Guy Hocquenghem (1946–1988), der Verfasser des hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Textes, war ein französischer Philosoph und Schriftsteller, Kommunist und Schwulenaktivist. Als Student beteiligte er sich an den Protesten im Mai 1968; im Jahr 1971 war er Mitbegründer des linksradikalen Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR). Schon 1972 veröffentlichte er sein erstes und zugleich berühmtestes Werk, Le Désir homosexuel (dt.: Das homosexuelle Verlangen), das als der erste Text der Gay Theory gilt. Er begann eine universitäre Laufbahn an der Universität Vincennes (Paris VIII), zudem schrieb er regelmäßig für die linke Tageszeitung Libération und verfasste mehrere Kurzgeschichten und Romane. Im Jahr 1988 starb Hocquenghem im Alter von 41 Jahren an den Folgen einer Aids-Erkrankung. Bis heute zählt er zu den wichtigsten VertreterInnen der radikalen Schwulenbewegung in Frankreich.
Im Zentrum von Hocquenghems Denken, das stark von Foucault, Deleuze und Guattari geprägt ist, steht das Begehren. Unter Rekurs auf Freud begreift er es als universell, polymorph und inklusiv; Freuds Annahme, dass die Einschränkung dieses Polymorphismus, die entweder homo- oder heterosexuelle Fixierung der Objektwahl, Bestandteil einer gesunden psychosexuellen Entwicklung sei, lehnt Hocquenghem jedoch ab. Die exklusiven Kategorien Homo- und Heterosexualität gelten ihm als Ontologisierungen eines nie gänzlich sistierten Libidoverhältnisses: Es gibt demnach keine stabile (sexuelle) IdentitätSeiner theoretischen Ablehnung von Identitätskategorien zum Trotz, besteht Hocquenghem auf der Bedeutung einer Befreiung von der Scham und einer Affirmation homosexueller Identität in der Praxis., sondern nur das universelle Begehren, das auf keine feste Objektwahl begrenzt ist. Diese Identitätskritik und seine Ablehnung der »Idee einer Opposition zweier klar begrenzter Geschlechter« machen Hocquenghem in gewissem Grade zu einem Queer-Theoretiker avant la lettre.
Sein hier übersetzter und abgedruckter Text erschien erstmals im Februar 1987 im rechtskonservativen Le Figaro Magazine. Doch wie kam es dazu, dass ein kommunistischer Schwulenaktivist ausgerechnet dort einen politischen Essay veröffentlicht? Anfang der 1980er Jahre begann die »Aids-Krise«; 1983 wurde in Frankreich das HI-Virus entdeckt. Die paranoide Furcht vor der »Homosexuellenseuche« (Der SPIEGEL) begünstigte einen reaktionären und homophoben Backlash. Homosexuelle, die in Frankreich zuvor noch die fast vollständige Abschaffung rechtlicher Diskriminierung gefeiert hatten, sahen sich in einem Maße stigmatisiert wie noch nie zuvor. Dies ist der weitere Kontext, in dem Louis Pauwels, der Chefredakteur des Figaro Magazine, im Dezember 1986 ein Editorial mit dem Titel Le Monôme des zombies (dt.: Der Umzug der Zombies) veröffentlichte. Mit Bezug auf SchülerInnen- und Studierendenproteste gegen eine geplante Hochschulreform hieß es darin: »Das ist eine Jugend, die von geistigem Aids befallen ist. Sie hat ihre natürlichen Immunitäten verloren; alle zersetzenden Viren befallen sie«. Verantwortlich für diese »geistige Immunschwäche« sind in Pauwels’ Augen die Institutionalisierung der Ideen des Mai ’68 und ihre Verankerung im Schulsystem durch die regierenden Sozialisten.
Dieser Text verursachte einen großen Skandal: Pauwels war gezwungen, sich für den Ausdruck »geistiges Aids« zu entschuldigen, die geplante Hochschulreform wurde zurückgezogen. Doch in der allgemeinen Empörung darüber, dass die Protestierenden als aidskrank diffamiert worden seien, ging unter, welch rigide Sexualmoral aus Pauwels’ Aids-Metapher spricht. Hocquenghem nahm dies zum Anlass für einen Essay, der vom Figaro Magazine erstaunlicherweise abgedruckt wurde und der Hocquenghems einzige nicht-literarische Veröffentlichung zum Thema Aids bleiben sollte.
Auch wenn der Text vor nun schon 30 Jahren geschrieben wurde, kann er immer noch Aktualität für sich beanspruchen. Das Thema Aids dient Hocquenghem als Anlass, allgemein über die Verschärfung der Sexualmoral und mögliche Antworten auf sie nachzudenken. Die von ihm beschriebene gesellschaftliche Situation ist der heutigen dabei gar nicht so unähnlich: Einer kulturellen und politischen Liberalisierung der Sexualmoral, die insbesondere mit der zunehmenden rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Homosexuellen einhergeht, steht zugleich ein reaktionärer Backlash entgegen, der sich gegen Tendenzen sexueller Befreiung richtet. Ob Proteste gegen die »Ehe für alle«, gegen sexuelle Vielfalt in den Lehrplänen der Schulen oder gegen das Recht auf Abtreibung – in vielen Ländern gewannen in den letzten Jahren gesellschaftliche Bewegungen an Stärke, die die Sexualität (wieder) strengen moralischen Normen unterwerfen möchten.
Hocquenghem kritisiert aber auch die Linke und ihre unzureichenden Antworten auf diesen Backlash. Ihre Forderung nach der Aufhebung jeglicher Sexualmoral ignoriere, dass Sexualität mehr sei als bloß ein körperliches Bedürfnis. Hocquenghem insistiert auf der sinnlichen Tiefe der Sexualität ebenso wie auf den mit ihr verbundenen Risiken. Lust und Leid, Sex und Tod sind für ihn keine Gegensätze, sondern können als Teile eines Verhältnisses verstanden werden. Daher fordert Hocquenghem eine neue Sexualmoral, eine »Ethik der Lüste«. Seine Vorstellungen, wie eine solche Ethik aussehen könnte, mögen zwar an manchen Stellen ins Esoterische abdriften; doch an ihrer grundsätzlichen Notwendigkeit ist kaum zu zweifeln.
Hocquenghems Hoffnung war damals, dass Aids und seine Folgen zum Ausgangspunkt für ein neues (Nach-)Denken über Sexualität werden. Die Entscheidung der Phase 2, seinen Text zu übersetzen und abzudrucken, erfolgt aus der Überzeugung heraus, dass eine derartige Reflexion auch dreißig Jahre später noch notwendig ist. Einen ersten aktualisierenden Beitrag zu ihr leisten Patsy l’Amour laLoves Überlegungen zum Homosexuellen Verlangen in der Krise, die in Auseinandersetzung mit Hocquenghems Text entstanden und hier im Anschluss an ihn abgedruckt sind.
Phase 2 Hamburg