Dan Diner ist Professor für Geschichte an der Hebrew University Jerusalem und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören u.a. Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Berlin 2005) sowie die Essaysammlung Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte (München 2010).
Phase 2: In Ihrem Buch Versiegelte Zeit haben Sie den Islam als Hemmschuh für demokratisch-kapitalistischen Fortschritt und Innovation beschrieben. Jetzt scheinen die Verhältnisse in der arabischen Welt in Bewegung zu kommen. Wie schätzen Sie bisher die Ereignisse in Tunesien und Ägypten ein? Lässt sich bereits von einer Revolution sprechen?
Dan Diner: Die Ereignisse in der arabischen Welt, vornehmlich in Ägypten, dem zentralen Land in der Region, lassen sich heute schon mit dem Begriff des Historischen bezeichnen. Es ist ein gewaltiges Ereignis, eine gewaltige Eruption. Vor dem Hintergrund der ägyptischen Geschichte, die man mit dem frühen 19. Jahrhundert und der Herrschaft Mohammed Alis ansetzen könnte, einem autokratischen Herrscher, der versucht hat, Ägypten von oben zu modernisieren, kann man die gegenwärtige Entwicklung vielleicht sogar als so etwas wie einen Kontrapunkt verstehen.
Überspitzt ließe sich sagen, dass in Ägypten seit den Tagen Mohammed Alis, eine Armee ein Land hatte und nicht ein Land eine Armee. Heute bildet sich hingegen zum ersten Mal das aus, was in unseren Breiten Zivilgesellschaft genannt wird. Zumindest ist eine große populare Bewegung zu beobachten, die sich gegen Autorität richtet. Ich will nicht behaupten, dass sie sich gegen den Staat richtet, mit Sicherheit nicht gegen die Armee, aber sie verwahrt sich immerhin einer zentralistischen und etatistischen Autorität und ihrer Symbole. Ihre Gegner sind im Wesentlichen diejenigen, die in der Presse als Despoten beschrieben werden, wobei es sich im klassischen Sinne eigentlich um autoritäre Herrscher handelt. Sie stützen sich auf das Militär und die inneren Sicherheitsorgane und haben ihre Herrschaft in ein Familienunternehmen verwandelt. Was sich bisher vollzogen hat, war im Grunde eine Plünderung des öffentlichen Gutes seitens dieser Herrscher, mit dem Ansinnen, die eigene Nachfolge durch die Familie zu sichern und zu verlängern, also eine Dynastiebildung zu betreiben.
Für die Beantwortung der Frage, ob es sich hierbei bereits um eine Revolution handelt, ist es noch zu früh. Zudem ließen sich hierfür mehrere Begriffe in Stellung bringen. Man könnte zunächst sagen, es ist eine nach innen gerichtete, also eine ägyptische Revolution. Sie lässt jedenfalls bislang zwei Elemente außen vor: nämlich das islamische und das arabische Moment. Eine Parole des Aufstandes von Urabi Pascha 1882 lautete: »Ägypten den Ägyptern«. Sie richtete sich damals gegen England und Interventionen von außen. Heute könnte ein solches Motiv eine institutionelle Bedeutung annehmen. Man spricht zwar gegenwärtig von dem Volk, aber man meint zunächst eine auf der Straße agierende Masse. Zum Volk werden sie erst durch Institutionen und wir werden sehen, wie und in welcher Form das erfolgt, was institution-building genannt wird. Sollte dies gelingen, haben wir es in der Tat mit einer ägyptischen Revolution zu tun. Das heißt, dass sich die Bevölkerung überhaupt erst einmal durch Institutionen auf der Grundlage von Gewaltenteilung als Volk konstituiert und sich eine Verfassung gibt. Doch diese Dinge haben sich noch nicht entmischt. Denn der Sturz eines Regimes und die Etablierung von Institutionen sind zwei verschiedene Angelegenheiten. Bislang ist der Sturz eines Autokraten gelungen. Inwieweit das gesamte ancién regime hinweggefegt wird – um einen Begriff aus der Revolutionstheorie zu verwenden – oder nur sein Symbol, wird sich noch zeigen. Soweit ich die Debatte verfolgt habe bevor Mubarak abgetreten ist, war mein Eindruck, dass der Protest zu stark auf die Person und zu wenig auf das Regime gerichtet war.
Phase 2: Wie schätzen sie die weitere politische Entwicklung in Ägypten ein? Könnten sich die Veränderungen auch zu einer, wenn man so will, arabischen Revolution auswachsen?
Dan Diner: Eine arabische Revolution wäre etwas anderes. Hier geht es darum, wie weit die Revolution auf die arabische Welt ausgreift. Die Frage wäre, inwieweit das, was in Ägypten und Tunesien geschehen ist, die Grundlage einer Neudefinition im arabischen Raum bildet, die dann aber ins Nationalistische abgleiten könnte. Das wird sich erst in der Zukunft erweisen. Denn die Verbindung von allem ist heute noch das Demokratische bzw. der Ruf nach der Volkssouveränität. Nimmt man die Französische Revolution als Referenz – natürlich nicht im Sinne einer Wiederholung –, dann geht es darum, ob sich jetzt der dritte Stand oder die Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft nationalistisch, jedenfalls in einem emphatischen Sinne kollektivistisch einfärbt. Das ist in Ägypten heute zum Glück nicht der Fall. Aber es ist eine Tendenz, die durchaus möglich ist. Es könnte sein, dass es im Verlaufe eines politischen Entmischungsprozesses im Inneren Ägyptens zu Auseinandersetzungen der verschiedenen Fraktionen kommt und dass dann Nationalismus in Gang gesetzt wird oder islamische Tendenzen überhand nehmen, um von den eigentlichen institutionellen Fragen von Repräsentanz, Demokratie und Rechtsgleichheit abzulenken. Es kann zu einer dramatischen Situation kommen, wenn die Revolution voranschreitet und nicht in Institutionen übergeht, in der das Militär sich weigert, das Heft aus der Hand zu geben und bonapartistisch einen Ausweg sucht. Das wäre faktisch eine Wiederholung des Vergangenen mit anderem Personal. Wir dürfen nicht vergessen: Mubarak ist ein Nachfolger von Anwar Sadat und Sadat wiederum ist ein Nachfolger von Gamal Abdel Nasser. Das heißt hier geht es bei Lichte betrachtet um die Liquidierung der Restbestände der Revolution, genauer: des Putsches arabischer Nationalisten aus dem Jahre 1952. Innerhalb der Logik der Militärherrschaft ist Mubarak nicht so illegitim gewesen, wie es heute erscheint. In gewisser Hinsicht verkörperte er diese Tradition, wenn auch in kläglicher Weise. Er ist illegitim geworden durch eine geradezu unbegrenzte Korruption. Es ist auch noch völlig ungeklärt, was aus dem Militär werden wird, ob es sich wirklich als reines Militär versteht. Nach wie vor ist es Teil des System Mubarak. Das wiederum ist nicht untypisch für die gesamte Region, diese Verschmelzung von Militär, Politik und Ökonomie. Und zwar nicht als eine Ausnahme – also als Korruption –, sondern als eine generelle Nicht-Trennung von politischer Herrschaft und ökonomischen Nutzen.
Phase 2: Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die im Zuge der Berichterstattung immer wieder angeführten sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter?
Dan Diner: Die Ereignisse in der arabischen Welt könnten in der Tat auch als Ausdruck einer globalen Revolution verstanden werden. Diese drücken sich vornehmlich in den erwähnten Netzwerken aus, also jener Form der Kommunikation, die unmittelbar ist und alle Möglichkeiten, die der Herrschaft offenstanden, Informationen zu verhindern oder zu manipulieren, umgeht. Dieser globale Kommunikationszusammenhang unterläuft Staat, Territorium, Herrschaft und er kommt von außen. Er kommt von außen als Technik aber auch als Protestform. Das ist in der Tat das Große und das Neue, das, wozu wir noch wenige Erfahrungen vorweisen können. Faktisch überspringt diese Technologie all jene institutionellen Formen, die wir gemeinhin kennen in historischen Prozessen. All diese Geschichtserfahrungen werden unterlaufen durch eine Technologie, die ein Element der Gleichzeitigkeit und der Unmittelbarkeit erzeugt, die quasi alle materialen und physischen Herrschaftsinstrumente annulliert, will man nicht pure Gewalt einsetzen. Man hört und liest, dass dieser Prozess nicht völlig spontan gewesen ist, sondern dass ein Austausch mit anderen, erfahrenen Aktivisten aus aller Welt stattfand, die den Ägyptern Ratschläge zur Mobilisierung, zum Verhalten bei Demonstrationen etc. gegeben haben. In diesem Sinne war es eine durchaus geplante Revolution, eine Art von Sturm auf den Winterpalais, der keine Waffen sondern Informationen als Taktik der Mobilisierung und der Umsetzung einsetzt, also eigentlich ein symbolischer Krieg. Und der symbolische Krieg wurde um den Tahrir-Platz geführt und galt gleichzeitig dem ganzen Land. Natürlich vollzog sich dieser Prozess auch durch Einflussnahme einer öffentlichen Meinung, indem von überall die Worte erschallten, keine Gewalt anzuwenden. Das heißt auch, dass sich zunehmend so etwas wie eine internationale Kultur einstellt, die einer gewaltbereiten Herrschaft entgegen zu treten vermag. Und dies wiederum ist natürlich nur möglich, weil es Bilder davon geben kann. Es kann also sozusagen nicht mehr im Geheimen und im Dunkeln geschehen.
Phase 2: Wie ist ihr Eindruck von der Rolle, die der Islam und insbesondere der politische Islamismus bei den Ereignissen im Nahen Osten, gerade in Ägypten, spielt?
Dan Diner: Ich habe mehrere Bilder gesehen, die mir aufgefallen sind. Ein Bild war an dem besagten Freitag des Sturzes von Mubarak ein sehr muslimisch wirkender Mann, ungefähr Mitte dreißig, traditionell weiß bekleidet mit Bart, der in der Hand einen offenen Koran hielt und völlig exaltiert ins Mikrofon gerufen hat »I am Egypt, I am Egypt«. Ich weiß nicht, inwiefern das repräsentativ ist, aber das hat einen tiefen, symbolischen Eindruck bei mir hinterlassen. Er hat nicht gerufen »Allah u-Akbar« sondern »I am Egypt«. Also hat er sich mit etwas identifiziert, was wir fast als den Souverän bezeichnen könnten, als das Volk im politischen Sinn. Ich weiß nicht inwieweit das in irgendeiner Weise einen Blick in die Zukunft erlaubt, aber es ist mein Eindruck, dass sich die historische Konstellation in Ägypten, in der sich wesentlich zwei Parteien seit den 50er Jahren jahrzehntelang befehdet haben, im Vergehen begriffen ist. Es handelt sich dabei um das Militär, die Offiziere, die als arabische Nationalisten und damit als säkular aufgetreten waren auf der einen, und die Muslimbrüder auf der anderen Seite. Diese Konstellation scheint an ihr Ende gelangt zu sein. Beide, Militär und Muslimbrüder, scheinen aus verschiedenen Gründen geschwächt. Zudem ist der sunnitische Islam in Ägypten ohnehin eher moderat. Außerdem ist die radikale Fraktion der Muslimbrüder faktisch durch das Regime eliminiert worden und es sind eher die wohlfahrtsorientierten, sozial engagierten Vertreter übrig geblieben. Aber ausgehend von diesen Eindrücken der Ereignisse lässt sich natürlich keine sichere Prognose stellen.
Phase 2: Worin sehen Sie im Einzelnen die Ursachen für die offensichtlich eher geringe Bedeutung, die den Muslimbrüdern – die in Ägypten, so hört man immer, zu den einflussreichsten politischen Gruppierungen zählen – im Rahmen der Proteste und des Umsturzes zukam?
Dan Diner: Ich denke die geringe Präsenz der Muslimbrüder bei den Protesten hat im Großen und Ganzen etwas mit der Rolle der modernen Kommunikationsmittel zu tun. Es gab darauf einen Hinweis in der Presse. Ein Journalist hat auf die Frage an die Muslimbrüder, warum sie sich so zurückgehalten haben, eine sehr interessante Antwort erhalten, die sich natürlich aus deren Tradition heraus begründet. Die Brüder gaben an, dass sie das Medium Facebook nicht beherrschen, weil sie Personen nicht vertrauen, die sie nicht persönlich kennen. Das ist interessant und meine Interpretation würde darauf hinauslaufen, dass man in der islamischen Tradition nur der Mündlichkeit und damit der Unmittelbarkeit einer religiösen Autoritätsperson vertraut.
Phase 2: Wie sehen sie die ideologischen Konstellationen in Ägypten nach dem Umsturz? Wie sind vor deren Hintergrund die möglichen Auswirkungen auf den ganzen Nahen Osten und insbesondere auf Israel einzuschätzen?
Dan Diner: All diese Elemente, nationalistische, demokratische, säkulare oder muslimische, sind natürlich nur einzelne Tendenzen in einer komplexen Gemengelage. Ich denke, dass sich diese Dinge überhaupt erst sortieren müssen, bevor man mehr dazu sagen kann. Aber ich muss bei aller Skepsis sagen – und ich bin bei allem Optimismus weiterhin skeptisch, weil die Vorgänge von viel zu vielen Unwägbarkeiten bestimmt werden –, dass es doch so etwas wie eine kritische politische Masse gibt, auf die man setzen kann. Ich meine eine säkulare, institutionsgebundene, demokratisch orientierte kritische Masse, die sich mittels einer wohl verstandenen Volkssouveränität eine Institution gibt. Ich hoffe auch, dass nicht bei der kleinsten Schwierigkeit im Inneren das Ganze wieder nach außen gelenkt wird. Ein solcher Mechanismus der Ablenkung ist ja schon immer Teil des arabisch-israelischen Konfliktes gewesen. Es gibt einerseits eine reale Palästinafrage, da gibt es gar keine Zweifel; aber es gibt andererseits auch die projektiven Elemente, die natürlich erst recht abnehmen würden, wenn diese Frage als solche endlich gelöst würde. Das Eine hängt mit dem Anderen zusammen. Aber wenn es sein Ende damit hätte, innere Probleme nach außen zu delegieren, dann wäre dies ein erfreulicher Wandel. Es ist das Schöne an der ägyptischen Revolution, so nenne ich sie mal, dass sie nach innen gerichtet war und die Probleme im eigenen Land identifiziert wurden statt im Kolonialismus, Zionismus und Imperialismus oder was man dafür hält. Wenn sich die Einheit der Opposition entmischen und politische Auseinandersetzungen im Inneren stattfinden, wissen wir nicht, welche Elemente der Legitimation zur Bestärkung des eigenen Standpunktes herangezogen werden. Das ist alles zwar noch offen. Aber heute würde ich mich so dazu äußern.
Phase 2: Wir würden jetzt gerne den Fokus verschieben, den Blick gen Westen richten und mit Ihnen über die Rolle des Islam in Europa sprechen. Wie schätzen sie dessen Bedeutung im europäischen Kontext insgesamt ein?
Dan Diner: Vorab möchte ich anmerken, dass ich denke, dass es sehr wichtig ist, die beiden Diskursebenen voneinander zu trennen. Die gegenwärtigen Ereignisse im Vorderen Orient und die Frage des Islam in Europa müssen gesondert betrachtet werden. Natürlich hängen beide Ebenen auch miteinander zusammen, aber es sind andere Fragen, die sich stellen. Dort stellen sich gesellschaftliche und politische Fragen, hier stellen sich im wesentlichen Fragen der Neukonstitution des öffentlichen Raums. Sagen wir, seit Habermas` Diagnose eines Strukturwandels der Öffentlichkeit, die ja sehr stark funktional gehalten war, stellt sich die Frage nach einem solchen Wandel, übrigens überall in Europa, erstmals in einer so konkreten Form.
In jedem Land in Europa gibt es ein Element der Präsenz religiöser oder quasireligiöser Symboliken im öffentlichen Raum. Damit kommt der Frage der Konfessionalität bei allem Rückgang der religiösen Bekenntnisse größte Bedeutung zu. Und sie stellt sich in jedem Land anders, weil die Traditionen unterschiedlich sind. Wenn ich das schon als eine Frage der konfessionellen Präsenz bezeichne, so fallen mir das Buch [Die Panikmacher: Die deutsche Angst vor dem Islam, München 2011; Anm. d. Red.] und die Artikel von Patrick Bahners als Indikator ein. Wenn man Bahners liest, stellt man fest, dass eigentlich alles, was er im Sinne des Islams formuliert, auf eine katholische Einstellung wie zu Zeiten des Kulturkampfes zurückgeht, als der deutsche Katholizismus sich eine ultramontane Loyalität dem Papst gegenüber hat vorhalten lassen müssen - und das in einem Land, das mit der Reichsgründung erst recht im Zeichen einer lebensweltlichen protestantischen Hegemonie stand. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, und ob das Folgen hat oder ohne Bedeutung ist, kann ich nicht beurteilen. Ich will nur sagen, dass es so etwas wie einen untergründigen Konfessionalismus in Deutschland gibt, der durch die Präsenz des Islam unter Umständen öffentlich wird. Aber das ist natürlich eine Spekulation des Historikers. Jedenfalls wurden viele Fragen der Präsenz von religiöser Symbolik im öffentlichen Raum, die vom ausgehenden 19. bis in die Gegenwart hinein wirken, im Diskurs neutralisiert und ausgespart. Vor allem in Europa hat man sie ausgespart, während sie in Amerika ganz andere und selbstverständliche Formen annehmen.
Phase 2: Sie sprachen kürzlich bei einer Podiumsdiskussion mit Tariq Ramadan in Berlin vom Islam »als unserer eigenen Frage als Gestalt«. Was meinen sie mit dieser Formulierung? Welche Bedeutung kommt einer Haltung wie der Ramadans zu, die ja sehr affirmativ ist und die Rolle des Islams im europäischen Kontext stark macht?
Dan Diner: Mit der »Frage als Gestalt« ist gemeint, dass man sich in unseren Breiten noch einmal neu den politischen und institutionellen Ursprungsfragen unserer politischen Theorien widmen muss, sie noch einmal zu überdenken hat. Nehmen Sie mein Lieblingsbeispiel aus Thomas Hobbes' Leviathan: Was bedeutet eigentlich die berühmte Sentenz »Auctoritas, non veritas facit legem« (Autorität, nicht Wahrheit schafft das Recht)? Es geht um die Neutralisierung der Wahrheit gegenüber der Autorität. Also eigentlich darum, dass die Konfessionen und mit ihnen die Wahrheit der Religion überhaupt außerhalb der politischen Ordnung gestellt werden. Aber diese Neutralisierung erfolgte auf der Grundlage des christlichen Glaubens. Säkularisierung ist hier immer die Säkularisierung der christlichen Form. Wie tief geht nun aber die christliche Symbolik in die institutionelle Begrifflichkeit ein? Es wird dadurch noch einmal die Frage aufgeworfen, inwieweit unsere politische Kultur, unsere politischen Institutionen wirklich universell sind. Und am Ende wird man wahrscheinlich im Großen und Ganzen dazu kommen, dass sie universell sind. Sie haben zwar eine christliche Form, sind aber nichtsdestotrotz universell in dem Sinne, dass sie für alle Menschen gelten können. Am Ende werden auch die Chinesen Institutionen, Gewaltenteilung, Menschenrechte und Volkssouveränität zu den ihren machen. Aber in welcher Form sich das dann niederschlägt, dafür ist ausschlaggebend, welcher Kanon säkularisiert worden ist. Ich neige dazu, anzunehmen, dass es im Westen eben der christliche Kanon ist, der säkularisiert wurde. An anderen Orten, wie in der arabischen oder islamischen Welt, müssen sie ihren eigenen Kanon säkularisieren.
Also eigentlich ist mit dem Satz »eigene Frage als Gestalt« gemeint, dass hier Fragen aufgerührt werden, von denen wir den Eindruck hatten, sie seien längst abgelegt. Es handelt sich dabei aber um einen Diskurs, der wahrscheinlich noch zehn, zwanzig, siebzig oder hundert Jahre andauern wird, weil es dabei um Probleme geht, die von einer ganz anderen Dauer sind. Das halte ich für den entscheidenden Punkt und den spannenden Diskurs und weniger das, was Ramadan auf dieser Veranstaltung gesagt hat. Faktisch hat er die ganze Frage nach der Präsenz von Muslimen im öffentlichen Raum als ein Problem der Xenophobie behandelt, also der Fremdenfeindlichkeit oder des Multikulturalismus. Das halte ich für eine eher oberflächliche Wahrnehmung. Ich denke, dass die anderen Fragen tiefer gehen und – damit komme ich zur punchline –, dass sich auch der Islam in unseren Breiten wird konfessionalisieren müssen. Das heißt, dass er seine eigene Verwandlung am eigenen Kanon wird vornehmen müssen. Das ist eigentlich die große Frage und die »Bringschuld« des Islam in unseren Breiten. Aber unsere »Schuld« ist die, unseren eigenen Kanon noch einmal zu durchforsten und auf seine Universalität hin zu überprüfen. Das war mit der von Ihnen zitierten Formulierung gemeint.
Phase 2: Wir sind uns unsicher, ob es in allen Ländern lediglich um eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes geht. Wenn man sich die Debatte in Deutschland anschaut, stellt man fest, dass in Bezug auf die Kopftuch-Debatte diese Fragen eine Rolle spielen. Aber bei der Sarrazin-Debatte beispielsweise steht eigentlich etwas anderes im Zentrum. Marxistisch gesprochen geht es dabei in erster Linie um Fragen der Produktion und der Produktivität. Wie schätzen sie diese Auseinandersetzung ein?
Dan Diner: Ich glaube, dass die Integrationsfrage vom eigentlichen Kern wegführt. Ich habe Sarrazin nicht gelesen, aber seine Anwendung der sozialen Frage ist für dieses Thema nicht angemessen. Natürlich kann man mit Zahlen kommen oder mit Gegenzahlen aufwarten, aber ich denke, dass die wahre Produktivität in unserer Gesellschaft sowieso in anderen Bereichen erzeugt wird. Hier wird das Problem der sozialen Wohlfahrt, also der Verteilung von Mitteln an einem Teil der Bevölkerung, der als nicht besonders produktiv gilt – und das betrifft Muslime, wie Nicht-Muslime – ausgespielt. Ich weiß nicht, ob man, außer aus kulturalistischen Gründen, einen Gegensatz konstruieren kann zwischen einem Hartz IV-Empfänger und einem aus dem Ausland kommenden Einwanderer, der sofort zum Sozialamt geht und nicht an die Werkbank strebt. Im Diskurs scheint zumindest so ein Gegensatz etabliert zu werden. Es gibt genügend Beispiele für ein solches Ressentiment, ich erinnere an Oskar Lafontaine mit seinen Fremdarbeitern usw. Aber ich bezweifle, dass dieses Ressentiment selbst aus dem Bereich der Produktion herrührt. Ich denke, dass es viel eher aus dem Bereich der Lebenswelt kommt und es dabei um so banale Dinge geht wie wo man wohnt usw.
Phase 2: Um das Ressentiment gegenüber Muslimen, das sie eben angesprochen haben, wird aktuell viel gestritten. Die einen sehen darin ein eigenständiges, neues Phänomen, das mit dem Begriff der »Islamophobie« belegt wird und dem sie gar strukturelle Ähnlichkeiten zum Antisemitismus attestieren. Die Anderen greifen diesen Begriff als relativistischen, kulturalistischen »Kampfbegriff« an und interpretieren besagtes Ressentiment als gegenwärtige Form eines ordinären Rassismus oder herkömmlicher Xenophobie. Welche Bedeutung würden Sie dem Phänomen geben? Muss man von einer spezifischen Form eines gegen Muslime oder den Islam gerichteten Ressentiments sprechen?
Dan Diner: Ich würde sagen, dass das Problem einer ressentimentgeladenen Haltung Muslimen gegenüber eine hoch aggregierte Form der Xenophobie ist. Es handelt sich dabei sicher nicht um bloße, herkömmliche Fremdenfeindlichkeit, es steckt mehr dahinter. Es ist aber auch kein Antisemitismus und nicht mit der Essenz des Antisemitismus zu vergleichen. In Bezug auf Muslime entwickelt sich die Feindseligkeit dem Sichtbaren gegenüber, beim Antisemitismus dem Unsichtbaren gegenüber. Ich bin immer noch der Meinung, dass der Kern des Antisemitismus die Vorstellung der Verschwörung ist und er im Wesentlichen eine Form der Bebilderung des unverstandenen Abstrakten der modernen Gesellschaft bedeutet. Dagegen ist Fremdenfeindlichkeit etwas sehr Konkretes, sie nimmt fast schon eine hyperkonkrete Form an. Beide, die Feindschaft gegenüber Muslimen und der Antisemitismus haben Überlappungen und zwar gerade im Bereich der Xenophobie. Wenn man früher von Juden mit Schläfenlocken und so weiter sprach, dann enthielt dieses Ressentiment natürlich ein überaus starkes xenophobes Moment. Der wirkliche Antisemitismus hat sich aber nicht in erster Linie gegen solche Juden gerichtet, er war allenfalls ein Epiphänomen, sondern gegen die unsichtbaren Juden, die man natürlich als Mächtige und im Verborgenen Wirkende imaginiert hat. Ich weiß nicht genau, ob das Wort Islamophobie auf Feindseligkeiten gegenüber Muslimen passt, denn es klingt nach einer totalen, geschlossenen Weltanschauung, von der ich nicht sicher bin, ob das hier zutrifft. Auf jeden Fall bildet auch sie ihre eigene Rhetorik und Semantik aus und hat, wenn man sie mit Feindseligkeit gegenüber Juden vergleicht, mit dieser wie gesagt Überschneidungen im Bereich des Xenophoben. Aber die Beiden unterscheiden sich doch im Kernbestand.
Phase 2: Herr Diner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.