Eine Bewegung für Globalisierung

Interview mit Michael Hardt

Mit "Empire" haben Michael Hardt und Antonio Negri zwischen dem Golfkrieg und dem Krieg gegen Jugoslawien um das Kosovo ein Buch über die sich verändernde globale Ordnung geschrieben. Ihre Analyse geht einerseits davon aus, dass neue übernationale Institutionen entstehen, die weder nach den klassischen Prinzipien des Imperialismus noch der kapitalistischen Ausbreitung erklärt werden können. Zum anderen beschäftigen sie sich mit jenen von ihnen als Multitude (Menge) beschriebenen Subjekten, die als Kraft der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft wirken und damit auch Subjekte von Widerstand und Veränderung sind. Phase 2 sprach mit Michael Hardt über seine Einschätzung der Antiglobalisierungsproteste und ihres Potentials.
 

Fanden Sie in den Anti-Gipfel-Protesten von Seattle bis Prag und von Göteborg bis Genua kritische Aspekte, die Ihre theoretische Sicht auf die Entwicklung eines "Empires" und des Widerstands gegen den Kapitalismus stützten oder veränderten?

Als wir Empire schrieben, stellten wir fest, dass viele der aktuellen sozialen Bewegungen (Chiapas, die Riots in Los Angeles usw.) nicht zu einer Reihe von Kämpfen geführt hatten. Anders ausgedrückt, diese Kämpfe wurden nicht in verschiedenen Kontexten und an verschiedenen Orten aufgenommen. Seitdem haben die Bewegungen von Seattle bis Genua um Themen der Globalisierung begonnen, eine Reihe zu bilden und entwickeln eine neue, gemeinsame Sprache. Das ist eine sehr interessante und aufregende Entwicklung.
Eine große Beschränkung dieser neuen Reihe ist allerdings, dass sie bisher auf Europa und Nordamerika begrenzt ist. Die Reihe über diese Grenzen auszuweiten, wird eine wichtige Aufgabe sein.

 

Teil der Proteste sind Gruppen, die soziale Reformen, einen kontrollierten Kapitalismus, Besteuerung von Aktienmärkten usw. fordern. Diese Gruppen sind die am besten organisierten, stehen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und stellen auch die größte Masse der Protestierenden. Sehen sie unabhängig von dieser augenblicklichen Situation innerhalb der Proteste Möglichkeiten für eine radikale Kritik und eine linksradikale Bewegung?

Meiner Meinung nach gibt es auf dieser Stufe der Bewegungen keinen Grund, dass die Forderungen nach sozialen Reformen und eine radikalere Perspektive nicht zusammen wirken können. In unserer gegenwärtigen Situation sehe ich sie als sich ergänzend.
 

Sie beschreiben sich selbst als Kommunist. Trotzdem taucht - sogar in Ihrem Buch - die Frage auf, ob Ihre Position nicht in Wirklichkeit anarchistisch ist. Der Unterschied scheint in den Formen der Organisierung zu liegen. Nachdem die großen Gewerkschaften und kommunistischen Parteien zum Teil des regulierenden Systems wurden und deshalb nicht länger in der Lage sind, ein Ort radikalen Widerstands zu sein, müssen wir nach den organisierenden Momenten in den Protestbewegungen fragen. Glauben Sie, dass es ein vereinheitlichendes Moment in dieser zusammengewürfelten Bewegung geben wird, oder werden die Kräfte der Sozialreform und des politischen Kompromisses die Früchte der Militanz ernten?

Auch in dieser Frage denke ich nicht, dass es heute die Notwendigkeit gibt, die Unterschiede stark zu betonen. Einerseits teilt unsere Argumentation sicherlich wichtige Merkmale mit einer bestimmten Strömung anarchistischen Denkens (die Ablehnung von Autorität, die Forderung nach absoluter Demokratie usw.). Wenn ihr das eher als anarchistisches denn als kommunistisches Argument versteht, habe ich persönlich kein Problem damit.
Andererseits haben in den verschiedenen Bewegungen AnarchistInnen, SozialistInnen, KommunistInnen und Andere bisher ohne große ideologische Schwierigkeiten zusammengearbeitet. Es mag in der Zukunft die Notwendigkeit geben, diese ideologischen Unterschiede aufzugreifen, aber bis jetzt ist diese Notwendigkeit nicht aufgetaucht.
Die Antiglobalisierungsproteste sind öffentliche Ereignisse. Sie werden im Fernsehen der ganzen Welt übertragen und finden in einem klassischen öffentlichen Raum statt. Ihrer Analyse folgend ist dieser öffentliche Raum Teil einer untergehenden Ordnung. Sind also die Proteste die letzten Erscheinungen einer verschwindenden Öffentlichkeit, die von perfektionierter Kontrolle zerstört wird? Oder können wir die ersten Anzeichen einer Wiederaneignung des öffentlichen und politischen Bereiches durch die protestierenden Gruppen wahrnehmen?
Ich finde eure Idee der Wiederaneignung des öffentlichen Bereiches wirklich attraktiv, aber wir sollten auf die Arten achten, wie die Mainstreammedien die Proteste - zumindest bis zu einem gewissen Grad - kontrollieren und verzerren. Zum Beispiel scheinen mir die Medien, die Frage der Anwendung von Gewalt, womit ich hauptsächlich die Zerstörung von Eigentum und Konfrontationen mit der Polizei meine, zu verkomplizieren. Die Medien bevorzugen solche Gewalt. Wenn es keinerlei derartige Gewalt gibt, wird es auch nur ein Minimum an Berichterstattung durch Mainstreammedien geben. Wenn es aber derartige Gewalt gibt, dann ist das alles, worüber Mainstreammedien berichten. Das beeinflusst nicht nur die Wahrnehmung der Bewegungen durch Andere, sondern auch die Zusammensetzung der Bewegungen selbst. Ähnliche Bewegungen hatten immer mit der Gewaltfrage zu kämpfen. Was ich sagen will, ist einfach, dass die Medien diese Frage überbetonen und es schwieriger machen, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Ich selbst würde gegen die Anwendung von Gewalt durch Protestierende reden, weil ich glaube, dass sie heute falsche Spaltungen innerhalb der Bewegungen erzeugt. Aber das ist eine langwierige Diskussion, die kollektiv geführt werden muss.

 

Die Antiglobalisierungsproteste werden medial zu einer Bewegung. Jenseits der großen Gipfel ist diese Bewegung aber kaum zu entdecken. Ihre Analyse sucht die produktiven Kräfte der abhängigen Individuen in der kapitalistischen Ordnung. Sie schließen aus der Produktivität aller, die arbeiten müssen, um zu überleben, auf das Potential zu Widerstand und ontologischen (d.h. fundamentalen materiellen) Veränderungen. Die beschriebene Bewegung scheint, sich von dieser, Ihrer Theorie einer Multitude zu unterscheiden. Weder die von Ihnen vorgeschlagenen politischen Ziele (Freizügigkeit der Bewegung/globaler Bürgerschaftsstatus; ein garantiertes Einkommen für alle; Kontrolle/Wiederaneignung von Wissen, Information und Kommunikation) noch ein ontologisches Projekt oder eine kollektive Praxis bestimmen die Ereignisse. Statt dessen scheint es, nur ein geteiltes moralisches Gefühl gegen die "Mächtigen der Welt" und ihre Ungerechtigkeit (von getöteten Seeschildkröten bis zu den Schulden der ehemals kolonialisierten Länder) zu geben.
Gibt es bisher auch Erfolge, und was sind die Aussichten der Proteste und einer entstehenden Bewegung?

Nach meiner Einschätzung haben die Bewegungen ihre Anfangsphase abgeschlossen und müssen transformiert und radikalisiert werden, um eine Fortsetzung zu finden. Protest allein kann nicht weiter gehen. Statt dessen müssen die Bewegungen konstituierend werden. Mit anderen Worten: Bis jetzt haben die Bewegungen in erster Linie gegen die heutigen Formen der Globalisierung protestiert - die Ungleichheiten, das Leiden und den Niedergang der Umwelt, die aus ihnen folgen. Was jetzt nötig ist, ist die Fähigkeit zu entwickeln, neue Formen der Globalisierung vorzuschlagen. Eine alternative Globalisierung, die auf den Werten der Bewegung beruht. Ich habe kein Rezept, wie dies geschehen kann, aber es scheint mir klar zu sein, dass eine solche Transformation nötig ist.
 

Glauben Sie, dass die Anschläge auf die Symbole des imperialen Amerikanismus (das World Trade Centre als Symbol globaler ökonomischer Macht und das Pentagon als Symbol der militärischen Macht, die in der Lage ist, in der gesamten Welt eine Polizeifunktion zu erfüllen) den Gründungsprozess von Institutionen beschleunigen werden, die die internationale juristische Ordnung ersetzen? Und wird im selben Augenblick die moralische Solidarität mit den Opfern der Anschläge, die sich von Anfang an in eine Solidarität mit "Empire" (d.h. der westlichen Welt und ihren zivilisatorischen Standards für den Kapitalismus) übersetzte, die Antiglobalisierungsbewegung schwächen?

Die Tragödie könnte, wie ihr annehmt, die Errichtung einer supranationalen imperialen Ordnung beschleunigen. Die Unangemessenheit der Antworten, die im Rahmen nationaler Souveränität erfolgen, ist ganz offensichtlich.Das Ereignis hat die Globalisierungsbewegung zumindest vorübergehend durch die einfachen Formen der Repression geschwächt. Zumindest in den USA werden alle Formen sozialer Kritik unterdrückt. Aber das mag nur kurze Zeit andauern.Ich glaube, das Ereignis macht die Notwendigkeit nur noch deutlicher, das vorrangige Ziel der Bewegungen, also die Globalisierung von Demokratie, Gleichheit und Freiheit, zu verwirklichen.

Phase 2 Leipzig