Die bescheidenen Anfänge der Occupy Wall Street (OWS)-Bewegung gehen auf einen in der Zeitschrift Adbusters veröffentlichten Aufruf zurück, in dem eine Untersuchung der Finanzkrise von 2008 gefordert wurde. In der Zwischenzeit hat sie sich zu einem ebenso nationalen wie internationalem Phänomen entwickelt, das in über 150 Städten der Vereinigten Staaten sowie in 1500 auf der ganzen Welt ein Echo gefunden hat. Das Zeltdorf im Zucotti Park von Lower Manhattan wurde schnell zu einer großen Bewegung, die den politischen Diskurs veränderte und sowohl Medien als auch die politischen Eliten dazu zwang, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie hat außerdem die amerikanische Linke in einem Maße neu belebt, wie es seit den Tagen der Alter-Globalisierungsbewegung vor über einem Jahrzehnt nicht mehr zu beobachten war. Während sich die OWS-Bewegung noch in einer Phase der Entwicklung und Entfaltung befindet, wird dieser Text versuchen, vorläufig auf sie zu reagieren, indem er ihr Potential für eine Widerbelebung emanzipatorischer Politik in Nordamerika analysiert und nach ihren möglichen Abgründen fragt. Dazu soll ein Vergleich mit der Alter-Globalisierungsbewegung gezogen werden, auf die sich OWS immer wieder bezieht.
An den ersten Protesten am 17. September nahmen ungefähr 500 Personen teil. Es handelte sich dabei um eine Mischung aus sehr jungen Aktivist_innen, deren Auftreten an die sechziger Jahre erinnerte, und einem beträchtlichen Anteil an sichtlich älteren Menschen. Sie trugen Tafeln mit einer bunten Auswahl an Themen, die einem rechtsradikalen, einem ökonomisch libertären oder einem 9/11-Verschwörungstheorie-Kontext entstammten. Der offene Charakter der Demonstration und die voneinander abweichenden politischen Positionen zogen ein heilloses Durcheinander populistischer Themen nach sich. Es war auf den ersten Blick nicht erkennbar, ob es sich um eine linke oder rechte Bewegung handelte oder was sie überhaupt bezweckte. Gegen Ende der ersten Woche war das öffentliche Bild der Bewegung ein eher traditionslinkes geworden, das sich in erster Linie durch Bezüge auf ökonomische Ungleichheit und die Forderung nach einer Wiederbelebung der Demokratie auszeichnete. Eineinhalb Monate später fand sich auf der Website von OWS das folgende Statement: »Occupy Wall Street ist eine führerlose Widerstandsbewegung, die aus Menschen vieler Farben, Geschlechter und politischer Überzeugungen besteht. Uns vereint, dass wir die 99 Prozent sind, die keinen Tag länger die Gier und Korruption des einen Prozents hinnehmen werden. Wir bedienen uns der revolutionären Taktik des Arabischen Frühlings, um unsere Ziele zu erreichen und rufen zu gewaltfreien Protestformen auf, um die höchstmögliche Sicherheit aller Teilnehmer_innen zu gewährleisten. Die #ows Bewegung ermächtigt echte Menschen, echte Veränderung von Unten zu schaffen. Wir wollen in jedem Hinterhof und an jeder Straßenecke eine Generalversammlung sehen, weil wir weder die Wall Street, noch Politiker_innen brauchen, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen.«occupywallst.org
Selbst in der einfachsten Formulierung dieser politischen Agenda kommen widersprüchliche Gedanken zum Ausdruck: Wenn zunächst in reformistischem Stil »Gier und Korruption« als die Hauptschuldigen identifiziert werden, so folgt kurz darauf das Prädikat »revolutionär«, mit dem für »echte Veränderung von Unten« aufgerufen wird, die keine »Politiker_innen« brauche. Der Verweis auf die Taktiken des Arabischen Frühlings illustriert zwar die thematische Überschneidung beider Proteste in der Problematisierung der trostlosen Jobaussichten für Jugendliche. Zugleich ignoriert er aber den substantiellen Unterschied zwischen dem Ruf nach politischer Befreiung (»Mubarak muss weg«) und dem Anliegen sozialer Gerechtigkeit, das mit einer Ablehnung lediglich personeller Veränderungen einhergeht. Es besteht folglich eine große Spannung zwischen frisch politisierten Aktivist_innen, die davon ausgehen, dass das System repariert werden kann, und denen, die glauben, dass eine Reform nicht möglich ist. In der Regel handelt es sich bei letzteren um Anarchist_innen mit längerer Aktivismus-Erfahrung. Diese Spannung trat auch in anderen Belangen zutage: ob jemand der Polizei gegenüber freundlich oder feindselig gesinnt ist, ob rechtliche Restriktionen bei den Protesten berücksichtigt werden und ob dabei an den Nationalismus appelliert wird.
Teilweise werden diese politischen Spannungen von einem formalen Konsens überschattet. Der von OWS ausgehende Ruf nach führungsloser direkter Demokratie, die Kritik an der Macht der Konzerne, das Engagement für eine Politik, die sich gegen Unterdrückung richtet, der radikale Pluralismus und der Schwerpunkt auf direkter Aktion bauen unmittelbar auf die neo-anarchistische Politik der (nordamerikanischen) Alter-Globalisierungsbewegung (AGB) auf. Es ist daher kaum überraschend, dass sich OWS mit den gleichen Problemen und Schranken konfrontiert sieht, die seinerzeit zum Niedergang dieser Bewegung beigetragen haben. Erwartet OWS dasselbe Schicksal wie die AGB?
Die Politik von OWS: Form und Inhalt
Der anarchistische Ethnologe David Graeber ist einer der zentralen Verbindungsglieder zwischen den beiden Bewegungen. Als Teilnehmer und Theoretiker der AGB ist er zur »wichtigsten intellektuellen Inspiration« von OWS erklärt worden, hat in Adbusters publiziert und war an den Mobilisierungen zu Zeiten der AGB beteiligt.Vgl. David Graeber, The New Anarchists, in: New Left Review 2, 13 (2002), 61–73; Dan Berrit, Intellectual Roots of Wall St. Protest Lie in Academe, in: Chronicle of Higher Education Online Edition, eingesehen am 16. Oktober 2011. Ein im Jahr 2001 in der Zeitschrift New Left Review veröffentlichter Artikel von Graeber, der die politischen Anliegen der AGB zusammenfasst, könnte heute fast Wort für Wort auf die OWS-Bewegung umgemünzt werden: »Es handelt sich um eine Bewegung, der es um die Neuerfindung der Demokratie geht. Sie lehnt Organisierung nicht ab, arbeitet aber an der Schaffung neuer Formen der Organisierung. Ihr fehlt es nicht an Ideologie. Sie möchte horizontale Netzwerke knüpfen, die an die Stelle von top-down Strukturen wie Staaten, Parteien oder Konzernen treten sollen, aktive Netzwerke, die auf den Prinzipien dezentralisierter, nicht-hierarchischer Konsensdemokratie basieren.«Graeber, Anarchists, 68.
Die OWS-Bewegung teilt diese Gedanken. Aus der Ablehnung beider amerikanischer Parteien resultiert bei OWS der Versuch – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – einen Raum zu schaffen, in dem eine neue Form von Politik praktiziert und die ersehnte radikaldemokratische Gesellschaft entworfen werden kann. Dadurch aber, dass die so genannte »prefigurative politics«, das »alltagspolitische Handeln«, das eher praktisch als ideologisch sein soll und das Graeber als »Anarchismus mit kleinem a« bezeichnet,In einer Fußnote, die den Fokus auf Aktionen statt auf Ideen unterstreicht, bemerkt er: »Es gibt sie noch, die Gruppen, die sich als anarchistisch mit große A bezeichnen lassen – so z. B. die North East Federation of Anarchist Communists, deren Mitglieder die Prinzipien der 1926 von Nestor Machno niedergeschriebenen Organisatorischen Plattform der libertären Kommunisten anerkennen müssen. Aber die Anarchisten mit kleinem a sind heute die wahren Träger der historischen Dynamik.« Ebd., 71. Inhalt in Form auflöst, wird dessen anti-politische Tendenz sichtbar. Was schon auf die konsensbasierte AGB zutraf, wurde durch den erklärten Populismus von OWS weiter aufgewertet: Jede Diskussion politischer Fragen zieht sofort die Trennlinie der 99 Prozent ein. Das zeigt sich am deutlichsten an den Ambivalenzen und Konflikten, die in den Diskussionen offenbar werden, ob OWS konkrete Forderungen stellen soll. Zum einen wissen betagte Aktivist_innen, dass es viele gute Gründe dafür gibt, sich bei der Formulierung von Forderungen in Zurückhaltung zu üben: das Aufbrechen und Simplifizieren einer systemischen gesellschaftlichen Totalität, die Legitimierung des Staats durch das Erheben von Ansprüchen an ihn und die Gefahr, einer Vereinnahmung Tür und Tor zu öffnen. Zum anderen ist jedoch auch zu konstatieren, dass viele der Okkupant_innen nicht wissen, was sie überhaupt wollen. Das vermag kaum zu überraschen, zumal sogar große Verwirrung darüber herrscht, gegen wen genau OWS eigentlich protestiert: Gegen die Federal Reserve, die amerikanische Staatsbank, oder die Aufhebung des Glass-Steagall Acts?Mit diesem Gesetz wurde die Federal Deposit Insurance Corporation (dt. Bundes-Versicherungsanstalt für Kapitalanlagen) aufgebaut, die Garantien für Geldanlagen in Privatbanken gab, um panische Anleger davon abzuhalten, ihr gesamtes Geld während der Großen Depression abzuheben. Außerdem schrieb es die Trennung von Geschäftsbankwesen und Investmentbanking vor, was mit einem fundamentalen Interessenskonflikt begründet wurde, der sich ergibt, wenn eine Bank Kredite sowohl gewähren als auch selbst in Anspruch nehmen kann. Von zahlreichen Menschen der Linken wie der Rechten wird die Aufhebung des Gesetzes im Jahr 1999 als Vorbedingung der Krise von 2008 angesehen. Gegen Gier? Wie sich an zahlreichen Plakaten ablesen lässt, nehmen viele der Demonstrant_innen zum ersten Mal an einem Protest teil und sind von der gemeinsamen Wahrnehmung motiviert, dass ihre Bedürfnisse im Gegensatz zu denen der Wall Street nicht befriedigt werden. Sie sind davon überzeugt, dass das ganze politische System von dieser grundlegenden Tatsache bestimmt wird. Trotz dieser aufkeimenden Systemkritik werden die Proteste von einem durch Flaggen repräsentierten Nationalismus ebenso dominiert, wie von einer Sprache des »Betrugs«, der »Korruption«, von »Main Street gegen Wall Street« und »taking back America« (dt.: die Rückeroberung Amerikas). All das täuscht nur darüber hinweg, dass tiefe Verwirrung über die Frage herrscht, ob die gegenwärtige Krise die Ausnahme oder die Regel darstellt. Die demokratische Selbstorganisation des Zeltdorfs füllt dieses politische Vakuum gänzlich aus und hebt die Notwendigkeit weiterführender Diskussionen auf. Die Form macht den Inhalt überflüssig.
Doch dem Dickicht der Politik ist nicht zu entkommen. Die politischen Fragen sind nicht neu und können nicht auf Dauer gemieden werden. Die Feindseligkeit gegenüber vermeintlichem »Sektierertum«, das sich Marxist_innen und Anarchist_innen gleichermaßen gegenseitig vorwerfen, macht eine allergische Reaktion auf die Konfrontation mit Fragen sichtbar, die zwangsläufig politische Uneinigkeit stiften müssen. Ein Beispiel dafür ist, dass die Vorschläge der von Gewerkschafter_innen und Marxist_innen dominierten Arbeitsgruppe für »demands«, für konkrete Forderungen, systematisch von Anarchist_innen blockiert und schließlich von der OWS-Website entfernt wurden.Für mehr Informationen über diese Spannungen vgl.: rosswolfe.wordpress.com/2011/10/26/internal-tensions-within-occupy-wall-street-the-demands-working-group-and-the-drummers-working-group Der militant pluralistische Populismus von OWS war bisher eine Stärke und gibt, solange die Bewegung im Wachsen begriffen ist, Menschen einen Rahmen, in dem sie einfach wütend sein können. Doch politische und strategische Fragen können nur eine gewisse Zeit lang unterdrückt werden, denn eine Bewegung, die stillsteht, geht zugrunde. Sobald konkrete Ziele und Strategien auf die Tagesordnung gesetzt werden, werden die 99 Prozent sich ihren politischen Präferenzen gemäß in Fraktionen zersplittern. Im Gegensatz zur AGB kann OWS nicht auf ein Jahrzehnt des kollektiven Aktivismus im Rahmen einer sozialen Bewegung zurückblicken, in dessen Verlauf sich ein allgemeiner Konsens über die politische Vision herausbilden konnte. OWS ist breiter und politisch heterogener und schließt Positionen mit ein, die sich erklärtermaßen im rechten Flügel verorten lassen. Daher ist zu erwarten, dass die politische Zersplitterung entsprechend heftig ausfallen wird.
Während die politische Ausrichtung noch geklärt wird, bleibt die Aufrechterhaltung der Zeltlager im Zentrum des Interesses. Wenn man durch die Camps schlendert oder den Generalversammlungen lauscht, stößt man kaum auf Diskussionen über konkrete politische Strategien, die Machbarkeit des Sozialismus in einem Land oder die Tobin-Steuer etwa. Und offensichtlich wird noch viel weniger darüber gestritten, wie solche Ziele erreicht werden könnten. Stattdessen konzentrieren sich die meisten Diskussionen der Versammlungen auf die Logistik zur Aufrechterhaltung der Okkupation: auf Updates, auf Lärmprobleme (von der New Yorker Generalversammlung wurde ein hohes Maß an Zeit und Energie darauf verwendet, festzulegen, wie viele Stunden am Tag die Trommelkreise spielen dürfen), darauf, die Leute satt zu bekommen und auf ihre Unterbringung. Die Generalversammlung hat häufig den Charakter eines extrem ineffizienten Wohnprojektplenums, das von gelegentlichen Gefühlsausbrüchen in Form politischer Slogans unterbrochen wird.
Während die Versammlungen an die von Hannah Arendt in Über die Revolution verfochtene Vision direkter Demokratie erinnern, steht die Konzentration auf biologische Reproduktion der Definition von Politik, wie sie Arendt in Vita Activa umreißt, ihr diametral entgegen. Diese besagt, dass notwendige Reproduktionsarbeit im Grunde das Gegenteil von Politik ist, welche Arendt als den Akt der Schaffung einer gemeinsamen sozialen Welt begreift, die über die Ansammlung privater Bedürfnisse hinausreicht.Arendt diskutiert den »verlorenen Schatz der Revolution« im sechsten Kapitel von Über die Revolution, München/Zürich 2011, 277–362. Die (in anderer Hinsicht problematische) Unterscheidung zwischen sozialem und politischem Leben führt sie ein in Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich 2010. Nur eben in diesem Sinne der politischen Momente wird die Häuslichkeit der an einen festen Ort gebundenen Zeltlager überschritten – erinnert sei an die Besetzung der Brooklyn Bridge in New York am 1. Oktober, die 700 Verhaftungen nach sich zog, oder an den Generalstreik von Oakland am 2. November, bei dem der Hafen blockiert wurde, die Protestierenden die Konfrontation mit der Polizei suchten und militante Taktiken anwendeten. Diese Aktionen entfalten die bisher größte Wirkung, weil sie das institutionalisierte Machtgefüge herausfordern und ein gemeinsames Unterfangen zur politischen Willensbildung darstellen. Dies hat zumindest im Hinblick auf das New Yorker Zeltdorf eine Kluft offen gelegt. Sie erstreckt sich zwischen der ausgefeilten, konkreten Art und Weise, in der alltägliche logistische Probleme verhandelt werden und den in höchstem Maß abstrakt gebliebenen Diskussionen um weiter reichende Fragen nach der Ausrichtung, den Zielen und Strategien. Dadurch hat OWS die klassische politische Formel von Ziel – Strategie – Taktik in die von Taktik – Strategie – Ziel verkehrt.
Gier, die 99 Prozent und die Personalisierung des Kapitalismus
Die »Gier« des einen Prozents, der die 99 Prozent entgegengehalten werden, hat sich als der dominierende Interpretationsrahmen von OWS etabliert. Diese Analyse übersieht, dass der Kapitalismus im Gegensatz zu früheren Epochen wie dem Feudalismus Tendenzen zeitigt, durch die persönliche Gier tatsächlich eingeschränkt wird – nämlich den zerstörerischen Druck des Konkurrenzstrebens und die Notwendigkeit der Reinvestition von Kapital. Was dieser Bewegung fehlt, ist eine angemessene Wahrnehmung des Kapitalismus als System, die an die Stelle ihrer Fokussierung auf Korruption und die parasitären »schwarzen Schafe« der Wall Street tritt. Der Interpretationsrahmen der 99 Prozent lässt außen vor, dass kapitalistische Herrschaft nicht nur von Außen auf uns einwirkt, sondern auch durch uns hindurch ihre Wirkung entfaltet. Sowohl die 99, als auch das eine Prozent stehen im Bann eines unpersönlichen Konkurrenz-Imperativs, der sofort jeden abtrünnigen Banker oder jede CEO ruinieren würde, wenn er oder sie sich plötzlich die Botschaft von OWS zu Herzen nehme. Die Erfahrung der Kooperativen-Bewegung ist ein lehrreiches Beispiel dafür. Selbst die vielversprechendsten und aus tiefer politischer Überzeugung entstandenen Projekte scheiterten entweder, oder wurden traditionellen Firmen immer ähnlicher – nur dass sie keine Bosse hatten, die man dafür hätte verantwortlich machen können. Weil man in den immer gleichen Problemen eines »Sozialismus in einem Land« stecken bleibt, ist das Ergebnis entweder das Verschwinden oder eine stärker selbstverwaltete Form des Kapitalismus, die dem exemplarischen unternehmerischen Traum eines Arbeitsplatzes ohne Bosse recht nahe kommt.
Diese Personalisierung des Kapitalismus hat zusammen mit einigen Vorfällen im Zucotti Park, bei denen explizit antisemitische Slogans verwendet wurden, Befürchtungen darüber wachgerufen, dass Antisemitismus eine dominante Tendenz innerhalb von OWS ausmachen könnte. Dieses Problem resultiert vor allem aus dem radikalen Pluralismus der Gruppe. Jede_r kann mit einem Schild ankommen, auf dem »Die Zionisten kontrollieren die Wall Street« zu lesen ist oder in Blogs darüber posten, wie »die Rothschilds Amerika das Leben aussaugen«. Allerdings lässt sich die Bewegung durch den Rückgriff auf diese Vorkommnisse allein nicht kohärent beschreiben. Die wenigen, die offen antisemitische Tafeln in der Hand hielten, wurden zuerst belächelt und dann aus dem Park vertrieben, was in diesem militant gewaltfreien Milieu eine recht drastische Maßnahme darstellt. Weit problematischer ist dafür die von der populistischen Linken betriebene Personifizierung des Kapitals in der Figur des Bankers, die allzu umstandslos mit antisemitischen Stereotypen, wie das des verschwörerischen Juden, der hinter dem Vorhang die Fäden zieht, übereinstimmt. Im Gegensatz zu Deutschland jedoch hat der Antisemitismus in den Vereinigten Staaten eine weit weniger bedeutsame politische Vergangenheit und konnte keine entsprechende Wirkmacht entfalten. Die Kapitalismuskritik der amerikanischen Linken ist oft unausgereift und richtet sich im Namen »produktiver Arbeit« gegen das vermeintlich »unproduktive Kapital«, was zum Teil auf das Fehlen einer starken sozialistischen oder kommunistischen Tradition zurückzuführen ist. Es liegt daher viel näher, hier statt von einem »Sozialismus der dummen Kerle« einfach von einem dummen Sozialismus zu sprechen. Weil ihr eine konsequente und ausgereifte Kapitalismuskritik fehlt, gerät die amerikanische Linke in Begeisterung, sobald in irgendeiner Form Klassenverhältnisse und ökonomische Ungleichheit thematisiert werden, egal wie problematisch diese Form auch sein mag. Das gleiche lässt sich auch über soziale Bewegungen und »die Massen« im Allgemeinen sagen.
Lehren aus der jüngeren Geschichte der Linken
Occupy Wall Street und die Alter-Globalisierungsbewegung teilen zahlreiche Eigenschaften. Die AGB erklärte ebenfalls die Macht der Konzerne zum Ziel ihrer Angriffe und leitete ihr demokratisches Politikverständnis aus ihrer internen Organisationsstruktur sowie ihren Aktionen ab. Was aber ist mit dieser Bewegung passiert? Warum hat es ganze drei Jahre gedauert, bis eine aktivistische Linke auf die Wirtschaftskrise reagierte? Und warum ging diese Reaktion gerade nicht in erster Linie von Aktivist_innen der AGB aus und wurde nicht von ihnen angeführt?
Meine These ist, dass die ABG, ähnlich wie ihre auf direkte Aktion konzentrierten Vorgängerinnen in den siebziger und achtziger Jahren, zum Opfer von Problemen wurde, mit denen Bewegungen zu kämpfen haben, die Form und Inhalt bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen. Das Schicksal des Direct Action Network (DAN), der Organisation, die im Zentrum der letzten Welle von linksradikalem Aktivismus stand, ist dafür lehrreich. Trotz einer relativ schlüssig formulierten politischen Ausrichtung auf antikapitalistische direkte Demokratie, war die Politik des DAN untrennbar mit einer bestimmten Taktik verknüpft. Diese bestand aus einer Verbindung von direkter Aktion mit einem in der Zwischenzeit altbekannten, auf konsensbasierten Entscheidungsstrukturen aufbauenden, Prozess direkter Demokratie. Die Fixierung auf eine bestimmte Taktik schloss die Möglichkeit aus, dass die strategischen Überlegungen die soziale Vision des DAN über die engen, von der Form einer Bewegung vorgezeichneten, Grenzen hinaus hätte verallgemeinern können. Eine solche Verfallskurve ist jedoch nichts Neues. Die Probleme, denen auf Alltagshandeln fixierte Bewegungen regelmäßig erlegen sind, wurden bereits ausführlich in drei exzellenten Texten diskutiert: Jo Freemans Aufsatz Tyranny of the Structurelessness (dt. Die Tyrannei der Strukturlosigkeit) thematisiert informelle Hierarchien in »führerlosen« Bewegungen; das Buch Political Protest and Cultural Revolution (dt. Politischer Protest und kulturelle Revolution) von Barbara Epstein erzählt die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre; und Andy Cornells kürzlich erschienener Band Oppose and Propose (dt. Widerstehe und Verändere) blickt auf das von Philadelphia aus agierende Aktivist_innen-Netzwerk Movement for a New Society zurück.Vgl. Jo Freeman, Tyranny of the Structurelessness, in: Berkeley Journal of Sociology 17 (1972/73), 151–165; Barbara Epstein, Political Protest and Cultural Revolution. Nonviolent Direct Action in the 1970s and 1980s, Berkeley 1993; Andy Cornell, Oppose and Propose: Lessons from Movement for a New Society, Oakland 2011. Diese Arbeiten, die allesamt von überzeugten Bewegungs-Aktivist_innen verfasst wurden, untersuchen und kritisieren die Defizite der Friedensbewegung sowie der feministischen und ökologischen Bewegungen in den siebziger und achtziger Jahren, die allesamt auf direkte Aktion fixiert waren und als quasi-anarchistische Vorläufer sowohl der ABG als auch von OWS gelten können. Freemans Aufsatz beschäftigt sich mit der Frauenbewegung der siebziger Jahre und zeigt auf, wie das Fehlen geregelter Entscheidungsprozesse in scheinbar »führerlosen« Gruppen über informelle Hierarchien, die Bildung von Cliquen und einen charismatischen Autoritarismus hinwegtäuschte. Und er stellt fest, dass mit der Etablierung solcher informeller Strukturen keineswegs Mittel und Wege entstehen, persönliche Verantwortlichkeiten angemessen nachvollziehbar zu machen. Epstein und Cornell zählen Probleme auf, die sich für Bewegungen ergeben, die auf politisches Alltagshandeln fixiert sind. Besondere Bedeutung haben dabei die Verschmelzung von Taktik und Strategie, die Unfähigkeit sich zu einer Massenbewegung zu entwickeln sowie Tendenzen zur Beschränkung auf Lifestyle-Fragen und zum individuellen Burnout. Zusammen betrachtet liegt der unschätzbare Wert dieser Texte darin, dass sie mit empirischem Material unterfütterte historische Darstellungen der wirklichen Grenzen liefern, an die auf Alltagshandeln ausgerichtete Bewegungen stoßen. Sie zielen damit zudem über abgestandene und abwehrhafte theoretische Debatten zwischen Marxismus und Anarchismus hinaus.
Gegenwärtig sind einige Entwicklungen zu verzeichnen, die Hoffnung machen. Dazu zählt die Möglichkeit, dass die Bewegung auch jene erfassen könnte, die keine Zeit dafür haben, Parks zu besetzen. Am Demonstrationszug und an der Kundgebung vom 15. Oktober nahmen zahlreiche und ganz unterschiedliche Menschen teil (ca. 20.000). Selbst ein Gutteil der institutionalisierten Linken – besonders aus dem Umfeld der Gewerkschaften – konnte mobilisiert werden. Dies sollte am 17. November, der zum Aktionstag erklärt wurde, wiederholt werden. Dabei wurde auch über die Beteiligung der Gewerkschaften an direkten Aktionen wie der Blockade von Tunneln und U-Bahnen gesprochen. Weitere ermutigende Entwicklungen sind das erhöhte Maß an Militanz und der erweiterte Aktionsradius, die sich in Oakland beobachten lassen. Der Generalstreik, die Blockade der Häfen und die Bereitschaft, sich der Polizeigewalt entgegenzustellen sind deshalb vielversprechend, weil sie über das bloße Ritual der Besetzung hinausgehen. Allerdings beschränken sie sich im Großen und Ganzen auf die Bay Area, die Gegend rund um San Francisco, die auf eine einzigartige Tradition militanter Protestkultur zurückblicken kann. Das vielleicht größte Verdienst von OWS ist jedoch, dass die Bewegung ein weitverbreitetes Bedürfnis nach der Wiederbelebung einer Linken sichtbar gemacht hat, die mehr will, als der Demokratischen Partei Wähler zuzuführen. Wie schon die Neue Linke und die ABG vor ihr, hat OWS einen wichtigen neuen Raum für Debatten darüber geschaffen, was die Linke will und wie sie gedenkt, es zu erreichen. In diesem Raum könnten Debatten auf eine reflektierte, sich des eigenen Standpunkts bewusste Weise geführt werden und vom Kontext gelebter Erfahrung im Rahmen einer Bewegung motiviert und inspiriert werden.
In den vergangenen 30 Jahren hat die amerikanische Linke einem von Rechtsaußen kolportierten Stereotyp kontinuierlich in die Hände gespielt. Dieses suggeriert, dass sie aus weißen Menschen mit Universitätsabschluss besteht, die meinen der Arbeiter_innenklasse erklären zu müssen, dass sie im Dienste eines in ferne Zukunft verlagerten oder abstrakten Anderen mit immer weniger auszukommen habe. Während die ABG sich zur Anwältin von Bauern in der Dritten Welt, Meeresschildkröten und der Umwelt aufschwang, wird OWS von einem Materialismus angetrieben, der sich auf konkrete Verhältnisse berufen kann, die Millionen von Menschen unmittelbar betreffen. Diese eindrückliche Erweiterung des Zielpublikums ist eine Entwicklung, die Hoffnungen zu wecken vermag. Wenn eine kohärente Kapitalismuskritik jedoch weiterhin ausbleibt, kann die in den Protesten zum Ausdruck kommende Wut leichthin verpuffen, sobald die Wirtschaft wieder einen Aufschwung erlebt. Ob sich dieses Schicksal einstellt oder nicht, ist vor allem abhängig davon, in welchem Maße es OWS gelingen wird, die oben diskutierten Hindernisse zu überwinden: eine die jüngere Geschichte der Linken betreffende Amnesie, eine naive Analyse des Kapitalismus und die Fetischisierung von Taktiken, die an die Stelle einer Diskussion politischer Strategien rückt.
G.B. Taylor
Der Autor lebt in New York City, wo er über soziale Bewegungen forscht und zu politischer Theorie arbeitet – wenn er nicht gerade Skateboard fährt oder auf Konzerte geht. Er ist Mitglied in der Platypus Affiliated Society und wird im Januar 2012 nach Berlin ziehen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Sebastian Tränkle.