Das antijüdische Ressentiment gleicht dem von ihm geschaffenen „ewigen Juden“, es durchwandert die Geschichte seit Jahrhunderten. Es erwies sich als wandlungsfähig und verließ mit der Aufklärung die religiöse Sphäre in die der Wissenschaften, um schließlich in der Ökonomie seine Projektionsfläche zu finden. Vieles spricht dafür, es als prototypisches Ressentiment des christlichen Europas zu sehen, das sich seither in allen anderen Ressentiments perpetuiert. Auch als mit der Shoa der radikalste Ausdruck des Ressentiments seine Dimensionen der Welt offenbarte, verschwand es nicht. Die leise humanistisch-revolutionäre Hoffnung, Auschwitz habe das „Philosophem von der reinen Identität als dem Tod“ (Adorno 1993) bestätigt und die Menschheit durch diese Erkenntnis zur Emanzipation von den Dingen gebracht, wurde nicht erfüllt. Der im Stande der Unfreiheit entwickelte pragmatische Gedanke des Zionismus, in einem eigenen Staat seien die Juden geschützt und das Thema gewissermaßen durch einseitigen Rückzug „aus der Welt“, sollte sich als Irrtum erweisen.
Flohen die Juden einst vor dem Antisemitismus nach Palästina und gründeten Israel, so hat sie das Ressentiment im Zuge des israelisch-arabischen Konfliktes schließlich eingeholt. Nach 1967 hat die vermeintlich antiimperialistisch-antikoloniale Rhetorik den Antisemitismus in der Zusammenführung der Begriffe „Imperialismus“, „Kapitalismus“ und „Judentum“ als „Antizionismus“ progressiv codiert. Davor, dass Antisemitismus im Antizionismus enthalten sei „wie das Gewitter in der Wolke“, warnte Jean Améry bereits 1969 die deutsche und die französische Linke. Trotzdem hat sich die Palästina-Solidarität nie gescheut, noch die dümmsten Märchen des arabischen (und vornehmlich sowjetischen) Antizionismus zu reproduzieren. Die jüngste Wiederkehr dieses Antizionismus vollzog sich zurecht in den grotesken Akten der Möllemann-Karsli-Operette.
Antisemitismus ist längst zur Waffe im Arsenal der politischen Gegner Israels geworden. Seine aus Europa importierten Stereotypen, Schriften und Funktionsweisen kehren in der arabischen Propaganda wieder: von der Ritualmordlegende über die „Protokolle der Weisen von Zion“ bis zu Hitlers „Mein Kampf“ und den revisionistischen Schriften Robert Faurissons oder Roger Garaudies. Die Darstellung israelischer Politiker als „Blutsäufer“ in der Tagespresse zeugt ebenso von seiner derzeitigen Konjunktur im arabischen Raum wie die Beliebtheit der antisemitischen ägyptischen Fernsehserie „Reiter ohne Pferd“(1), die mittlerweile zu diplomatischen Protesten seitens Israel geführt hat.
Thema mit Variationen
Die Renaissance des Antisemitismus im arabischen Raum, wo zunehmend sogar die antizionistische Kaschierung wegfällt, zeigt: Der antisemitische Diskurs ist durchaus transferierbar, nicht nur durch die Zeit, sondern auch über religiöse, kulturelle und geographische Grenzen hinweg. Und er ist prinzipiell möglich: Das Gegenargument, ein „semitisches Volk“ könne quasi aus seiner Natur heraus nicht antisemitisch agieren, affirmiert nicht nur rassistisches Denken, da es seinen Konstrukten aufsitzt - das Ressentiment bedarf generell einer Konstruktion, keiner wissenschaftlichen Grundlage; und auch der durchaus vorhandene Rassismus gibt noch keine Auskunft über die Existenz oder Bedeutung von „Menschenrassen“ - es unterschlägt auch, dass der Antisemitismus sich historisch immer gegen Juden gerichtet hat, nicht gegen die ebenfalls im sprachgeschichtlichen und später rassentheoretischen Diskurs als semitisch definierten Araber. Die im Schlussprotokoll der „Antirassismuskonferenz“ im südafrikanischen Durban formulierte Verurteilung des Antisemitismus ist ein aktuelles Beispiel der Bösartigkeit dieser Affirmation (bereits im Vorfeld hatten arabische NGOs gegen den Protest afrikanischer oder indischer Gruppen den Nahostkonflikt in den Mittelpunkt der Konferenz gerückt). Der Verurteilung wird dort angefügt, die größten Opfer des Antisemitismus seien heute die arabischen Völker. Damit wird den Juden abgesprochen, Opfer einer historisch spezifischen Repression zu sein. Solcherart „Geschichtsraub“ dient ähnlich der von Omar Kamil untersuchten Holocaustleugnung im arabischen Raum vor allem dazu, die Katastrophe des Holocaust als das zentrale zionistische Argument zu entwerten.
Die Spur des Transfers
Die heutige Präsenz antisemitischer Ressentiments im arabisch-islamischen Raum legt nahe, diesen Import einer Ideologie aus dem christlich-europäischen Kulturraum in den islamisch-arabischen auf seine Differenzen hin zu untersuchen. Auch ein diskriminierender Diskurs wird von den gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen seiner Träger beeinflusst. Eine einfache Gleichung zwischen der europäischen Tradition des Judenhasses und seiner „islamischen“ Erscheinungsform wäre nivellierend. Bereits innerhalb Europas ist zu verzeichnen, wie sich z.B. der französische, russische und deutsche Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert zwar parallel formierten, die jeweilige Nationalgeschichte aber mit Blum, Stalin und Hitler längerfristig zu sehr verschiedenen Ergebnissen führte.
Auch gerät das Sprechen über „die islamische Welt“ vom europäischen Sprechort aus schnell selbst zum Ressentiment. Die Gratwanderung zwischen notwendiger Religionskritik und chauvinistischem Ressentiment misslingt zumal dann, wenn die Konstruktion einer „westlichen Identität“ jede Kritik der Moderne unterbindet.
Eine Analyse muss Analogien benennen und Differenzen wahrnehmen können. Bereits am Beispiel des „Geschichtsraubes“ lassen sich aus den jeweiligen Motivationen erste Ansatzpunkte zur Differenzierung ziehen. Deutschen Revisionisten geht es darum, die Täter zu entlasten, indem sie die Shoa relativieren oder gleich ganz leugnen; im arabischen Raum soll damit eher die Legitimation Israels als Konsequenz der Vereinten Nationen aus der Shoa in Frage gestellt werden. Ein weiterer Unterschied besteht in den Umständen, unter denen das Ressentiment sich artikuliert: Zu keinem Moment der verschiedenen Phasen europäischer Judenverfolgung waren die christlichen Verfolger mit einem Staat oder einer tatsächlichen jüdischen Autonomie, geschweige denn einer Militärmacht konfrontiert. Das Pogrom entsprang den Projektionen des Mobs. Der arabische Antisemitismus kann dagegen auf tatsächliche politische und soziale Konflikte verweisen. Diese Differenzen dienen nicht dazu, ihn zu entschuldigen, sind aber zu begreifen, um die Verbreitung des Ressentiments plausibel zu machen. Im Gegensatz zu den spezifisch europäischen Anklagen des „Gottesmords“, der „Hostienschändung“ oder der „Rassenvergiftung“ stellen die arabischen Niederlagen, die nakba, die Diskriminierung der israelischen Araber oder das Land- und Wasserproblem, Erfahrungen dar, an denen das Ressentiment eine scheinbar rationale Bestätigung findet. Antisemitismus bedarf zwar dieser Bestätigung nicht, er kommt ohne empirische Juden aus. Die Existenz des Nahostkonflikts hat aber als Ticket seiner Verbreitung in der arabischen Welt fungiert. Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, warum anders als im christlichen Europa Judenhass als Massenphänomen im arabischen Raum erst in den letzten Jahrzehnten relevant geworden ist.
Kreuzzüge
Im Gegensatz zur christlich-jüdischen war die islamisch-jüdische Geschichte lange durch eine enge und weitgehend friedliche Verbindung geprägt. Der Islamwissenschaftler Morabia spricht hinsichtlich der gemeinsamen „klassischen Epoche“ bis zu den Kreuzzügen und nach Jahrhunderte langer Agonie - dem beidseitigen Hervortreten als Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts aus dem Schatten christlicher Dominanz - gar von einer jüdisch-islamischen Symbiose: „Man ist verblüfft über die Übereinstimmung des jüdischen und moslemischen Verfalls im arabisch-islamischen Orient am Ende des Mittelalters wie über die Gleichzeitigkeit des Aufblühens der jüdischen und moslemischen Kultur zu Beginn der osmanischen Ära.“ Er sieht darin einen „zusätzliche(n) Beweis für die Bindung beider Kulturen an denselben politisch-sozialen Kontext“. Diese Übereinstimmung in Blüte und Verfall trat dort zutage, wo Moslems und Juden gemeinsam lebten. Der Umstand, dass die großen sephardischen Gemeinden in den zionistischen Debatten kaum eine Rolle spielten, resultierte aus dieser Realität in den moslemischen Ländern. Sicher war, wie Robert S. Wistrich einwendet, das „goldene Zeitalter“ von Islam und Judentum keineswegs nur „golden“; die Konflikte und Repressionen unter islamischer Herrschaft sind aber nicht mit denen unter christlicher Ägide vergleichbar. Im Abendland zeigte sich schon früh eine andere Realität: Das dem Christentum über die Gottesmordlegende innewohnende antijüdische Moment führte zur „Kreuzzugsideologie“ des 11. Jahrhunderts, „im Zeichen des Kreuzes wurden ganze Gemeinden ausgerottet“ (Wirth 1991). (Übrigens ist erstaunlich, dass die in der Kreuzzugsmetaphorik eines protestantischen US-Präsidenten mit teilweise fundamentalchristlicher Wählerklientel mitschwingende antijüdische Latenz nicht bemerkt wurde.)
Auch andere antijüdische Exzesse des Christentums wie Vertreibungsedikte, Zwangstaufen und Konvertitenverfolgungen finden kaum Entsprechung im jüdisch-moslemischen Verhältnis. Später war die Religionspolitik der „Hohen Pforte“ wesentlich toleranter als die der christlichen Kolonialmächte, denn das Osmanische Reich als größte islamische Macht bis in die Moderne hinein hatte ein anderes Herrschaftsverständnis als Europa. In den islamischen Ländern „gehörte vor ihrer Durchdringung mit westlichen Vorstellungen von Nationalismus und Patriotismus die Grundloyalität der eigenen religiösen Gemeinde und erst die politische Untertanenpflicht dem Staat“ (Lewis 1987). Trotz einer vergleichsweise aggressiven Missionshaltung des Islam und judenfeindlichen Passagen im Koran war ein über Jahrhunderte sich erhaltender und sich ständig modernisierender Judenhass anders als im Christentum kein dominantes Merkmal islamischer Gesellschaften.
A political turn...
Das Auftauchen von Antisemitismus „europäischen Stils“ im Nahen Osten Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von nichtislamischen Demagogen - Christen und Kolonialbeamten - befördert. So versprach sich beispielsweise die englische Propaganda nach der jungtürkischen Revolution von 1908 eine Schwächung des Kriegsgegners, indem sie die Erhebung als eine „jüdische Verschwörung“ darstellte. Später, in der Phase der arabischen Kollaboration mit NS-Deutschland war der ideologische Einfluss des Antisemitismus offensichtlich, geleitet wurde diese Kollaboration aber von politischen Interessen: dem Panarabismus und der Befreiung von der Kolonialherrschaft. Der Antisemitismus stellte eine ideologische Brücke zwischen den strategischen Interessen der Achsenmächte und dem Unabhängigkeitsstreben der Araber dar, er war nicht die Triebkraft für das Bündnis.
Der große äußere Einfluss auf die arabische Ideologiebildung ist auch an ihrer jeweiligen Einschätzung des Zionismus ablesbar. Galt dieser im Hinblick auf die faschistischen Verbündeten in den 1940er Jahren noch als eine kommunistische Bedrohung, so änderte sich die Haltung in den sechziger Jahren unter Einfluss der Sowjetunion: Zionismus galt jetzt selbst als faschistisch. (Bishara 2000) Die Verdächtigung, im Dienste verschiedenster äußerer Mächte zu stehen, wurden dem Zionismus das 20. Jahrhundert hindurch immer abhängig von der jeweiligen politischen Weltlage zugeschrieben: „Zu Anfang waren es entweder Frankreich oder Deutschland, später Großbritannien oder die Sowjetunion, in der Gegenwart sind es die Vereinigten Staaten.“ (Lewis 1987)
Überhaupt wesentlich belastet wurde das jüdisch-islamische Verhältnis also erst mit Beginn der Moderne. Vom historischen Standpunkt aus kollidierten in der nahöstlichen Geschichte zunächst Panarabismus und Zionismus, nicht Antisemitismus und Juden. Dann aber kam es zu jener innerarabischen Dynamik, in der der Antizionismus eine stabilisierende Funktion haben konnte. Gegen Israel konnte man sich innen- und außenpolitisch profilieren: „Vor der UNO pflegten (die arabischen Staaten) die antizionistische Rhetorik, um dem Westen eins auszuwischen und ihn angesichts der israelischen Besatzungspolitik moralisch unter Druck zu setzen. Dieses Ceterum censeo stärkte das antiimperialistische Profil und kostete wenig.“ (Claussen 1992) Innenpolitisch übernahmen diverse arabische Herrscher das repressive Moment des Antisemitismus als Herrschaftsideologie nach europäischem Vorbild. Der politische Konflikt geriet zum „Massenbetrug“.
In „Treibt sie ins Meer...“, dem antisowjetisch motivierten, in seiner Analyse des Orients aber erstaunlich differenzierenden Standardwerk der achtziger Jahre beobachtete der US-Orientalist Bernard Lewis, dass die Einflüsse des europäischen Antisemitismus „sowohl durch ihr Beispiel als auch durch planmäßige Propaganda den Boden für den neuen arabischen Antisemitismus bereitet“ haben. Diese „Islamisierung des Antisemitismus“ setzte aber erst in der jüngsten Vergangenheit, im Schatten des Aufstiegs der Moslembruderschaften zu einem innenpolitischen Faktor in den arabischen Staaten ein. Ein Indikator für die Rolle des israelisch-arabischen Konfliktes in der sukzessiven Durchsetzung des neuen Phänomens ist, dass das Leben der arabischen Juden erst in seinem Schatten massiv beeinträchtigt wurde, also wie im Irak ab 1948 und endgültig nach 1967.
In den letzten Jahren war Antisemitismus Bestandteil des erstarkenden religiösen Fundamentalismus und hat - forciert durch den Niedergang der Sowjetunion und des arabischen Nationalismus - den Platz des Antizionismus eingenommen. Im Gegensatz zur europäischen Geschichte aber ist die Verbreitung des islamischen Antisemitismus vor allem nach 1967 zunächst als Kriegsfolge zu sehen. Der Hintergrund ständiger Konfrontation, die es in der europäischen Geschichte in dieser Form zu keinem Zeitpunkt gab, kann bei einer Untersuchung der Genese des arabischen Antisemitismus nicht ausgeblendet werden. Vor allem ist eine Abgrenzung von der europäischen oder gar deutschen Tradition notwendig, eine einfache Analogie wäre hier ahistorisch. Es besteht eher die Möglichkeit, dass der Antisemitismus derzeit eine weitere Wandlung erfährt und eine spezifisch islamische Gestalt annimmt. Glaubte Lewis in den achtziger Jahren den Unterschied hinsichtlich der jeweiligen Haltung zur Nahostkrise in die These fassen zu können, „für christliche Antisemiten ist das Palästinaproblem ein Vorwand und ein Ventil für ihren Haß, für moslemische Antisemiten ist es die Ursache“, so hat der antisemitische Diskurs längst eine innerislamische Eigendynamik entwickelt, die auch auf das europäische Importgut nicht länger angewiesen ist. Jetzt besteht die Gefahr, dass es seiner Verkopplung mit dem Nahostkonflikt nicht mehr bedarf oder diesen gar überdauert.
Transferverluste und Einbettung
Der im Rahmen europäischer Betrachtungen oft zum Schema reduzierte „arabisch-islamische Kulturraum“ hat sich also mit dem Antisemitismus eines europäischen Phänomens angenommen, bettet es aber in eine andere Tradition ein. Bleibt die Frage, ob der arabische Antisemitismus nicht gesellschaftlich die gleiche Funktion erfüllt, wie er es in seiner Konstitutionsphase im Europa des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts tat. Die Ausdauer, mit der arabische Herrscher von eigenen innen- und außenpolitischen Desastern mit dem Verweis auf Israel ablenken, weist Israel nach dem klassischen Sündenbockprinzip eine Funktion als ›Jude unter den Staaten‹ zu. Ebenso lassen sich im Diskurs des arabischen Nationalismus über Israel Analogien zu jenem Diskurs über Juden erkennen, der im Rahmen der europäischen Nationalstaatenbildung des 19. Jahrhunderts stattfand. Und schließlich bietet auch die berechtigte Kritik am ›Westen‹ und den USA sowie Israel als eines Teils derselben „Weltverschwörung“ dem ›Ressentiment von Unten‹ eine weit offene Flanke. Wie schnell fehlgeleitete Kapitalkritik dabei antisemitische Konnotationen aufweist, hat die europäische Geschichte hinlänglich vorexerziert.
Glück ohne Macht
Dieser Vergleich stößt aber auch an seine Grenzen. Denn neben seiner historischen Tradierung gilt der europäische und vor allem der deutsche Antisemitismus als ein Produkt der Dialektik der Aufklärung. Nach Horkheimer und Adorno resultiert er aus der Diskrepanz des aufklärerischen Glücksversprechens zur Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung. Das in der Entfremdung deformierte Subjekt projiziert seine Enttäuschung auf jene, an denen sich vermeintlich das zentrale Versprechen der Moderne erfüllt hat: „Glück ohne Macht“ (Adorno 1993) lautete die Anklage der Antisemiten gegen die Juden. Denn bekamen sie schließlich auch Bürgerrechte gewährt, so blieben sie doch weiter von der direkten administrativen oder militärischen Staatsgewalt ausgeschlossen, und von daher schien ihre Emanzipation nicht erklärbar. Aus der Unerträglichkeit, die der Gedanke, dem Menschen könne Freiheit auch ohne Partizipation an Gewalt gewährt werden, für das selbst unterdrückte Subjekt hatte, wuchs der Wahn, die jüdische Macht sei eine Verborgene - sie liege im jüdischen Intellekt, im jüdischen Körper und sei durch Konspiration mit der neuen Form der kapitalistischen Ökonomie verwoben. Die reale Machtlosigkeit der Masse der europäischen Juden wandelte sich in das antisemitische Hirngespinst einer jüdischen Übermacht. Das religiöse Ressentiment gerierte in der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft zur „Denkform“ (Haury 1992).
Claussen bezeichnet den modernen Antisemitismus als negative Utopie, als einen Code, „mit dem sich die Menschen gegenseitig bestätigen, daß Emanzipation weder möglich noch wünschenswert sei.“ Dies mag vor allem die Rolle erklären, die Antisemitismus heute in reaktionären religiösen Strömungen spielt, die ihren Anhängern meist selbst die Hölle auf Erden bereiten. Der auf das jüdische Bürgertum Europas geprägte Vorwurf „Glück ohne Macht“ ist aber auf den Blick der arabischen Staaten auf Israel nur begrenzt übertragbar. Tatsächlich blieb Israel auch nach Verwirklichung der zionistischen Utopie „Glück“ im Sinne von Frieden verwehrt. Die Shoa überstanden und eine jüdische Renaissance in Israel geschaffen zu haben, regt möglicherweise manche Verschwörungstheorie an, aber von einem „Glückszustand“ sprechen angesichts des permanenten Ausnahmezustandes in Israel selbst die größten Neider nicht. Israel wusste zudem das versagte historische Glück durch militärische Macht zu kompensieren. Die Umkehrung der Formel „Macht ohne Glück“ dürfte im islamischen Raum heute andere Projektionen hervorrufen als „Glück ohne Macht“ während der Konstitution des bürgerlichen Europa. Auch die gesellschaftliche Totalität der Verdinglichung weist im „Westen“ eine ganz andere Dimension auf. Erkenntnisse einer Kritik der westlichen Moderne auf Gesellschaften zu projizieren, in denen diese nicht oder anders kanonisiert wurde, bzw. in denen man sich sogar offen von ihr abzukehren beginnt, ist fragwürdig.
Claussen hatte bereits an Poliakovs innereuropäischer Genealogie des Antizionismus kritisiert, er greife „die grotesken Blüten dieser synkretistischen, geschichtslosen Ideologie auf, aber sein geistesgeschichtliches Suchen an den Quellen der französischen Aufklärung und der Marxschen Theorie stellt eine intellektuelle Kontinuität her, die seinem eigenen soziologischen Wissen widerspricht.“ Claussen selbst weist dagegen auf die akute Wirkung des „politisch-militärischen Dilemma(s) des Nahen Ostens“ und seine innenpolitischen Konstellationen hin, die mehr zur Wiederkehr jener „Gespenster der Vergangenheit“ und „Idiosynkrasien“ beitrügen als die Ausfälle der Klassiker.
Dieses „soziologische Wissen“ hinsichtlich innergesellschaftlicher Prozesse sollte in der Diskussion des israelisch-palästinensischen Konfliktes mehr aktiviert werden, um Ursache und Wirkung des Antisemitismus in diesem Konflikt schärfer von den europäischen Vorlagen zu trennen. Ein Ausblenden der differierenden gesellschaftlichen und historischen Situationen im Vergleich zum historischen Rahmen der Shoa wäre spiegelbildlich zu einer Ignoranz, wie sie jene palästinensischen Kader und vor allem ihre deutschen Unterstützer an den Tag legen, wenn sie den Antisemitismus ihrer Klientel schlicht leugnen. So geschehen bei Jürgen Möllemann oder dem damaligen AstA der Hamburger „Hochschule für Wirtschaft und Politik“, der nach Ausbruch der zweiten Intifada ausgerechnet den arabischen Nationalchauvinisten Kharam Khella als Referenten geladen hatte.
Ausfälle
Manche Betrachtung „des Islam“ und die Weigerung, historische und gesellschaftliche Unterschiede gegenüber Europa im gemeinsamen Phänomen Antisemitismus wahrzunehmen, zeugen selbst von einem gravierenden Ausfall der Reflexion. Differenzierungen auch zu denken und die Besonderheiten des Betrachteten wahrzunehmen, ist ein zentraler Anspruch kritischer Theorie. Auch das Wissen, dass nach Auschwitz durch jeden Antisemitismus die Vernichtungsdrohung hindurchscheint, entbindet nicht davon, zwischen seinen verschiedenen Formen und den Handlungs- und Sprechorten der Akteure zu unterscheiden. Dazu ist es an der Kritik Israels stets mitentscheidend, aus welcher Perspektive diskutiert wird. Die Vehemenz, mit der sich Linke jahrelang positionierten, hatte oft kompensatorische Funktion und bleibt zu hinterfragen. Im politischen Diskurs von Israelis oder Palästinensern haben diese Positionen meist einen anderen Hintergrund. Regierungskritische Israelis können geltend machen, eine andere Lehre aus der Shoa gezogen zu haben als die von Arbeitspartei, Likud oder Nationalreligiösen verkündete. Ihnen dies ausgerechnet von deutscher Seite aus abzusprechen, wäre unverschämt. Zudem sind sie wie auch palästinensische Araber als potentielle Kombattanten ohnehin involviert. Bei allen anderen ist Skepsis angebracht, welche Konflikte und Ressentiments zusätzlich in das Engagement hineinspielen. Im Gegensatz zur deutschen Palästinasolidarität wird übrigens in der palästinensischen akademischen Community die Verbreitung des arabischen Antisemitismus durchaus kritisch gesehen. Vielleicht werden dort die ersten Konzepte zu seiner Überwindung vorgelegt werden, während die europäische Linke noch stoisch vor sich hinbetet, Semiten könnten doch gar nicht antisemitisch sein.
Literatur
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1993 [1944].
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1994 [1966].
Jean Améry: Der ehrbare Antisemitismus, in: Die Zeit vom 25. Juli 1969.
Azmi Bishara: Die Araber und die Shoa - die Problematisierung einer Konjunktion, in: Rainer Zimmer-Winkel (Hrsg.), Die Araber und die Shoa, Trier 2000.
Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1994 [1987].
Hans G. Glasner: Antisemitismus - auch von Links, in: Günther B. Ginzel (Hrsg.), Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Bielefeld 1991.
Omar Kamil, Vortrag auf dem Symposium „Das Ende der Zukunft“ am 1. Juni 2002 im Völkerkundemuseum in Hamburg.
Bernard Lewis: „Treibt sie ins Meer!“ Die Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1987.
Alfred Morabia: Die Begegnung der Juden mit der Welt des Islam, in: Franz Bautz (Hrsg.), Die Geschichte der Juden. Von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart, München 1992.
Leon Poliakov: Vom Antizionismus zum Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Detlev Claussen und einem Beitrag von Thomas Haury, Freiburg i.B. 1992.
Wolfgang Wirth: „... von jener schimpflichen Gemeinschaft uns trennen“ - Judenfeindschaft von der frühen Kirche bis zu den Kreuzzügen, in: Günther B. Ginzel (Hrsg.), Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Bielefeld 1991.
Robert S. Wistrich: Muslim Antisemitism. A Clear and Present Danger, o.O. 2002.
Fußnoten:
(1) Informationen zur Serie gibt es in der Jungle World #47 und #49 (2002).
Volker Weiss