Die Türkei scheint vor einem Wechsel des Regierungssystems zu stehen. Die im Schatten einer schweren sozioökonomisch-politischen Krise vorgenommene Verfassungsreform bietet dafür die Rechtsgrundlage. Sollten die Wähler bei dem am 2. April stattfindenden Referendum dem Reformpaket zustimmen, wird ein »Präsidialsystem« eingeführt, das die Macht des Präsidenten deutlich ausweitet.Für die Kernpunkte der Reform vgl. o.A., »Erdogan über alles« in FAZ.netvom 9. Januar 2017, http://bit.ly/2kP6UKT. Es wäre aber unzureichend, diesen Machtzuwachs bloß als einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Autoritarismus zu deuten. Konkret geht es darum, der de facto charismatischen Herrschaft Erdogans eine Rechtsgrundlage zu verschaffen; als charismatische Herrschaft und nicht Führung kann Erdogans Handeln deswegen beschrieben werden, weil er auf dem jetzigen Stand des Rechts verfassungswidrig agiert und die Legitimation seines Handelns nur von seinem Charisma herrührt. Es muss ein neues System geschaffen werden, in dem die Anerkennung des charismatischen Führers durch die demokratische Wahl als Legitimationsgrund seiner in Praxis uneingeschränkten souveränen Macht angesehen wird. In den folgenden Schilderungen der anhaltenden politischen Krise, lege ich die Vermutung nahe, dass die Vorstellung einer von Carl Schmitt in Anlehnung an Max Weber entwickelten Auffassung von plebiszitärer Führerdemokratie den institutionellen Rahmen des künftigen Regimes bestimmen wird. Anders formuliert: Mit der Aufrechterhaltung und Zuspitzung der politischen Krise werden die Bedingungen für einen radikalen Umbruch geschaffen, dessen Folgen weit über einen bloß quantifizierbaren Autoritätszuwachs des Präsidenten in einem ohnehin autoritären politischen System hinausgehen.
Wiederkehr der Geschichte?
Als am 4. November 2016 frühmorgens die Co-Präsidenten Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag und sieben weitere Parlamentsmitglieder der pro-kurdisch links-liberalen HDP (Demokratische Partei der Völker), der drittgrößten Partei der Türkei, verhaftet wurden, hieß es in den oppositionellen Öffentlichkeiten der neuen Sozialmedien spontan: »Das ist wie der 24. April 1915.« In der Tat hat der Völkermord an den Armeniern vor gut hundert Jahren mit einer Verhaftungswelle der armenischen Intellektuellen – darunter auch Abgeordnete des Osmanischen Parlaments – begonnen. Man wusste nicht, wie rational diese Befürchtung war, doch hängt sie mit dem historisch-kollektiven Bewusstsein darüber zusammen, dass seit 1915 die Verantwortlichen der staatlich organisierten oder geförderten Gewaltakte gegen ethnische und religiöse Minderheiten sowie gegen SozialistInnen nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten, und dass zwischen der Leugnung des Völkermords und dem gegenwärtigen Tiefstand der Demokratie in der Türkei ein interner Zusammenhang besteht. Seitdem verschärft sich die politische Lage in der Türkei weiter.
Der türkische Staat hat nach dem Putsch-Versuch in Juli bekanntermaßen, den Ausnahmezustand verhängt, der zweimal auf weitere drei Monate verlängert wurde. Voraussichtlich wird er bis zum Referendum in April weiter in Kraft bleiben. Bisher gibt es keine Indizien dafür, dass der Putschversuch inszeniert wurde. Doch es herrscht Unklarheit darüber, wie weit die Regierung über die Vorbereitungen dafür vorab informiert war. Unter dem Ausnahmezustand ist das Prinzip der Rechtstaatlichkeit praktisch aufgehoben. Mehr als 80.000 Menschen wurden festgenommen; ihre Untersuchungshaft konnte ohne Anschuldigung bis zu 30 Tage dauern (eine ausreichende Zeitspanne, um die Spuren der Folter verschwinden zu lassen) und erst nach fünf Tagen durften sie mit ihren AnwältInnen – und nur unter der Überwachung staatlicher Behörden – sprechen. Mehr als 40.000 Menschen wurden nicht wieder freigelassen. Mit den letzten gesetzlichen Verordnungen erreichen die Zahl der entlassenen BeamtInnen mehr als 123.000, darunter mehr als 4.500 WissenschaftlerInnen. (Die Zahl der betroffenen WissenschaftlerInnen steigt allerdings auf bis zu 20.000, wenn die Schließungen der Privatuniversitäten dazugerechnet werden, die von den Fethullah Gülen nahestehenden Investoren gegründet worden waren.) Unter den BeamtInnen, die vom öffentlichen Dienst suspendiert, abgesetzt oder ohne Aussicht auf zukünftige Entschädigung entlassen worden sind, befinden sich LehrerInnen, AkademikerInnen, RichterInnen, StaatsanwältInnen, PolizeibeamtInnen und MilitäroffizierInnen. Zahllose Bildungs- und medizinische Institutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine wurden geschlossen, entweder weil sie zur Gülen-Gemeinde oder deren Organisation nahestehen, oder weil sie mit kurdischem Separatismus in Verbindung gesetzt werden können. Hunderte von Firmen wurden unter die Führung der regierungsnahen Treuhändler gestellt. Die Universitäten wurden durch eine neue gesetzliche Verordnung, laut der die PräsidentInnen der Universitäten direkt vom Präsident der Republik ernannt werden müssen, unter die direkte Kontrolle des Präsidenten gestellt. Damit wurden die ohnehin begrenzten Mitbestimmungsrechte der WissenschaftlerInnen einfach gestrichen. Neben den Abgeordneten der HDP – bisher insgesamt zwölf – wurden auch Kommunalpolitiker in den kurdischen Regionen verhaftet und durch ernannte Administratoren ersetzt. Unter den verhafteten HDP-PolitikerInnen ist nun auch der 74jährige Ahmet Türk zu zählen, der als einer der wichtigsten Symbolfiguren der Friedensbemühungen zwischen dem türkischen Staat und kurdischen Separatisten gilt. Schließlich muss noch die zunehmende Unterdrückung der Medien erwähnt werden, die bereits vor dem Putschversuch Angriffen der Regierung ausgesetzt war. Seit dem Putschversuch wurden zahlreiche regierungskritische und alternative Medien (Presse, Hörfunk und Fernsehen) geschlossen und die Zahl der inhaftierten oppositionellen JournalistInnen steigt täglich. Der Fall der traditionsreichen sozialdemokratischen Zeitung Cumhuriyet ist beispielhaft dafür, wie man mit den oppositionellen Medien umgeht. Am 31. Oktober wurde die Zeitung von den Polizeikräften gestürmt, 18 oppositionelle, in der Öffentlichkeit einflussreiche JournalistInnen wurden verhaftet. Sie erhielten Anzeigen, in denen ihnen die gleichzeitige Unterstützung der Putschisten, also der Organisation von Gülen, sowie der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) vorgeworfen wird: Zwei miteinander verfeindete, als terroristisch eingestufte Organisationen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft entbehrt daher jeglicher Glaubwürdigkeit und Rechtsgrundlage.
Die Ausweitung des Autoritarismus
Das enorme Ausmaß der Unterdrückung steht klar vor Augen. Sie kann nicht einfach auf eine anti-demokratische Reaktion reduziert werden, die angesichts der durchaus realen Gefahr eines Putschversuchs aus der Kontrolle geraten ist und autoritäre Züge trägt. Vielmehr handelt es sich um die folgerichtigen Schritte einer politischen Bewegung, die notwendig den institutionellen Rahmen eines freiheitlich verfassten demokratischen Rechtstaates sprengen muss. Die folgenden Wesensmerkmale dieser Bewegung bietet vielleicht eine Erklärung dafür, warum sie anstelle einer freiheitlichen Demokratie die Einsetzung einer plebiszitären Führerdemokratie anstrebt – ja darauf angewiesen ist.
Erstens beruht die angestrebte Herrschaft in der Türkei nicht nur auf einem Personenkult, sondern auch auf der Mobilisierung der Massen und der Bewaffnung von der Partei nahen milizähnlichen Gruppierungen. Die Führung und die mobilisierten Massen verstehen sich als eine einheitliche Bewegung. Nach dem Putschversuch wurde allerdings auf die Förderung der Milizen verzichtet, da ihre Dienste unter dem Ausnahmezustand nicht mehr benötigt wurden. Zweitens zielt diese Bewegung darauf ab, die rechtstaatlichen Institutionen der demokratischen Vermittlung, die zu deliberativen Meinungsbildungs- und politischen Entscheidungsprozessen beitragen – d.h. das parlamentarische System, die Gewaltenteilung, die Institutionen der freien Meinungsäußerung und zivilgesellschaftliche Organisationen – durch unmittelbare Macht zu ersetzen, die als Verkörperung des souveränen nationalen Willens gilt. Ein auf der Freund-Feind-Unterscheidung basierender, spaltender und destruktiver politischer Diskurs wird, drittens, instrumentalisiert, um die demokratischen Institutionen der Vermittlung abzubauen. Dabei werden säkulare Lebensformen zunehmend dämonisiertEin letztes Beispiel bietet hierfür die Darstellung des Neujahrsfests als Sünde durch die staatlich berufenen Imame und regierungsnahen Medien, die geradezu eine Legitimitätsgrundlage für den Angriff von ISIS auf einen Luxusnachtclub verschaffen hat. und die mildesten Formen der Kritik an der politischen Führung als terroristisch gestempelt. Viertens sind die Diskurse und Praktiken dieser Bewegung zutiefst heterosexistisch und beruhen auf einem männerdominierten Gesellschaftsbild. Schließlich muss noch erwähnt werden, dass die neoliberale Entwicklung der Ökonomie stets in Begleitung einer Pseudo-Kapitalismuskritik (Finanzkapitalkritik) begleitet wird, die stark vom Antisemitismus und von anti-westlichen und/oder anti-christlichen Topoi Gebrauch macht und Verschwörungstheorien schürt. Sie finden einen fruchtbaren Nährboden in den Gründungsmythen der Republik (Unabhängigkeitskrieg gegen die imperialistischen Mächte), in der Leugnung des Völkermords und in dem latent immer schon existierendenDass der antisemitische Diskurs nicht nur latent blieb, belegen die Pogrome 1934 in Trachea. Ausführlich zum Antisemitismus in der Türkei: Rifat N. Bali, Antisemitism and Conspiracy Theories in Turkey, Istanbul 2013., aber seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 in den rechten sowie linken politischen Lagern fest verankerten, Antisemitismus. Mit einem nicht sehr weit zurückgreifenden historischen Überblick über die Entstehung dieser (gegen-)revolutionären Bewegung lässt sich zeigen, wie das im Entstehen begriffene Regime Erdogans durch einige dieser Merkmale gekennzeichnet ist.
Zwei kritische Momente beschleunigten die Zuspitzung der Bewegung. Während seinen ersten öffentlichen Auftritten nach dem Putschversuch hat Erdogan, nunmehr als Oberbefehlshaber, zwei wichtige Bemerkungen gemacht. Zunächst sagte er: »Für uns ist dieser Putsch eine Gnade des Gottes.« Das war bereits ein Vorbote des Unheils, das dem Land bevorstehen sollte. Zwei Tage später erklärte er, diesmal vor einem euphorischen Publikum vor seiner Residenz in Istanbul: »[O]b sie es wollen oder nicht, wir werden die Topcu-Kaserne in Taksim bauen.« Dieser Hinweis auf ein Bauprojekt nach einem erfolgreich überstandenen Putschversuch hört sich recht seltsam an, ist aber kein Zufall. Genau dieses Bestreben, die Topcu-Kaserne in Taksim zu bauen, war es, was 2013 den Gezi-Aufstand entfachtet hat. Der Gezi-Aufstand war der erste Wendepunkt für die AKP-Regierung.
Erdogan reagierte entschieden auf diese ernsthafte Herausforderung seiner zunehmend autoritären politischen Vision. Die Forderungen nach einer partizipatorischen Demokratie, nach Pluralität und der Möglichkeit, Differenzen demokratisch zu verhandeln, wurden dämonisiert und als Teil einer internationalen – selbstverständlich »jüdischen« – Verschwörung gegen die »Mission, das Zukunftsideal« der AKP dargestellt. In Erdogans Worten stand die »Zinsenlobby« hinter dem Aufstand. Ein radikal polarisierender Diskurs wurde in Umlauf gesetzt, mit dem Ziel, die Oppositionellen als einen homogenen Block darzustellen und dadurch die AKP-Wähler gegen dieses Feindbild zu mobilisieren. Ein eindrückliches Beispiel bietet hier Erdogans Zorn gegenüber einem Kind. Als während des Aufstandes ein 14jähriges Kind durch die Polizei getötet wurde, verunglimpfte es Erdogan als Terrorist und wiegelte seine Anhänger gegen das Opfer und seine Mutter auf. Diese Polarisierungsstrategie zahlte sich aus und Erdogan wurde im August 2014 mit der Mehrheit der Stimmen als Präsident der Republik gewählt. Mit frischem Wind in den Segeln setzte er eine Verfassungsreform auf die Agenda, die das parlamentarische System beenden und ein präsidiales Regierungssystem a la Turca einführen würde. In Verteidigung dieser »Verfassungsrevolution«, die dem Präsident außerordentliche Macht verleihen wird, verwies Erdogan im Januar 2016 sogar auf Hitlers Deutschland als ein erfolgreiches Beispiel einer solchen Regierungsform. Um seine Agenda zu verwirklichen, begann er, systematisch die Verfassung zu missachten. Von großer Wichtigkeit ist dabei eine institutionelle Innovation, die ihm erlaubt, in der Öffentlichkeit präsent zu bleiben. Er begann, regelmäßig, die Muhtars, die Dorfältesten aus allen Teilen des Landes, in seinen neu errichteten Palast einzuladen, um dort gewissermaßen mit dem Volk bzw. der Nation direkt zu sprechen. Diese Versammlungen waren eine unmittelbare Verkörperung der Idee, dass der Führer mit seinem Volk eins ist; in der Vorstellung des neuen Systems ist die höchste Stelle der Staatshierarchie mit der Niedrigsten vereint. Mit dieser Strategie setzt Erdogan seine Agenda durch und geht gleichzeitig parlamentarischen Debatten aus dem Weg. Die demokratischen Institutionen werden überflüssig. In dieser Zeit wurden auch die Gallionsfiguren der Partei, die Erdogan noch Widerstand leisten konnten, nach und nach ausgeschlossen. Im Schatten der Rede von »unserer Mission « löste sich die Partei allmählich auf und wurde zu einer Bewegung umgestaltet. Während der Vorbereitungen zu den Wahlen am 7. Juli 2015, hat »die Mission«, um die es hier geht, unter dem Stichwort »Neue Türkei« Eingang in das Parteiprogramm gefunden. Sie beruht auf der Idee einer Wiederbelebung des Osmanischen Reiches unter der Führung von Erdogan und hebt die Hegemonie des Sunniten-Islams hervor, der eine angeblich einheitsstiftende Rolle zwischen den kulturellen und ethnischen Identitäten spielen soll. Diese Strategie war bei der Wahl nur teilweise erfolgreich und musste revidiert werden, da sie für Erdogans anspruchsvollere Pläne nicht ausreichend war. Die Folgen der Wahlen waren in seinen Augen katastrophal. Diese Niederlage ist das zweite kritische Moment für die weitere Entwicklung der Erdogan-Bewegung.
Um ein Präsidialsystem einzuführen, musste die AKP die absolute Mehrheit im Parlament bekommen. Dies war nur möglich, wenn die prokurdische, linksliberale HDP (Die Demokratische Partei der Völker) an der 10-Prozent-Hürde scheitern würde. Erdogan spürte, dass die HDP unter der charismatischen Führung von Selahattin Demirtas und aufgrund der Popularität, die sie in der kurdischen Bevölkerung sowie der türkischen Linken genießt, den Sprung ins Parlament schaffen könnte. Daher kündigte er zunächst das im Februar 2013 erreichte Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Repräsentanten der kurdischen Bewegung auf. Das Abkommen hatte zum ersten Mal in den 30 Jahren des Bürgerkriegs konkrete Maßnahmen für einen endgültigen Frieden ausbuchstabiert. Im Anschluss ging Erdogan auf Konfrontationskurs mit der HDP und begann, Unterstützung bei den Ultranationalisten zu suchen, anstatt wie vorher auf den muslimisch-konservativen kurdischen Teil der WählerInnenschaft zu zählen. Erdogans Plan hat nicht funktioniert und für eine kurze Zeit schien es, als könne Erdogan mit kurdischen und sozialistischen Stimmen gestoppt werden. Denn nach der Wahl 2015 war nur eine Koalitionsregierung möglich.Nach den Ergebnissen der Wahl verfehlte die AKP die Mehrheit der Mandate. Die Sitzverteilung ist wie folgt: AKP: 258, CHP: 132, HDP: 80, MHP: 80. Doch einige Tage später explodierte eine Bombe in Suruc, einer Grenzstadt nahe Kobane. 34 SozialistInnen wurden getötet, die ihre Solidarität mit dem kurdischen Kampf gegen ISIS zeigen wollten. Dieser nicht vollständig aufgeklärte Angriff war das Ende des Friedensprozesses. Gegenseitige militärische Provokationen des türkischen Staates und der PKK taten ihr Übriges. Am 10. Oktober 2015 verübte ISIS ein Bombenattentat auf eine von der HDP und den sozialistischen Gruppen organisierte Friedensdemonstration; 107 Menschen wurden getötet. Diese Atmosphäre der Unsicherheit hat der AKP bei den Neuwahlen am 1. November geholfen und sie konnte wieder eine Mehrheitsregierung bilden.
Die Konsolidierung der Herrschaft
Im September 2015 hat der türkische Staat eine unverhältnismäßige Offensive gegen jene Städte gestartet, in denen die kurdischen Jugendorganisationen dem Aufruf der PKK nach Selbstverteidigung und Selbstregierung der kurdischen Städte gefolgt waren. Im Dezember wurden in vielen kurdischen Städten Ausgangssperren verhängt, die unter ständigem Beschuss des Militärs wochenlang dauerten. Die Zahl der zivilen Opfer stieg als Panzer und schwere Waffen zum Einsatz kamen.
In diesem Kontext haben im Januar 2016 über 2000 WissenschaftlerInnen eine Petition unterzeichnet, die die unverhältnismäßige Gewaltanwendung der Regierung kritisiert und eine sofortige Rückkehr zum Friedensprozess fordert. Die Reaktion der Regierung darauf war unerhört und wird nur verständlich vor dem Hintergrund des oben Gesagten. Unverzüglich wurde eine Medienkampagne gestartet, die die AkademikerInnen des Hochverrats beschuldigte. Einige WissenschaftlerInnen wurden festgenommen und ihre Häuser wurden gestürmt; andere erhielten Morddrohungen. Ein berühmt-berüchtigter Mafia-Boss erklärte, dass er wortwörtlich im Blut des sogenannten Intellektuellen baden möchte; nebenbei bemerkt ist das »Blutbad« kein geläufiger Begriff der türkischen Sprache. Im März wurden nach einer Stellungnahme bezüglich der Repression gegen WissenschaftlerInnen vier Wissenschaftler festgenommen, und mussten bis zu ihrem Verfahren drei Monate im Gefängnis sitzen. Seit dem Putschversuch schließt jede Säuberung an den Hochschulen, die vermeintlich nur die Gülen-AnhängerInnen betreffen sollte, auch die Oppositionellen und Unterzeichner der Friedenspetition ein.
Es ließe sich fragen: »Warum denn diese Härte?« Hier liegen zwei Botschaften vor. Erstens will das neue Regime zeigen, dass es keine oppositionellen Stimmen dulden wird. Zweitens will es alle Intellektuellen zu potentiellen Feinden erklären. Diesem Anti-Intellektualismus, der ein fester Bestandteil des neuen Regimes ist, liegen wohl bekannte Ursachen zugrunde: Er beschwört Ressentiments, deren Entstehung auch durch die autoritären, pseudo-aufklärerischen Ideale des besiegten kemalistischen Regimes begünstigt wurden. Darüber hinaus bieten sich die Intellektuellen als einfache Zielscheiben an, die nach der Vorstellung der organischen Einheit des neu entstehenden Regimes als Fremdkörper aussortiert werden können. Schließlich liefert die Ausmerzung der Intellektuellen den besten Beweis für die Tatsache, dass das Wort machtlos ist gegen die tatkräftige Gewalt. Die massenhaften Säuberungen in den Hochschulen werden mit höchster Wahrscheinlichkeit fortgesetzt werden.
Zurück zur Gegenwart: »Under Western Eyes« entsteht eine Führerdemokratie, die mit Hilfe schwerer Verstoße gegen die Menschenrechte eingeführt wird. Dabei ist die Rechtstaatlichkeit bereits außer Kraft gesetzt und die internationalen Verträge werden missachtet. Der Frieden wird nicht die erste Priorität des neuen Regimes sein. Die türkische Armee ist bereits seit zwei Monaten in Syrien und die Machthabenden stellen gelegentlich die Bedeutung des Vertrags von Lausanne infrage, der die Grenzen der Türkei nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bestimmte. Die Europäische Union muss zu alldem schweigen, weil ihre Kritik durch die Erpressung von Ankara bezüglich des Flüchtlingsabkommens in Schach gehalten wird. Kann sich die europäische Union diese »Appeasementpolitik« leisten? Die Geschichte sagt, dass das nicht weise wäre.
In dem gegenwärtigen Zustand bietet der Kampf gegen die Verfassungsreform eine letzte Chance für die Oppositionellen, sich besser zu organisieren, und Widerstand gegen die Etablierung der Führerdemokratie zu leisten. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise kann dabei der Opposition vielleicht darin behilflich sein, weitere Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die nicht zum Kernbestand der Bewegung gehören. Doch die massive Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und die Aufhebung des Demonstrationsrechts unter dem Ausnahmezustand verringern die Erfolgschancen der Opposition. Falls aber die Verfassungsreform durch das Volk abgelehnt werden sollte, öffnet sich ein weites Feld für den Wiederaufbau der basisdemokratischen Kräfte. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Volkan Çidam
Der Autor ist Unterzeichner der Friedenspetition, lebt in Istanbul und unterrichtet an der Bogaziçi Universität.