Der folgende Text soll die These, dass die deutsche Europapolitik seit ca. 150 Jahren eine Kontinuität aufweist, die bis heute sowohl durch ihre wirtschaftliche als auch völkisch-geopolitische Motivation bestimmt ist, belegen. Die ökonomischen und völkischen Momente sind dabei nicht als sich ausschließender Gegensatz zu begreifen, vielmehr bedingen sie sich gegenseitig, erlangen allerdings im Lauf der Geschichte unterschiedliches Gewicht.
Der erste Weltkrieg
Vor dem Ersten Weltkrieg reiften in Deutschland in Kreisen der Großindustrie und Politik erste Überlegungen bezüglich der Schaffung eines europäischen Großwirtschaftsraumes. So kam es z.B. 1904 zur Gründung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereines, der sich das Eintreten für eine europäische Zollunion auf die Fahnen schrieb. Die VertreterInnen der modernen Industrien, die sich ökonomisch überlegen oder zumindest konkurrenzfähig wähnten, vertraten dabei die moderate Linie: »Friedliche« wirtschaftliche Durchdringung des zu erobernden Raumes. Für die angeschlagene Schwerindustrie kam eine wirtschaftsliberale Strategie nicht in Frage, da es ihren Untergang bedeutet hätte. Dementsprechend organisierten sich deren VertreterInnen eher im völkischen Alldeutschen Verband und setzten auf die militärische Unterwerfung fremder Gebiete.(2)
Der auch zur Durchsetzung dieser Ziele von deutscher Seite angezettelte Erste Weltkrieg beflügelte die deutsch-europäischen Phantasien. Alle waren sich einig, dass der Krieg eine günstige Gelegenheit zur Erfüllung der Träume vom »deutschen Platz an der Sonne« sei – und wenn es auch nur die osteuropäische Sonne sein sollte. Ein von Deutschland besetztes Osteuropa wurde als gerechter Ausgleich für die fehlenden Kolonien begriffen. Schon lange war in Deutschland klar, welche Rolle Osteuropa in diesem Szenario zu spielen hatte: Lieferant für Rohstoffe und Agrarprodukte sowie Absatzmarkt für deutsche Produkte – eine eigenständige Industrialisierung in Osteuropa musste deswegen um jeden Preis verhindert werden. Und je nach Gesinnung kam noch hinzu, dass Osteuropa als zu zivilisierendes Hinterland oder germanisches Siedlungsgebiet angesehen wurde – oder eben beides.
Der Alldeutsche Verband entwarf in seiner »Kriegszieldenkschrift« von 1914 schon ein klares Konzept, wie mit den zu erobernden Ostgebieten zu verfahren sei: »Ganz gewiß ist dabei nicht an sofortige Verleihung aller preußischen, staatlichen und staatsbürgerlichen Rechte an Land und Leute zu denken. Es wird vielmehr eine Zwischenzeit von vorerst unbestimmter Ausdehnung einzutreten haben, innerhalb deren das neue Gebiet ganz allmählich zu einem vollberechtigten Teile Preußen hinaufgestaltet wird, entsprechend dem Maße seiner inneren Festigung, des Wachstums seiner deutschen Besiedlung, kurz, seiner wirklichen inneren Verwachsung und Verschmelzung mit Preußen-Deutschland.«(3)
Bei der Eroberung osteuropäischer Gebiete wurde erstmals die völkische Minderheitenpolitik gegen fremde Staaten in Stellung gebracht, d.h. vermeintlich oder real unterdrückte Minderheiten wurden mit völkischer Menschenrechtspropaganda gegen die verfeindeten Staaten aufgehetzt. Deutschland führte sich als Schutzmacht für die Minderheiten auf, um die betroffenen Staaten besser destabilisieren zu können.
Weimarer Grundlagen
Nach dem Scheitern der militärischen Eroberung eines deutsch-europäischen Großwirtschaftsraumes im Ersten Weltkrieg setzte die geheime staatliche Volksgruppenpolitik zur Revision des Versailler Vertrages ein. Heimlich finanziert von deutschen Behörden wurden Grundeigentum und Betriebe im Ausland aufgekauft, um das deutsche Gewicht in den jeweiligen Ländern mit deutscher Minderheit zu stärken. Parallel dazu entstanden diverse Osteuropa-Institute und ähnliche Institutionen, die einen Anspruch auf die »Ostgebiete« wissenschaftlich und ideologisch untermauern sollten.
Außenminister Stresemann formulierte in einer Denkschrift aus dem Jahr 1925, dass der Minderheitenschutz zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Sinne deutscher Interessen zu propagieren sei. So wurde im gleichen Jahr von deutscher Seite der Europäische Nationalitätenkongreß in Konkurrenz zum Völkerbund (Vorläufer der UNO) einberufen, in dem nicht die souveränen Staaten vertreten waren, sondern versucht werden sollte, mit Hilfe der verschiedenen Völker und Minderheiten die Souveränität der Staaten zu untergraben.(4)
Nationalsozialistischer Kernraum
Mit der Machtübernahme der Nazis gewannen Konzepte militärischer Eroberung Oberhand über die Versuche der völkischen Geheimdiplomatie, der »friedlichen« europäischen Einigung und wirtschaftlichen Durchdringung. Diese Modelle wurden jedoch nach 1933 nicht sofort obsolet. So versuchten die Nazis 1934 Minderheiten in der Sowjetunion für deutsche Interessen einzuspannen: Sie sollten Volksgruppenrechte und autonome Gebiete, und zwar solche mit vielen Bodenschätzen, einfordern. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurden getreu der Nazi-Parole »Europa den Europäern« Institutionen und Behörden für eine europäische Großraumwirtschaft geschaffen. Ähnlich den Plänen aus dem Ersten Weltkrieg erklärte sich das Dritte Reich aufgrund seiner geographischen Lage und seiner völkischen Überlegenheit für Europa »verantwortlich«: westeuropäische Industriestaaten sollten auf Dauer abhängig gemacht werden, die osteuropäischen Länder hingegen zu Agrar- und Siedlerstaaten umgebaut werden.
Werner Daitz (Mitglied der Reichsleitung) brachte in seiner Denkschrift für die Errichtung eines Reichskommisariats für Großraumwirtschaft (Mai 1940) die Europa-Konzepte auf den Punkt: »Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärke des europäischen Kontinents als Kernraum der weißen Rasse unbedingt erforderlich ist und eintreten wird, so dürfen wir aus verständlichen Gründen diese nicht als eine deutsche Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst und aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage.«(5)
1945–1989 – Ambivalenzen
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der außenpolitische Spielraum der BRD aufgrund der verordneten Westorientierung im Kalten Krieg gering. Die Europäische Union wurde in den fünfziger Jahren als reines Wirtschaftsprojekt der »kerneuropäischen Staaten« gegründet. Die Besatzungspolitik und Westbindung (EU, Nato) zeitigten ambivalente Folgen: Einerseits verbreiteten sich westliche Wertvorstellungen und Politikmodelle – teils nur erduldet, teils auch wirklich verinnerlicht. Anderseits bedeutete diese »Normalisierung«, dass die BRD sich wieder langsam zur Weltmacht emporarbeiten durfte. Das sogenannte Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre, die erste Voraussetzung für die wiedererlangte Weltgeltung, war allerdings in erster Linie noch eine direkte Nachwirkung des Dritten Reiches: Die »Arisierungen«, die massive Industrialisierung durch die staatlich gelenkte Kriegswirtschaft, die Ausplünderung der europäischen Länder sowie die fehlenden Reparationszahlungen und die wirtschaftliche Hilfe seitens der USA ließen die Deutschen als die eigentlichen Gewinner aus dem Krieg hervorgehen. Schon zu Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre hatte die BRD die wichtigsten westlichen Handelspartner der osteuropäischen Länder, nämlich die USA und Frankreich, auf hintere Plätze verwiesen. Die deutsche Wirtschaft rangierte schon zwei Jahrzehnte nach 1945 an zweiter Stelle (nach der Sowjetunion), was den Außenhandel mit allen osteuropäischen Ländern betraf.
Innenpolitisch waren restaurative und revanchistische Tendenzen an der Tagesordnung und in allen gesellschaftlichen Bereichen faschistische Kontinuitäten zu beobachten. Völkische Bestrebungen beschränkten sich jedoch zwangsläufig auf die Aktivitäten der Vertriebenenverbände und ähnlicher Organisationen, die innenpolitisch einflussreich waren, aber außenpolitisch kaum zum Zuge kamen.
Nach 1989
Der aktiv betriebene Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung sollten auf dem Weg zur Verwirklichung deutscher Großmachtambitionen nur eine Zwischenetappe darstellen. So verkündete der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl kurz nach der Wiedervereinigung die weiteren Ziele: »Wir Deutschen sind höchst interessiert, den Prozeß der europäischen Einigung voranzutreiben [...] denn jetzt sind wir die Nummer 1 in Europa.«(6)
Die deutsche Großmachtpolitik in und mit Europa ruht auf vier Säulen, die alle mehr oder weniger miteinander verknüpft sind:
1. politische Dominanz – Deutschland setzt als bevölkerungsreichstes Land auf die demographische Demokratie(7), d.h. versucht entsprechend dem Bevölkerungsanteil der einzelnen Länder die Mitspracherechte festzulegen. Die bisherigen Regelungen – u.a.: alle Länder haben gleiche Mitspracherechte und es wird einstimmig entschieden – wurden auf Betreiben von Deutschland bereits abgeschafft bzw. sollen in Zukunft immer weiter aufgeweicht werden. So plädiert Schröder für die Stärkung des Europaparlaments, in dem Deutschland schon die Mehrheit hat, wenn es sich kleine, gefügige Staaten mit ins Boot holt.
2. Militärmacht(8) – Die deutschen Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 definierten erstmals nach 1945 offiziell die außenpolitischen Interessen als imperiale. Dementsprechend wurde seit 1989 die Bundeswehr sukzessiv von der Verteidigungs- zur weltweit agierenden Angriffsarmee umgebaut. Perspektivisch wird im europäischen Rahmen der Gleichstand mit und die Unabhängigkeit von den USA angestrebt. Die geplante europäische Armee ist mit den 18.000 deutschen SoldatInnen eigentlich eine deutsche Armee, die lediglich von anderen Staaten unterstützt wird.
3. wirtschaftliche Dominanz – Die BRD erwirtschaftet 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts der EU und damit mehr als Frankreich und Großbritannien zusammen. Deutschland zahlt nicht nur am meisten in die EU-Fördertöpfe ein und maßt sich deswegen auch das größte Mitspracherecht an, sondern alle europäischen Länder, bis auf Irland, sind wirtschaftlich mehr von Deutschland abhängig als von jedem anderen Land.
4. völkische Minderheitenpolitik – Weil sich innerhalb der EU trotz der beschriebenen Mechanismen doch nicht alles sofort im deutschen Interesse umsetzen lässt, prescht Deutschland (zum Teil im Verbund mit anderen »kerneuropäischen« Staaten) regelmäßig in wichtigen Fragen (Außen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Asylpolitik) vor und brüskiert alle anderen Staaten, denen damit zum einen zu verstehen gegeben wird, dass sie nicht so richtig dazugehören, die aber andererseits gar nicht anders können, als die vorweggenommen Entscheidungen früher oder später auch bei sich nachzuvollziehen. Das Kerneuropa-Papier der CSU aus dem 1994 formuliert es klar: Deutsche Interessen lassen sich nur im Rahmen Europa durchsetzen. Als deutsche Interessen definierte das Papier damals die EU-Osterweiterung, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine deutsch-französische Achse als Zentrum von Kerneuropa und die Subsidarität, d.h. die Regionalisierung – was nur ein moderner Begriff für die alte Volkstumspolitik ist.(9) Um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen, wird angedroht, dass, falls die anderen Staaten nicht die deutschen Vorstellungen von der EU-Osterweiterung teilen sollten, »Deutschland [...] aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein [könnte], die Stabilisierung des östlichen Europas alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.«(10) Diese Drohung wurde von Joschka Fischer in seiner Aktualisierung des Kerneuropa-Konzepts im Mai 2000 wiederholt, indem er den Austritt aus der EU für den Fall, dass die anderen Staaten nicht mit der deutschen Entwicklung Schritt halten, ankündigte.(11)
Minderheitenpolitik – ein überholtes deutsches Konzept?(12)
Die BRD erklärte sich 1990 nur zur Anerkennung der deutschen Ostgrenze bereit, weil sich Polen im Gegenzug vertraglich verpflichtete, die deutsche Minderheit in Polen zu schützen und keine Reparationsleistungen für die nationalsozialistische Besatzung einzufordern. Im folgenden Jahr schloss Deutschland ein Freundschaftsvertrag mit Polen ab, der, was die Minderheitenrechte betraf, weit über die ursprünglichen Forderungen des Bundes der Vertriebenen (BdV) hinausging. In dem Vertrag – der später mit fast gleichlautenden Passagen allen osteuropäischen Ländern mit deutscher Minderheit aufgenötigt wurde – wurde nicht nur der Schutz, sondern sogar die Förderung und Bestandssicherung der deutschen Minderheit festgeschrieben.
Die Konstruktion einer deutscher Minderheit nach 1989 basiert auf einem nationalsozialistischem Relikt, nämlich dem Staatsangehörigkeitsrecht. Im Jahr 1989 lebte nämlich in Polen gar keine deutsche Minderheit mehr. Diejenigen Deutschen, die nach 1945 in Polen bleiben durften, weil sie nicht mit den Nationalsozialisten kollaboriert hatten, genossen bis in die fünfziger Jahre in Polen weitgehende Autonomierechte – wanderten dann aber aufgrund wirtschaftlicher Gründe in die BRD aus. Wenn Vertriebenenverbände oder deutsche Behörden von einer deutschen Minderheit in Polen sprechen, dann beziehen sie sich auf PolInnen, die im Dritten Reich zwangsgermanisiert wurden. Nach 1945 erhielten diese Menschen natürliche wieder ihre polnische Staatsbürgerschaft zurück und begriffen sich auch als polnische StaatsbürgerInnen. Diese Menschen galten allerdings nach deutschem Recht ununterbrochen als Deutsche, weil das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht sich auf den Stand von 1943/44 bezieht.
Nach 1989 bemühten sich der BdV, deutsche Behörden und Vereine in Polen, der vermeintlichen deutschen Minderheit ihr »Deutschtum« bewußt zu machen und von den Vorteilen eines entsprechenden Bekenntnisses zu überzeugen. Inzwischen gibt es ca. 500.000 »Deutsche« in Polen – weniger aus einer nationalen Überzeugung heraus, mehr aus wirtschaftlichen Gründen: Mit ihrem deutschen Pass können sie jederzeit in Deutschland arbeiten, aber selbst in Polen erhalten sie massive finanzielle Unterstützung von deutscher Seite.
Die deutsche Minderheit hat einen hohen Organisierungsgrad und die meisten verfügen über einen deutschen Paß. Sie sind zu einem wichtigen innenpolitischen Faktor Polens geworden, mit deren Hilfe Deutschland außenpolitische Vorstellungen durchdrücken kann.
Zur Durchsetzung eigener Interessen wird sich allerdings nicht nur deutscher Minderheiten bedient. Anfangs gab es bei den völkischen Organisationen nur einen taktischen Bezug auf Europa und Menschenrechte. So beschloß der BdV im Jahr 1965 den Jahrestag »20 Jahre Vertreibungen« unter dem Motto »Jahr der Menschenrechte« zu begehen. Als jedoch 1996 der damalige Bundespräsident Roman Herzog auf der Veranstaltung zum »Tag der Heimat« dafür plädierte, europäische Grenzen nicht zu verschieben, sondern abzubauen, rannte er offene Türen bei den Organisatoren, den Vertriebenenverbänden, ein, die schon viel weiter waren. Seit 1989 spielte die Verschiebung der Ostgrenze beim BdV keine Rolle mehr – wichtig wurde der, inzwischen ehrlich gemeinte, weil wirksamere Bezug auf europäisches Völkerrecht und Regionalismus.
Eine Vorreiterfunktion für diese Entwicklung spielte die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV), die, 1954 als Nazi-Nachfolgeorganisation gegründet, sich inzwischen zu einer Vorfeldorganisation des Auswärtigen Amtes gemausert hat. Schon in den achtziger Jahren interessierte sich die FUEV für die gleichen Minderheiten wie die deutsche Linke: Basken, Iren, Palästinenser, Berber, Kurden. DDR-Publikationen priesen deswegen die Nazi-Organisation als antiimperialistische Kraft an.(13)
Ziel dieser völkischen Minderheitenpolitik, die inhaltlich, institutionell und finanziell von deutschen Behörden unterstützt wird, ist die Destabilisierung und Schwächung der Nationalstaaten Westeuropas und die Zerschlagung der sogenannten »Vielvölkergefängnisse« in Osteuropa (Jugoslawien, CSSR, Sowjetunion) bis hin zur Einflussnahme in Israel und Nordafrika. Die FUEV hat 283 Volksgruppen in Europa entdeckt, die, wenn sie ihre »Rechte« einfordern würden, zum Zerfall aller Nationalstaaten beitragen könnten – lediglich Deutschland mit »seinen« deutschen Minderheiten in den meisten europäischen Ländern würde größer und stärker werden.
Analog zum Europäischen Nationalitätenkongress (1925) wurde 1996 im rot-grün regierten Schleswig-Holstein von staatlicher Seite das Europäische Zentrum für Minderheitenfragen (EZM) etabliert, welches sich der Erforschung und dem Schutz der europäischen Minderheiten sowie dem Konfliktmanagement bei ethnischen Auseinandersetzungen verschrieben hat. Das staatliche Zentrum und die völkische Vorfeldorganisation arbeiten Hand in Hand. Während das FUEV offen terroristische Gewalt gegen die Staatsgewalt propagiert, schlägt das EZM moderatere Töne an: Dort wird die Gewalt maximal erklärt und gerechtfertigt – um den »ethnischen« Konflikt dann unter eigener Obhut einer Lösung in deutschem Interesse zuführen zu können
Nach dem Zweiten Weltkrieg war auf internationaler Ebene klar, dass Minderheitenrechte lediglich als individuelle Rechte zu gewähren sind, d.h. dass ein Diskriminierungsverbot existieren muss, jedoch keine kollektiven Rechte daraus abgeleitet werden können. In der UNO ist das – mit geringen Abstrichen – noch bis heute so. In den europäischen Gremien (Europaparlament, KSZE/OSZE) findet seit 1989, vor allem auf deutsches Betreiben, eine Aufweichung dieser nicht-völkischen Position statt. Gegen den Willen der bürgerlichen Zentralstaaten war die Lobbyarbeit der deutschen NGO’s bei den europäischen Gremien (u.a. FUEV und BdV) und der deutschen PolitikerInnen erfolgreich: 1992 bzw. 1995 trat eine vom Europaparlament verabschiedete Charta für Regionalsprachen und -kulturen bzw. für ethnische Minderheiten in Kraft, in denen ebenfalls nicht nur der Schutz, sondern auch die Förderung der Minderheiten festgeschrieben wurde.
Deutschland kauft sich einen Kontinent(14)
Die weltpolitische Lage nach dem Ende des Realsozialismus erlaubte es der mächtigen EU, den osteuropäischen Ländern, die eine Alternative zum EU-Beitritt nicht sehen bzw. dies nicht wagen wollen, die Bedingungen für eben jenen zu diktieren. Die sogenannten Beitrittsverhandlungen sind keine Verhandlungen, sondern eine Anweisung, was in den einzelnen Ländern vor dem Beitritt zu geschehen hat. Da schreiben die europäischen Gremien vor, wie die Justiz aufgebaut werden muss; welche Verwaltungsreformen durchzuführen sind; dass eine genehme Asylpolitik zu etablieren und die Grenzüberwachung aufzubauen ist; dass das Geld dafür ja mit Hilfe des radikalen Sozialabbaus und der Privatisierung aller staatseigenen Betriebe zu erwirtschaften ist; dass Demokratie und Minderheitenrechte dabei jedoch nicht unter den Tisch fallen dürfen; mit welchen Ländern Handel getrieben werden darf (nicht mehr untereinander, nur mit der EU); dass eine für die EU günstige Finanz- und Zollpolitik (EU-Produkte dürfen zollfrei nach Osteuropa, die Gegenrichtung bleibt weiterhin mit Zöllen behaftet) zu verfolgen sei usw. – Tempo und Umfang dieser Entwicklung werden von der EU vorgegeben, wobei Deutschland die treibende Kraft ist, weil die anderen westeuropäischen Länder den Prozess eher skeptisch beobachten.
Nach dem EU-Beitritt hören die Schikanen gegen die osteuropäischen Länder nicht auf. So ist – wie schon in der Kriegszieldenkschrift des Alldeutschen Verbandes aus dem Jahre 1914 – nicht die sofortige Angleichung innerhalb der EU vorgesehen. Osteuropäische Arbeitskräfte genießen keine Niederlassungsfreiheit und die Agrarwirtschaft Osteuropas darf, solange sie eine Bedrohung für deutsche Bauern darstellt, nicht mehr als ein Viertel der Förderung erhalten, die westeuropäischen landwirtschaftlichen Betrieben zusteht. Wer sich in den »Verhandlungen«, die als Wettkampf inszeniert werden, nicht ans Regelwerk hält, wird mit politischer oder militärischer Gewalt diszipliniert (z.B. Rumänien, Slowakei, Jugoslawien).
Aber auch ohne die Beitrittsverhandlungen hat sich Deutschland inzwischen genug Einfluss in Osteuropa gesichert. Die jeweiligen Nationalökonomien sind fast vollständig in deutscher Hand (bis zu 80 Prozent) bzw. von ihr abhängig – aber auch für Deutschland selbst ist Osteuropa vor Frankreich und den USA zum wichtigsten Wirtschaftsraum geworden. Deutsche Vereine, Schulen, Universitäten, Stiftungen, Außenhandelskammern sollen ein deutsch-freundliches Klima in Osteuropa schaffen. Während viele Länder vor dem Euro-Zeitalter die DM als Leitwährung einführten, etablierte sich in anderen Deutsch als Dienstsprache in den Betrieben – auch ganz ohne deutsche Minderheit.
Frei von großdeutschen Ambitionen ist allerdings weder der deutsche, in Osteuropa agierende Mittelstand, der sich oft aus Vertriebenenveteranen rekrutiert, noch die deutschen, meist CSU-nahen Mediengiganten, die den osteuropäischen Zeitungsmarkt unter sich aufgeteilt haben und nun Propagandaarbeit im deutschen Sinne leisten.
Die europäischen Konflikte und Kriege, generell: die deutsche Europa-Politik, sind als Ordnungsversuche zu verstehen, die dem seit über 100 Jahren bestehenden Konzept der konzentrische Kreise um einen deutschen Großraum endlich zum Durchbruch verhelfen sollen.(15) Als historisches Vorbild dient der Deutsche Bund: Preußen war die Großmacht in der Mitte und schluckte 1871 »friedlich« seine Peripherie – so entstand das Deutsche Kaiserreich. Seit Ende des 19. Jahrhundert bis heute wird mit Verweis auf die geographische Lage in »Mitteleuropa« und der daraus erwachsenden Verantwortung, der sich Deutschland nicht entziehen könne, Großmachtpolitik betrieben. Eine Argumentationsfigur ist dabei, dass Deutschland einen Puffer gen Osten installieren müsse. Nur die Art der Bedrohung ist den historischen Konjunkturen unterworfen: Mal waren es die »barbarischen Russen«, dann ist es die kommunistische Bedrohung, heute sind es die Flüchtlingsströme aus dem Osten.(16)
Alles neu macht rot-grün?
Wie keine deutsche Regierung zuvor hat es die rot-grüne verstanden, eine postfaschistische Politik zu etablieren. Es wird weder direkt an die nationalsozialistische Politik angeknüpft, wie es vor allem in der Nachkriegszeit an der Tagesordnung war. Noch findet eine Verdrängung und Abkehr von der Geschichte sowie eine Zurückhaltung in außenpolitischen Fragen statt, eine Politik, für die die CDU-Regierungen bis 1989, eingeschränkt bis 1998 standen. Vielmehr vollzog sich mit den 68ern an der Macht die endgültige Transformation einer ehemals nationalsozialistischen Gesellschaft. Dies bedeutet allerdings keine Abkehr von faschistischer Ideologie und entsprechenden Politikformen, sondern teilweise deren Modernisierung und Integration.
Eckpunkte dieser Entwicklung sind der dritte Angriff auf Jugoslawien in einem Jahrhundert – Kohl wusste noch, dass der Einsatz der Bundeswehr in Ländern, in denen die Wehrmacht gewütet hatte, nicht opportun ist; Schröder und Fischer hingegen konnten gerade mit Verweis auf die deutsche Geschichte den Angriff legitimieren. Desweiteren wäre der Sieg der Vertriebenenideologie (fast) ohne Vertriebenenverbände zu nennen: Diesen Job erledigen Günther Grass und Jörg Friedrich mit ihren Büchern, die Grünen mit dem Vergleich des »eigenen« Vertriebenenleids mit dem der AlbanerInnen im Kosovo und die SPD-Politprominenz, die sich für ein Internationales Zentrum gegen Vertreibung in Berlin oder im Ausland einsetzen, viel besser. Die Vertriebenen werden aber nicht arbeitslos. Da sie nicht mehr als reaktionäre Querulanten gelten, für die sich Deutschland schämen muss, sind sie als nichtstaatliche Menschenrechtsabteilung des Staates anerkannt worden und leisten konkrete Vorortarbeit, die doppelt so hoch honoriert wird wie zu Zeiten der CDU.(17)
Auch innerhalb der EU werden moderatere Töne angeschlagen, um in der Sache härter durchgreifen zu können. Joschka Fischer sagt: »Je europäischer Deutschland seine Interessen definiert, desto mehr verwirklichen sich unsere Interessen«.(18) Und Gerhard Schröder sucht in europäischen Wirtschaftsfragen erstmals die offene Konfrontation mit Frankreich – um dann in Kriegsfragen mit Frankreich zusammen Amerika Paroli zu bieten. Die Deutschen sind begeistert und danken qua Friedensdemo und Zustimmung zum Sozialabbau, nur den Konservativen geht alles zu schnell.
Literatur:
Hannes Hofbauer, Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2003.
Walter von Goldendach/Hans Rüdiger Minow, Von Krieg zu Krieg. Die deutschen Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas, Berlin 1996.
Samuel Salzborn, Heimatrecht und Volkstumkampf: Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung, Hannover 2001.
Hunno Hochberger/Emil Hruska, Der deutsche Hegemonialanspruch: Gefahr für Mitteleuropa. Ein historisches Lesebuch, Schkeuditz 1998.
Bahamas 17/1995 (Schwerpunkt: Deutsche Osteuropa-Politik).
iz3w 210/1995 (Schwerpunkt: Deutsche Außenpolitik).
Fußnoten:
(1) Der Text ist die stark gekürzte Fassung eines Referats auf der Mobilisierungsveranstaltung (am 20. August 2003) für die bgr-Demonstration »Kein Frieden mit Deutschland. Gegen Geschichtsrevisionismus, Antiamerikanismus und deutsch-europäische Großmachtambitionen« am 1. September 2003 in Leipzig. Die ungekürzte Version kann unter www.nadir.org/bgr nachgelesen werden.
(2) Siehe dazu auch: Klaus Thörner, Konzentrische Kreise. Die Geschichte der deutschen Südosteuropapolitik, in: iz3w 253/2001, 10 ff.; Dieter Behrens, Rathenaus Erbe. Europa-Strategien des deutschen Kapitals, in: iz3w 210/1995.
(3) Zit. nach: Hochberger/Hruska, Der deutsche Hegemonialanspruch, 24. Siehe die Literaturauswahl auf Seite 53.
(4) Ausführlicher in: von Goldendach/Minow, Von Krieg zu Krieg, 17 ff.
(5) Zit. nach: Osterweiterung, 28.
(6) Zit nach: Von Krieg zu Krieg, 8.
(7) Ausführlich in: Jürgen Elsässer: Macbeth im Konvent, in: Risse 2/2002, 13-15.
(8) Zur aktuellen Entwicklung siehe: Thorsten Fuchshuber, Smart Investment. Frankreich und Deutschland forcieren die Entwicklung einer eigenen europäischen Militärpolitik, in: konkret 6/2003, 22–23; Tobias Pflüger, Das wichtigste Projekt EU-Europas. Die eigenständige militärische Interventionsfähigkeit, in: alaska 237/2001, 38–40.
(9) Siehe: Heimatrecht und Volkstumkampf, 149.
(10) Zit. nach: iz3w 210/1995, 14.
(11) Siehe dazu www.auswaertiges-amt.de, zit. in: Thomas Becker, Good Bye Euroland? Nach dem Krieg: Kerneuropa gegen Amerika, in: Bahamas 41/2003, 24.
(12) Alle folgenden Informationen wurden dem Buch »Heimatrecht und Volkstumkampf«, 156–177, 226–256 entnommen.
(13) Von Krieg zu Krieg, 57.
(14) Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das Buch »Osterweiterung«, 52 ff.
(15) Siehe dazu auch Konzentrische Kreise, 13.
(16) Siehe dazu auch Heiner Möller, Eine Laune der Geographie. Deutschlands »Schicksal« als Ordnungsmacht, in: iz3w 210/1995, 12–14.
(17) Siehe auch Klaus Thörner, Wo ist das Volk? Die Parteinahme für Volksgruppen ist eine beliebte Strategie, um deutsche Machtinteressen durchzusetzen, in: Jungle World 35/2002, 9.
(18) Zit. nach: Macbeth im Konvent, 14.
Mark Schneider
Der Autor ist Mitglied des BGR Leipzig