dem Hintergrund der innerhalb des letzten Jahrzehnts eingesetzten Schwemme auto- und familienbiografischer Zeugnisse und Auseinandersetzungen diskutiert Johannes Spohr in seinem Artikel Wie ein Fußballergebnis, ob der hier vorgestellte (Erinnerungs-)Konflikt noch adäquat getroffen wird oder ob sich das »Familiengespräch« in dritter und vierter Generation mit dem Ableben von Opa und Oma nicht verschoben hat. Und letztlich bleibt es wohl dabei: »Das Private ist Politisch!« Auch heute noch, gerade und insbesondere in, mit und gegen die Familie.

 

Phase 2 Leipzig