Engagement gegen den Tod

Über Sartres Kritik der deutschen Ideologie

Dass die Parteinahme für Israel nicht im Widerspruch zur Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer steht, vielmehr aus ihr unabweislich folgt, darüber konnte noch niemand ernsthaft Zweifel hegen, es sei denn er hieße Enzo Traverso oder Richard Herzinger. Dass aber durch die potenzierte Bedrohung Israels etwas hinzutritt, weswegen diese Parteinahme die Bedeutung einer conditio sine qua non der Kritik erhält, verleiht auch den notwendig unaufgelösten Widersprüchen Kritischer Theorie ein Erkenntnispotential, dem allseits lieber ausgewichen wird. Ihr kategorischer Imperativ – im Stande der Unfreiheit also die Freiheit zu behaupten, Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole –, ist nämlich fürs Verhältnis zur Politik überhaupt erst zu erschließen, indem Politik als Form falschen Bewusstseins umso bestimmter herausgearbeitet wird. Geschieht das nicht, wiederholt sich im Engagement für Israel subjektiv bloß die Solidarität mit der Sowjetunion, Mao oder Nicaragua an einem anderen Objekt, ohne dass am Gegenstand selbst irgendeine objektive Entsprechung zu entdecken wäre, außer der, dass auch Israel ein Staat ist.

Was darum nottut, ist eine Kritik der politischen Gewalt, die noch in der avanciertesten Kritischen Theorie, ja namentlich in der avanciertesten, im Schatten des Kalten Kriegs stehen musste. Adorno aber bewahrte sich dennoch den Blick dafür, dass gerade in der Auseinandersetzung mit Sartre etwas freizulegen wäre, das sonst von den Fronten des Kalten Kriegs verdeckt werden könnte. Er las Sartres wie auch Amérys Darstellung der Folter vor dem Hintergrund von Auschwitz, was ihnen einzig gerecht wird; so wie er versuchte, soweit es irgend möglich war, den Begriff der verwalteten Welt auf die dieser Welt zugrundeliegende Vernichtung der Juden durchsichtig zu machen. Im Essay und in der Vorlesung scheute er sich darum nicht zu erklären, wie nah ihm die Aussage einer Figur aus »dem bedeutendsten und deshalb in Deutschland kaum gespielten Stück von Sartre, Morts sans sépulture«, ging. Diese Figur, »einer der jungen und der Folter überantworteten Widerstandskämpfer«, sagt: »kann man eigentlich überhaupt noch – oder: wozu soll man eigentlich noch – in einer Welt leben, in der sie einen schlagen, bis einem die Knochen zerbrechen?« Und Adorno fügt hinzu, »dass überhaupt kein Gedanke, der nicht daran sich gemessen hat, der das nicht theoretisch in sich aufnimmt, dass ein solcher Gedanke von vornherein einfach das abschiebt, worüber nachzudenken ist, – und deshalb ein Gedanke gar nicht genannt werden kann.«? Theodor W. Adorno, Metaphysik, hrsg. v. Rolf Tiedemann, ?Nachgelassene Schriften, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1998, 174.

Zugleich aber formulierte er prononciert sein Misstrauen dem französischen Existenzialismus gegenüber und schrieb, dass manche von Sartres Parolen auch von dessen Todfeinden nachgeplappert werden könnten: Wenn es bei ihm um Entscheidung an sich gehe, würde das sogar das nationalsozialistische »Nur das Opfer macht uns frei« decken. Ders., Engagement, Gesammelte Schriften (GS) 11, ?Frankfurt a.M. 1997, 415.

Um nichts Geringeres müsste es gehen – sofern Kritik nicht bloß akademische Veranstaltung, deutsches Feuilleton für Antideutsche oder sekundärer Marxismus für ehemalige K-Gruppen sein kann –, als diesen Gegensatz zu entfalten, der sich hier im Urteil über Sartres Begriff politischer Gewalt zeigt.

Zweierlei Todesangst

Adornos Annahme, dass es sich bei Sartre um Entscheidung an sich handle, wirft allerdings die Frage auf, worin das Subjekt der Entscheidung bestehe; ob es dieses Subjekt überhaupt geben kann, wird Entscheidung solchermaßen absolut gesetzt. Erst die Antwort darauf sagt etwas über das Verhältnis zum Opfer wie den Begriff der Freiheit. Bei Heidegger, von dem Sartre doch ausgeht, ist das Subjekt im »Dasein« vollständig aufgelöst, das Ich verbleibt als bloß »unverbindliche formale Anzeige« – und damit ist ebenso das Verhältnis von Subjekt und Objekt als auch die Unterscheidung zwischen Einzelnem und Ganzem, die aus der Differenz erst bestimmbare Einheit der Momente, eliminiert, um das Individuum von vornherein der Perspektive des Opfers, und zwar des Opfers für die Gemeinschaft zu unterwerfen: Dasein ist objektlose Innerlichkeit wie subjektlose Gemeinschaft in einem, Gemeinschaft selber damit Aufhebung aller Vermittlung im Sein, »Sein zum Tode«: »Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin […]«? Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, 384.

Angesichts dieser Gemeinschaft zum Tode hat sich ein Verhältnis wie das zwischen Herr und Knecht, dessen Ursprung noch bei Hegel als Gewalt kenntlich sein soll, immer bereits erledigt: Wo man auch es zu fassen sucht, es erscheint stets schon zugunsten der Gemeinschaft beider beseitigt. Umgekehrt findet auch das Gewaltsame, das in der Gemeinschaft selber liegt, insoweit sie sich nur gegen den inneren und äußeren Feind konstituieren kann, keinen begrifflichen Ausdruck. Während also die politische Gewalt in Deutschland und später in Europa, alle Vermittlung sprengend und überall sichtbar, in einem nie dagewesenen Ausmaß angewandt wurde, wurde sie zugleich mehr als jemals und wie für alle Zeiten philosophisch verdrängt. Das ist das Geheimnis der Heideggerschen Begriffe, das ist das Prinzip seiner Philosophie, die ebenso als die des Nazismus wie des Postnazismus gelten kann.

Die Frage ist, ob Sartre diese Verdrängung mitmacht. Er glaubt jedenfalls oder unterstellt, dass Heidegger das Dasein als individualisiertes auffasst; dass Dasein »menschliches Dasein«, die »Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst« das Bewusstsein des Individuums »für sich« wäre, während es eben bei Heidegger im Sein zum Tode von vornherein entindividualisiert, auf die bloße Selbigkeit, Hypostasierung der Identität A = A, heruntergebracht ist, dergestalt, dass es gar nicht mehr möglich ist, wie doch immerhin noch bei Hegel, Gewalt auch nur zu denken. Das Verhältnis zwischen Mensch und Menschheit ist bei Heidegger zurückgenommen ins Sein, so dass die Gewalt, die in der Gesellschaft als unversöhnte waltet, nun vollständig verschwindet. All das wird von Sartre allein durch die Übersetzung von Dasein in menschliches Dasein ausgeblendet. Doch widerspricht er Heidegger aus diesem Missverständnis heraus dennoch an der entscheidenden Stelle: »So ist der Tod nie das, was dem Leben seinen Sinn gibt.« Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1994, 928. In dem Für-sich-Sein, das er an die Stelle von Heideggers Dasein setzt, gibt es »keinen Platz für den Tod«; es könne ihn weder erwarten noch realisieren, noch sich auf ihn hin entwerfen, der Tod sei so absurd wie die Geburt.

Sartres L’être et le néant ist von Anfang an darauf ausgerichtet, das Sein zum Tode zu verneinen, die »Theodizee des Todes«, die Adorno dann im Jargon der Eigentlichkeit erst in allen Konsequenzen aufdeckte, zu negieren. Denn auf diese »Konkretion« hin versucht Heidegger zu drängen und damit die Angst der Individuen, die als Furcht, sich nicht mehr reproduzieren zu können, von jeder Krise intensiviert wird, auf Todes- und Tötungsbereitschaft auszurichten. Es geht ihm nicht um diese Furcht des Einzelnen, sondern um eine Angst, die den Einzelnen auslöscht im »Ganzseinkönnen« der Gemeinschaft, im »Geschick des Volkes« Heidegger, Sein und Zeit, 266. In Sartres Denken hingegen ist der Tod nicht nur nicht die eigenste Möglichkeit des Seins, sondern überhaupt keine Möglichkeit. So begegnet die Freiheit gar nicht der Grenze des Todes, nur die Tat, die aus ihr folgen kann. Als solche hat die Grenze Platz im Für-sich, wie Sartre immer dann bewusst wird, wenn er auf die politische Situation, auf nationalsozialistische Herrschaft und Krieg, Bezug nimmt: In diesem Zusammenhang ist das berühmte Diktum zu sehen, »dass auch die Folter uns nicht unsere Freiheit nimmt«; Sartre, Das Sein und das Nichts, 903. oder die Aussage, dass selbst ein Verbot wie »›Eintritt für Juden verboten‹, ›Jüdisches Restaurant, Zugang für Arier verboten‹ usw.« nur Sinn habe auf der Grundlage meiner freien Wahl, es verliere hingegen seine eigene zwingende Kraft »in den Grenzen meiner eigenen Wahl und je nachdem, ob ich unter allen Umständen das Leben dem Tod vorziehe oder im Gegenteil der Meinung bin, dass in gewissen besonderen Fällen der Tod gewissen Formen des Lebens vorzuziehen ist usw.« Ebd. Der Tod selber gibt dem Leben keinen Sinn, aber mit ihm muss womöglich als Folge meiner Tat gerechnet werden. So lautet Sartres Antwort auf die Nazi-Parole »Nur das Opfer macht uns frei«. Mit dem Tod zu rechnen, legt nahe, dass er lediglich einen bestimmten Stellenwert bekommen soll. Das »usw.«, das Sartre den aufgezählten Situationen anfügt, versucht ihn möglichst niedrig anzusetzen, wie um das Bewusstsein der Freiheit nicht zu erschüttern.

Die Freiheit darf durch den Tod nicht begrenzt werden – das ist die Situation im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Der Widerstandskampf selbst wird dabei nicht als notwendiges Opfer für eine andere, bessere Gemeinschaft fetischisiert, aus dem Widerspruch zu Heideggers Sein zum Tode folgt hingegen zwingend, und darin könnte sogar der Kern von Sartres Philosophie gesehen werden, dass es Gemeinschaft im eigentlichen Sinn gar nicht geben kann, es sei denn als permanente Unaufrichtigkeit der Individuen: das »Wir« bedeutet bei Sartre grundsätzlich eine »Erfahrung von Demütigung und Ohnmacht« für den Einzelnen, Gemeinschaft ist im besten Fall, als »Subjekt-Wir«, nur »eine provisorische Beschwichtigung, die sich innerhalb des Konflikts selbst bildet«, und »nicht als eine endgültige Lösung dieses Konflikts« zu verstehen, was immer das sein mag. Ebd., 730 u.744.

Sartres Philosophie bestreitet, dass es einen »absoluten Gesichtspunkt« gäbe, »den man einnehmen könnte, um verschiedene Situationen vergleichen zu können; jede Person realisiert nur eine Situation: die ihre.« Ebd., 945. Da es hier nichts Vergleichbares gibt, somit aber auch keine Möglichkeit, ein Gesetz oder einen Imperativ zu formulieren, bleibt scheinbar bloß eine einzige ›Kausalität aus Freiheit‹: ich bin für alles verantwortlich, oder: ich bin für nichts verantwortlich. Das heißt: in welcher Form ich es wäre, bleibt unbestimmt, eine Unterscheidung darin, in welchem Sinn und in welchem Maß ich jeweils für etwas als ›schuldig‹ gelten kann, scheint nicht möglich.

Freiheit und Behemoth

Die innere Notwendigkeit zu begreifen, Ders., Réflexions sur la question juive [1946], Paris 1954, 59. warum Sartre nach L’être et le néant die Réflexions sur la question juive schrieb, käme dem Versuch gleich, Franz Neumanns Erkenntnisse über den deutschen »Unstaat« philosophisch einzuholen. Neumann hat bekanntlich in seiner Studie Behemoth – im amerikanischen Exil ein Jahr vor L’être et le néant publiziert – zeigen können, dass der Nationalsozialismus die in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Vermittlungsformen zugunsten unmittelbarer Bandenherrschaft auflöst. Indem derart das Gewaltmonopol zerfällt, entspringt umgekehrt totale Einheit in der Ausrichtung auf den Vernichtungskrieg. Sartres Philosophie in L’être et le néant kann noch in ihrem Widerspruch zum Sein zum Tode, das diese totale Einheit fetischisiert, als Ontologisierung jener Vermittlungslosigkeit gelesen werden, die ihr zugrunde liegt. Darauf zielt im Grunde auch Adornos Kritik an der Vorstellung einer »Entscheidung an sich«. Was mit den Juden geschieht, die Verfolgung und die Folter unter deutscher Besatzung, all das taucht in der Ontologisierung nur in den Beispielen für die »Situation« auf. Erst in den Réflexions sur la question juive hat Sartre die Einheit beim Namen genannt: was der Antisemit »wünscht, was er vorbereitet, ist der Tod des Juden«, und damit auch den Schlüssel gefunden, den Widerspruch zum Sein zum Tode zu Ende zu denken und etwas wie einen Zwang zu einem neuen kategorischen Imperativ zu erkennen. Sein Begriff der totalen Verantwortung erhält jetzt erst Sinn: Der Einzelne muss sich insofern auf alles beziehen, was geschieht, als er in Verhältnissen lebt, die allesamt darauf zielen, die Juden zu vernichten.

Was der Antisemit wünscht, was er vorbereitet, ist der Tod des Juden: Dieser Wunsch, diese Vorbereitung ist seine Auffassung von Totalität, sein ›Gegenbegriff‹ zu dem durch das Kapitalverhältnis hergestellten Zusammenhang. Adorno staunte darum nicht wenig über Sartres »brilliant paper«, das 1946 erschien, als die Studien zum Autoritären Charakter bereits abgeschlossen waren: »That his phenomenological ›portrait‹ should resemble so closely, both in general structure and in numerous details, the syndrome which slowly emerged from our empirical observations an quantitative analysis, seems to us remarkable.« Zit. n. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1988, 464. Innerhalb dieses Zusammenhangs, den der Antisemit als Weltverschwörung des Judentums zum Verschwinden bringt, hat aber umgekehrt, wird er auf den Begriff gebracht und also aller Verschwörungstheorie entgegengesetzt, wirklich jeder, der qua Geld am Marktgeschehen teilnimmt – und jeder muss es insofern tun, als er genötigt ist, sich unter vorgegebenen Bedingungen zu reproduzieren –, zugleich ›verantwortlich‹ zu gelten nicht nur dafür, dass Menschen, in unterschiedlichem Ausmaß, ausgebeutet und erniedrigt werden: Solche Verantwortung besteht in der von jedem Geldschein kreditierten Fortdauer eines gesellschaftlichen Ganzen, das die Krise notwendig enthält und mit ihr das Potential des Wahns, diejenigen, die als Verursacher der Krise phantasiert werden, der Vernichtung auszuliefern; für die guten Chancen also, die der Antisemit nach wie vor hat, das zu erreichen, was er will: die Wiederholung von Auschwitz. Davon zu abstrahieren, kann jeder sich bequem auf Kant und den kategorischen Imperativ berufen; es zu begreifen, kommt keiner herum, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie beim Wort zu nehmen, wonach der Wert jeglichen Eigentums und sei es die Arbeitskraft sich nur durch die »Gesamtexploitation der Arbeit durch das Gesamtkapital« Karl Marx, Das Kapital, Marx-Engels-Werke (MEW) 25, Berlin 1981, 180. hindurch reproduzieren kann.

Wenn dieser im Kapital besiegelte Zusammenhang aller zum Zweck der Verwertung das Individuum ohnmächtig zurücklässt, es keine Handhabe, keine gesellschaftliche Kraft findet, ihn umzustürzen, ist das die eine Sache; eine andere aber, wenn es sich dabei nicht mehr bewusst werden will, »mitschuldig« zu sein an der eigenen »verkehrten Gestalt«. Theodor W. Adorno, Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute, GS 8, Frankfurt a.M. 1997, 186. Umso mehr beteiligt es sich aktiv und engagiert daran, dieser Gestalt im Politischen die monströsen Züge und Mittel zu verleihen – am monströsesten, wenn sie zugleich antikapitalistisch sein sollen –, ohne die es das Kapitalverhältnis gar nicht geben könnte. Während nämlich die Verantwortung der Individuen im Hinblick auf die Verwertung des Werts als vollständig abstrakte gelten kann, als »Charaktermaske«, sodass niemand mehr sich fürs Ganze genau dort verantwortlich fühlen muss, wo es jeder wirklich ist, da er doch »seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich« herumträgt Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Berlin 1983, 90. – erhält sie desto mehr Konkretheit, sobald der Geldbesitzer als Staatsbürger in Aktion tritt, oder anders gesagt: wenn die Einheit des Verwertungsprozesses unterm Gesichtspunkt des politischen Souveräns erscheint, ohne den jenes Portemonnaie, wie voll es auch sei, ganz wertlos wäre. Die Charaktermaske kann den Staatscharakter nicht völlig ersetzen: Die Einheit des einzigen, überall herrschenden Kapitalverhältnisses, stellt sich politisch dar und muss sich politisch behaupten als Vielheit einander feindlich gegenüberstehender Staaten. Die Aufhebung der Gewalt im Vertrag kapitalistischer Ausbeutung setzt die Drohung mit Gewalt voraus, die vom Souverän nur monopolisiert werden kann, indem die Staaten sich zueinander, mindestens potentiell, als Feinde verhalten. Aber letzteres ist wiederum nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung, wie Phänomene zeigen, die schon Hobbes Behemoth nannte und die man heute failed states nennt. Die Formen der Monopolisierung der Gewalt und ihrer Anerkennung durch die Massen, die dadurch zum Volk werden, – das Verhältnis, in dem somit volkseigener Bürger und monopolisierte Gewalt stehen – differieren wesentlich, auch wenn sie insgesamt immer nur das Unwesen des Kapitals ausmachen: Der Gewaltenteilung auf der einen Seite, die das Gewaltmonopol zur Voraussetzung hat, steht der Zerfall in Rackets auf der anderen gegenüber, die ums Volk als ihrer »Schwungmasse« (Joachim Bruhn) konkurrieren. So bilden sich aber denkbar unterschiedliche Konditionen von Verantwortlichkeit und Mitschuld je nach Staatscharakter heraus und verlangen ebenso eine Differenzierung, die mit den Kategorien von L’être et le néant nicht gedacht werden kann, wie einen Begriff von politischer Souveränität, der, anders als später bei Sartre, dem politischen Engagement, der Parteinahme für den Souverän, keine Zugeständnisse macht.

Engagement ex negativo

Engagement für einen bestimmten Staat oder für bestimmte Staaten ist jedenfalls solange kein politisches Engagement, keine Apologie des Kapitals, als es sich ausschließlich ex negativo zu begründen weiß: ›nur‹ dazu bestimmt, den Staat der Juden explizit gegen seine Feinde zu unterstützen wie überall genau diese Kräfte zurückzudrängen, treten sie nun in Form asymmetrisch agierender Terroristen oder völkerrechtlich anerkannter Staaten auf, die spätestens seit dem Nationalsozialismus zuverlässig identifiziert werden können, soweit sie sich selbst, wie zerfallen sie auch sein mögen, auf einen Nenner bringen: Vernichtung um der Vernichtung willen. Für dieses Engagement, das immer nur einen Aufschub bewirken kann, findet sich deshalb keine bessere Bezeichnung als die, die Manfred Dahlmann nach dem 11. September 2001 geprägt hat: »Gegenidentifikation«.

Gerade indem Sartre den kategorischen Imperativ von Kant zurückweisen musste, der in der Formulierung notwendig auf die Vertragsgesellschaft angewiesen bleibt, lässt sich mit seiner Philosophie doch etwas von dem begreifen, was mit Kants Philosophie niemals zu begreifen ist. Das Kapital, die fortdauernde Bedingung der Möglichkeit von Auschwitz, wird durch sie, wie Dahlmann in seiner Sartre-Kritik ausführt, zumindest in einer Hinsicht völlig zutreffend bestimmt: »als ein System organisierter Verantwortungslosigkeit« – und zwar im Sinn einer »Angstbewältigungsstrategie«, die deshalb so erfolgreich sei und den ihr vorangegangenen Formen von Vergemeinschaftung so überlegen, weil es den Individuen verspricht, sie von ihrer Freiheit und der daraus sich ergebenden Verantwortung zu ›befreien‹. Manfred Dahlmann, Freiheit und Souveränität. Kritik der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres, Freiburg 2013 (im Druck). Aber auch dieses Pseudo-Glücksversprechen wird nicht tel quel eingelöst, stattdessen gerät das Bewusstsein in einen Teufelskreis, den es nur mit dem Teufel in persona verlassen kann: Je mehr sich das Subjekt auf seine eigene Verantwortungslosigkeit berufen möchte – als Opfer des sozialen Milieus, der Familie, der Herrschenden – desto mehr wird es auch noch verantwortlich für die Schuldzuweisungen, die daraus mit ideologischer Notwendigkeit folgen, desto wahlloser verinnerlicht es selber diese Schuldzuweisungen, um sich in der eigenen Überflüssigkeit häuslich und voller Demut einzurichten – solange also der wirkliche »Schuldzusammenhang« nicht durchschaut und aufgekündigt wird. Diese Zuweisungen sind die »pathischen Projektionen«, von den Individuen an die Stelle dessen gesetzt, was sie quält, wodurch sie ausgebeutet und erniedrigt werden, und wofür sie dergestalt auch noch selbst Verantwortung tragen müssten, hätten sie eine Begriff davon, was sie quält; oder besser: wollten sie überhaupt einen davon haben. Der Einwand, dass es ja nichts ändert, wenn die Individuen sich ihrer Mitwirkung am unwahren Ganzen bewusst werden, da sie doch in ihrem gewöhnlichen Leben fortfahren, das Immergleiche zu tun, bei Handel und Wandel dann eben lediglich in Sack und Asche herumlaufend, ist darum nicht triftig: er wird durch die Existenz jedes einzelnen Antisemiten widerlegt – und durch alle Versuche, die Intensität seines Wunsches zu verharmlosen –, so wie jeder einzelne Antisemit einem zwangsläufig vor Augen führt, dass es beim bloßen Bewusstwerden, selber am Verhängnis aller mitzuwirken, durchaus nicht sein Bewenden haben kann.

Damit wird auch verständlich, warum Sartre zwar, abgesehen von jener ›Befreiung‹ von der eigenen Freiheit, keinen Begriff vom Kapitalverhältnis hat und dennoch das für die von diesem Verhältnis durchdrungene Gesellschaft symptomatische Portrait des Antisemiten zu geben vermochte. Denn wie viel er später auch geschrieben hat, um die Gesellschaft und die Ökonomie zu erfassen und seiner Philosophie anzufügen; wie sehr er versucht hat, Marx heranzuziehen und dem »Naturgesetz« der Gesellschaft Rechnung zu tragen, er fand im Grunde keinen anderen Ausdruck für das durch die Verwertung des Werts hergestellte und in der Krise explodierende Ganze als jene Entgrenzung und Verallgemeinerung der Verantwortung, der sich das Individuum durch Unaufrichtigkeit (»mauvais foi«) ständig zu entziehen sucht, wogegen es aber erst im Antisemitismus die Geschlossenheit eines Wahns ertrotzen kann.

Soll also die Auseinandersetzung mit Sartre einen Sinn haben, so wäre sein Freiheitsbegriff mit der Kritik der politischen Ökonomie zu konfrontieren, die ihm selbst weitgehend verschlossen blieb: Von der »Mitschuld« jedes Individuums, jenseits der Klassenzugehörigkeit, ist auszugehen in Hinblick darauf, dass es – aus welcher Position auch immer – nichts dagegen unternimmt, ja nicht einmal zu denken wagt, die Voraussetzung von Auschwitz, das Kapitalverhältnis, als methodische Unmündigkeit aller, abzuschaffen. Zugleich bleibt ihm, ohne darum dieser Verantwortung im Allgemeinen zu genügen, eine einzige Möglichkeit, ihr dennoch im Konkretesten nachzukommen; sie ist auch die einzige, jener selbstverschuldeten Unmündigkeit vollständig und in allen Konsequenzen gewahr zu werden: die Befolgung des kategorischen Imperativs nach Auschwitz, wie ihn bereits vor Adorno die Réflexions sur la question juive zu formulieren suchten, nicht zuletzt indem sie die Militanz unterstrichen, mit welcher die Antisemiten zu bekämpfen sind. Nur wer sich dabei jedoch zugleich die eigene Ohnmacht eingesteht, die sich im Konkretesten immer wieder zeigt – die Ohnmacht des Sisyphos, der anders als der von Camus kaum glücklich zu nennen ist – wird die antisemitische Gewalt nicht unterschätzen. Und hier beginnen auch die Probleme mit Sartres politischem Engagement nach 1945: Diese Ohnmacht beruht auf der schlechten Einrichtung der Welt (»le monde est mal fait« Sartre, Réflexions sur la question juive, 48.), die auch für Sartre letztlich der Daseinsgrund des Antisemitismus ist, die Bedingung der Möglichkeit, dass es ihn gibt – ohne dass durch diese Bedingung die »totale Wahl«, Antisemit zu sein, im geringsten legitimiert werden kann. Indem Sartre das »mal fait« aber nun nach Maßgabe marxistischer Verdrehungen der Marxschen Kritik auffasste, konnte er etwa den Parteikommunismus kaum noch als Teil des Problems begreifen und missachtete das Kategorische: die Einsicht der Réflexions, dass es eine »faule Lösung« Ebd., 186. ist, die unmittelbare Bekämpfung des Antisemitismus aufzuschieben bis zur Revolution, die den Daseinsgrund beseitigen muss – eine Lösung, die wiederum nur dazu dient, dass der Antisemit wieder erreichen könnte, was er will, und den Begriff der Revolution ins Gegenteil verkehrt.

Auszug aus einer größeren Arbeit über die »Verdrängung der politischen Gewalt«, die in mehreren Teilen in den nächsten Ausgaben der neuen Zeitschrift sans phrase erscheint.

www.sansphrase.org

~ Von Gerhard Scheit.Der Autor lebt in Wien und gibt gemeinsam mit Manfred Dahlmann die Zeitschrift sans phrase heraus.