Ehepartner_in, Kind, Kleinfamilie – dies sind Dinge, die sich vor zehn Jahren in unserem gesellschaftskritischen Umfeld niemand zu wünschen schien. Jedenfalls praktizierte sie kaum jemand. Schließlich hatte sich dieses Umfeld, mehr oder weniger bewusst, genau in Abgrenzung gegen dieses Modell gebildet, das viele von zu Hause kannten, und gerade die weibliche Rolle darin als für sich unannehmbar ablehnten.
Doch was stattdessen? Arbeiten: lieber weniger als mehr, Beziehung: meistens doch irgendwie, doch ohne sich voneinander abhängig zu machen. Daneben: Uni, eventuell. Schreiben. Kunst. Musik. Gleichzeitig die Hoffnung, das falsche Ganze abschaffen zu können, in Zusammenhängen, die männlich dominiert waren und es letztendlich blieben. Mit vereinzelten Möglichkeiten, auch als Nicht-Mann mitspielen zu dürfen. Ein bisschen hier, ein bisschen dort. Manche mehr, die meisten weniger. Das falsche Ganze jedoch blieb.
Wie auch das scheinbar übermächtige und zentrale female role model: die Mutter. Ein role model, das die Bereitschaft zur Selbstaufgabe voraussetzt. Im Gegensatz zur männlichen Genealogie, bei welcher der Sohn aus der Ursprungsfamilie auf neuer Ebene an die Stelle des Vaters tritt und in dieser Bewegung Geschichte schreibt, wird die FrauDie in diesem Artikel geschilderten Erfahrungen beziehen sich auf Personen, die gesellschaftlich als weiße cis-Frauen angesprochen werden. An viele andere Personen, wie Trans*, Inter oder auch Schwarze Frauen werden andere, zusätzliche oder auch gegensätzliche Parameter angelegt, die dieser Text nicht behandelt. klassisch vom Vater als Teil der Mitgift an den Schwiegersohn gegeben. Als Hausfrau und Mutter regiert sie über das Reich des Privaten. Unverheiratet oder verwitwet, das waren traditionell die marginalen und kleinen Sphären der relativen Eigenständigkeit von Frauen.
Unverheiratet sind auch die Studentinnen in dem Film Mona Lisa Smile (2003), die an einer amerikanischen Elite-Universität mit bester intellektueller Ausbildung doch in der Hauptsache für die Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. »But you do not have to decide – you can do both«, tönt es fast höhnisch als utopischer Gegenentwurf von der durch Julia Roberts verkörperten Kunstgeschichte-Professorin Katherine Watson. In den meisten Fällen dieses „You can do both“ – dem Versuch der relativen persönlichen Entfaltung bei unangetasteten gesellschaftlichen Bedingungen – bleibt erfahrungsgemäß mindestens eins auf der Strecke, und meist die Protagonistin des scheinbar so selbstbestimmten und nicht-nur-von-Familienthemen-beherrschten Sowohl-als-auch-Mutterlebens. Selten die Männer als Väter, die sich traditionsgemäß ihre Eigenständigkeit bewahren, und das Familienerbe durch die von ihnen gezeugten Kinder fortsetzen.
»Frauen haben nicht die geringste Chance gehabt, Gedichte zu schreiben. Deshalb habe ich so viel Nachdruck auf Geld und ein Zimmer für sich allein gelegtVirginia Woolf, A room of one’s own, Hogarth Press 1929., so fasste es die britische Schriftstellerin Virgina Woolf 1928 (publiziert 1929) im Hinblick auf die Produktionsgeschichte der Frauen zusammen. »With men around, I can‘t concentrate on my art«, verdeutlicht die Protagonistin des Netflix-Spike-Lee-Remakes Nola Darling 2017 die Aktualität des Themas. Frauen, von denen immer verlangt wird, sich auf andere zu beziehen, für andere da zu sein, scheinen definitiv zu wenig Übung in Abgrenzung zu haben.
Jahre in WGs, Lesezirkeln, auf feministischen Diskussionsveranstaltungen, im Ausloten der Autonomiefrage in Fern- und Näherbeziehungen. Lebensentwürfe der Riot Grrrls entdecken, Philosophinnen, Schriftstellerinnen, Frauen als Regisseurinnen und Sounddesignerinnen – eine ganze Welt ging auf, in der es ein Bewusstsein für solidarische gemeinsame Lebensräume gab und gibt, weit weg von Familienzwängen und bereit, es mit der patriarchalen Gesellschaftsstruktur aufzunehmen.
Und am Ende dann doch so häufig: Aufgabe des eigenen Zimmers beim Zusammenwohnen als Paar, und dann Kleinfamilie, 3-Zimmer-Wohnung – Kinderzimmer, Paar-Schlafzimmer, Wohnzimmer. Ist die eigene Familie erst einmal gegründet, das bedürftige kleine Wesen auf der Welt, bringt der scheinbar offensichtliche Sachzwang, das Rund-um-die-Uhr-Kümmern mit nur wenigen Pausen, eine eigene Logik mit sich: »Jetzt widme ich mich mal eine Zeitlang nur der Familie … das wird auch wieder anders … in ein paar Jahren finden wir sicher eine größere Wohnung.« Ein eigenes (Arbeits-)Zimmer zu brauchen – um sich konzentrieren zu können, um schreiben zu können, um zu schlafen, nichts zu tun oder künstlerisch tätig sein zu können –, dieser Gedanke wird offenbar jeweils individuell zur Seite geschoben: Ich doch nicht. Bei uns wird das anders. Wir überwinden die Rollenfalle.
Virginia Woolfs historisch-materialistischer Ansatz, dass, wenn Frauen über die ihnen angetragenen Rollen hinauskommen wollen, schöpferisch tätig sein möchten, sie neben dem eigenen Zimmer (mit einem Türschloss und einem Schlüssel) auch finanzielle Unabhängigkeit brauchen, hat nicht nur der Schwarze Feminismus zu Recht als bürgerlich-elitär kritisiert. Alice Walker etwa fragt sich 1983 in In Search of Our Mothers' Gardens: Womanist Prose, wie Woolfs Überlegungen greifen sollen für eine ehemalige Sklavin, die noch nicht mal sich selbst gehört hat.Alice Walker, In Search of Our Mothers' Gardens: Womanist Prose, Harcourt 1983, 235.
Hinzu kommt der Trugschluss, dass es unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen so etwas wie finanzielle Unabhängigkeit tatsächlich geben könnte. Woolf weist zwar auf die gesellschaftlich-politische Dimension der Unterdrückung der essenzialisiert weiblichen Personen hin, wiederholt darin allerdings die irreführende Idee, dass wir nur uns im Gegebenen das Passende aka den richtigen Job (oder, wie im Fall Virginia Woolfs, die »richtige« koloniale Erbtante) suchen müssten, um darüber hinauszukommen. Das ist zu wenig Programm, um die Zustände zu verändern. Und wenn sich diese nicht verändern, bleibt jeder Versuch, das Problem von Staat-Kapital-Familie im Individuellen aufzulösen, ein sich erschöpfender und immer wieder neu beginnender Versuch. Mit 20 Anarchistin, mit 30 selbstständig und Genossenschaftsmitglied, mit 40 Hausbesitzerin (bzw. Bankschuldnerin) mit fester Partner_in und Kind. Alles geht in neuer Negativ-Spirale von vorne los und nichts hat sich geändert.
Ohne einen eigenen Raum, dessen Benutzung nicht von anderen abhängt, ein abschließbares Zimmer und Zeit, die dort verbracht werden kann, erscheint es uns jedoch unmöglich, auch nur im marginalen Maße als Autorin, als Künstlerin, als – die contradictio in adiecto mitgedacht – weibliches Subjekt zu wirken.
Bewegung ohne Geschichtsbewusstsein
Angela Steidele arbeitet in ihrer 2003 publizierten Dissertation Als wenn du mein Geliebter wärst. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850Angela Steidele, Als wenn du mein Geliebter wärst. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850, Metzler 2003. heraus, dass bis 1800 in der Literatur Lebensentwürfe für Frauen als Unverheiratete stark gemacht wurden. In diesen Lebensentwürfen hatte die Freundschaft zwischen Frauen wie auch die Frauenliebe – lesbisch hieß es damals noch nicht – einen hohen Stellenwert. Die Verwirklichung derselben werden in diesen »vergessenen Romanen«Vgl. ebd., 225. von Caroline Paulus und Helene Unger mit einem Happy End festgehalten, bei dem am Schluss eine größere Gruppe an Leuten glücklich vereint ist: »Paare und Einzelpersonen wollen zusammen leben, und in dieser Gemeinschaft ist auch Platz für eine enge Beziehung zwischen zwei Frauen«Vgl. ebd., 220..
Mit der Entwicklung von der Zweckehe zur romantischen, die sich in dieser Zeit vollzieht, weicht die Idee einer Gemeinschaft von mehreren als Utopie der gesellschaftlichen Normierung der Liebesehe oder einer Zweierbeziehung, in der (auch in der gleichgeschlechtlichen Version) die Verschmelzung von zweien das Ideal ist. Therese Huber spricht sich in ihrem Roman Die Ehelosen (1829) zwar für die unverheirateten Frauen aus, wendet sich dabei auch explizit gegen die biologische Mutterschaft als Pflicht für Frauen, allerdings mit der Argumentation der geistigen MutterschaftVgl. ebd., 234..
Der Tätigkeitsraum über den Haushalt hinaus findet seine moralische Rechtfertigung im sozialen Engagement, das einer Art gesellschaftlichen Mutterschaft gleichkommt. Steidele sieht darin die Vorbereitung der sogenannten Autonomie, wie sie heute für Frauen in westlichen Gesellschaften existiertVgl. ebd., 234.. Und beschreibt damit, dass nicht neue Wege gesucht oder utopisch entworfen werden, sondern dass sich die Frauen in ihrem zugewiesenen Handlungsraum Care-Tätigkeiten aussuchen. Dieses »Aussuchen« gibt den Schein einer aktiven Handlung und verdeckt dadurch nach außen, dass es eine klare Fügung in die essenzialisierenden Zuschreibungskriterien ist.
Wurde in den Frauenbewegungen der sechziger und siebziger Jahre noch einmal die Idee einer anderen Gemeinschaft als die der Ehe stark gemacht, da sich die (heterosexuelle) Liebesehe häufig als Zwangseinrichtung herausstellte, so hatten die Beteiligten selbst kaum Möglichkeit, auf Vorbilder zurückzugreifen. Sie erkannten die Notwendigkeit, sie sich selbst erarbeiten zu müssen, sie suchen zu müssen, wie schon Virginia Woolf dies in A room of one‘s own konstatierte. Woolf ging in die Bibliotheken und fand Schriften von Autorinnen aus dem 16. Jahrhundert, die ihre Stimme erhoben hatten. Die Frauenforschung der siebziger und achtziger Jahre trug die Äußerungen und Texte aus den Jahrhunderten zusammen, arbeitete Biografien und Lebensformen von Frauen auf, gründete Frauenhäuser, Bibliotheken, Kinos und Buchläden, auf die wir heute durch die mühevolle und oft unbezahlte Arbeit von damals zurückgreifen können. Das Genre der Go-Movies wurde entwickelt, in denen Frauen Herd und Spüle verlassen und in die Welt ziehen, allerdings zunächst noch ohne konkretes Ziel. 1971 bereitet Wanda von Barbara Loden mit ihrem Ausbrechen aus der Küche den Weg, der in Vagabond von Agnès Varda 1986 von der Protagonistin mit dem eigenen Leben bezahlt werden muss. Kelly Reichardt zeigt in Certain Women von 2017 schließlich Frauen, die nicht nur einem Ausbruchsimpuls, sondern einem konkreten Willen folgen und ihn leben.
Die Protagonistin und Regisseurin Cheryl Dunye sagt 1997 in dem Film Watermelon Woman, dass sie keine andere Schwarze lesbische Filmemacherin in der Geschichte kennt, auf die sie sich beziehen könnte. Sind die Filme von weißen Regisseurinnen schon schwierig zu finden, so die von Schwarzen Filmemacherinnen noch viel mehr. Die mangelnde Zugänglichkeit des Materials, die schlechten Aufbewahrungsmethoden in den Archiven, wenn das Material es denn bis dahin geschafft hat, die allgemeine starre weiße männliche Kanonerzählung, die sowohl von Bildungs- als auch Kultureinrichtungen praktiziert wird, generieren das, was – übrigens gemeinsam mit den jeweils individuellen Versuchen, sich der vom Geschlechterverhältnis vorgesehenen Rolle zu entziehen – als »Wiederholungszwang«Karina Korecky, Unter Wiederholungszwang, in Konkret 10/2014. benannt werden kann. Eine permanente Wiederholung des Vergessensvorgangs, der seine Normalisierung zur Folge hat.
Und so hat jede Generation von Frauen das Gefühl, von vorne, von Null anfangen zu müssen, weil das, was vorher da war, keinen Eingang in die allgemeine Geschichte finden konnte, sondern mühsam erst gesucht, entdeckt und angeeignet werden muss. Zeit und Ressourcen der Institutionen und der Staaten gehen nicht in die Umschreibung der Geschichte, sondern in die Verdeckung von dem ein, was da war, zugunsten der weißen männlichen Genies. So wird sich ständig an das Schlimmste gewöhnt und gesellschaftlich fängt alles einfach immer wieder von vorn an – mit der Tochter als neuer Mutter, als weiterem »Ursprung der Welt«Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt, Avant 2017..
Bad role model
Dass der weibliche Körper ständig von Fremdbestimmung bedroht ist, zeigt sich auch und insbesondere an den international immer wieder aufkommenden Debatten über staatliche Zugriffe auf die Möglichkeit, ungewollte Schwangerschaften wieder zu beenden. Die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland im Strafgesetz verankert, als Ausnahme von der Strafverfolgung, direkt unter dem Mordparagraphen. Die Botschaft lautet: Frauen müssen gebären und ihre Kinder unter allen Umständen lieben (außer die Frühuntersuchungen ergeben genetische Abweichungen). Forschung zur Verbesserung von Verhütungsmethoden wird die Gelder gestrichen. Ärztinnen wie beispielsweise Kristina Hänel werden verurteilt, wenn sie über Abbrüche aufklären wollen, und Medizinstudierende haben teilweise gar nicht mehr die Möglichkeit, zu lernen, wie Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werdenZit. n. https://www.zeit.de/campus/2019/01/medizinstudium-schwangerschaftsabbruch-papaya-werbeverbot-universitaet-bildung.. Der Zwang, einen Abbruch vorher bei einer autorisierten Instanz rechtfertigen zu müssen, ist eine ungemeine Zumutung, die das Recht auf den eigenen Körper untergräbt.
Sich als Frau selbst zu setzen, den eigenen (auch: sexuellen) Bedürfnissen nachzugehen, zu tun, wie es ihr beliebt, ist in den allermeisten bestehenden Gesellschaften – und auch noch in den liberalsten und aufgeklärtesten – nicht oder nur unter Schwierigkeiten möglich. In nahezu allen Religionen und Nationen ist Sexualität von Frauen, die ausschließlich der Lust gilt, verpönt. »Frau« zu sein, ist ein unerfüllbares Konzept, die Protagonistin arbeitet jederzeit an ihrem eigenen Verschwinden. Die gesellschaftliche Forderung lautet in nahezu jeder Sphäre und jedem Moment: Selbstverwirklichung durch Selbstaufgabe. Sowohl im Beruf als auch in der Familienplanung – nur in der Selbstaufgabe ist für die Frau gesellschaftliche Anerkennung zu haben. Ein Subjektstatus, der gerade nur in Hinblick auf andere agieren soll: als Schwester, als Tochter, als Ehefrau, als Mutter. Als sich opfernde Titelrolle in Opern. Als Backgroundsängerin, als Sekretärin – you name it. Und selbst noch, wenn sie Ministerin, Parteichefin oder Bundeskanzlerin geworden ist, werden ihr »Mutti«-Qualitäten implizit und sogar explizit abverlangt. Der Begriff »Rabenmutter« ist Frauen vorbehalten, die ein Kind haben, sich aber in den Augen der Betrachtenden zu wenig darum kümmern. Ein vergleichbarer Ausdruck für Männer ist nicht geläufig.
Der Forderung des Für-andere-Seins lässt sich im gewissen Rahmen entgegentreten – umso besser, je weniger dieser klassisch-assistierenden Aufgaben frau sich aufhalsen lässt, je stärker sie sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Das ist kein einfaches Unterfangen, sich der ständig wieder formulierten gesellschaftlichen Anforderung zu entziehen oder ihr entgegenzutreten. Es drohen geschlechtsspezifische Hürden, gesellschaftliche Marginalisierung, materielle Armut. Die New Yorker Künstlerinnen Guerrilla Girls stellten 1988 ironisch die Advantages of being a women artist zusammen: etwa ohne Erfolgsdruck zu arbeiten, zu sehen, wie die eigenen Ideen in Werken anderer weiterleben, oder der Peinlichkeit enthoben zu sein, Genie genannt zu werden.
Dass das Unterfangen, in der patriarchalen Gesellschaft als Frau wirksam zu sein, zum Scheitern verurteilt zu sein scheint, heißt aber nicht, dass es nicht jeweils immer wieder den Versuch gibt, sich der vorgesehenen Rolle zu entziehen. Und bei Ausbrüchen sind Vorbilder hilfreich. Noch jede Feministin hat es nach vorn gebracht, schwarz auf weiß Geschriebenes zu lesen, in dem Dinge stehen, die sie selbst auch denkt oder erlebt hat. Jeder Text, der eine Geschichte von weiblichen Rollenverweigerungen erzählt, jeder Film, der von solchen Versuchen berichtet, jede Frau, deren Biografie sich gegen die Abfolge Tochter, Ehefrau, Mutter, Großmutter sträubt, stellt ein role model dar. Und jedes einzelne dieser role models fing selbst wieder von Null an, musste sich mühsam aus dem je individualisierten Geschlechtersumpf emporarbeiten.
Für Frauen als Mütter sind die Prioritäten klar gesetzt, die Frage nach den Leerstellen, die gefüllt werden müssten, kommt für sie meist gar nicht aufSarah Diehl, Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift, Arche 2014, 122.. Kinderlose Vorbilder, die griffbereit für jeden Schulunterricht wären und mindestens den gleichen Stellenwert wie der Entwurf Mutterschaft haben, sind jedoch nicht in SichtVgl. ebd., 9.. Gesellschaftliche role models für unabhängige Frauen, die sich dem Kinderkriegen widersetzen, existieren – aber sie sind meist keine positiv konnotierten: Frauen, die nicht verheiratet sind, von denen vermutet werden kann, dass sie zügellos ihrer Sexualität nachgehen, werden qua Bezeichnung aus der alltäglichen Interaktion ausgegrenzt – ob als Schlampe oder in der Überlieferung als (böse) Hexe, die sogar plant, Kinder statt zu produzieren aufzuessen. Widersetzt sich eine Frau dem Gebären, ist die Verbindung zu seinem scheinbaren Gegenteil – dem Morden – schnell gezogen.
Im gesellschaftlichen Ablauf ist kein »Muttermord« in weiblich vorgesehen: Der Sohn begeht einen »Vatermord«, indem er sich selbst an die Stelle des Vaters setzt, die Tochter schreibt sich durch das eigene Mutterwerden jedoch nicht in den historischen Ablauf ein, da sie dabei nicht als Individuum agiert. Dadurch, dass sie selbst zur Mutter wird, wird sie identisch, es begründet sich daraus keine Genealogie, keine Geschichte. Die Frau, die nicht gebären will, begeht stattdessen quasi einen Mord an der für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Position. Geschichte schreibt sie mit diesem ‚Mutterrollenselbstmord‘ jedoch noch lange nicht. Dies wäre erst möglich, wenn die Frau durch eigene Aktivität einen Beginn setzen, eine Tradition begründen könnte. Dies wird ihr im Patriarchat gesellschaftlich verweigert – sowie auch durch ihre Bereitschaft verunmöglicht, auf ein eigenes Zimmer sowie Zeit, um sich dort aufzuhalten, zu verzichten.
Das eigene Zimmer ist literarisch extrem männlich geprägt – vom Mann‘schen Kaminzimmer über das professorale Arbeitszimmer bis hin zum Hobbyraum, den viele Familienväter zu Hause zu ihrer Verfügung haben. Ein solches Zimmer auch haben zu wollen, sich dort allein aufzuhalten, bedeutet, sich von der Welt abzusondern, um sich selbst als schöpfend zu erleben. Indem dies weiblichen Rollenmustern widerspricht, erfordert es auch eine Anstrengung, sich dorthin zu begeben und das eigene Handeln zu konzentrieren, statt in der Vernetzung, im Austausch, in Organisationsfragen steckenzubleiben. Nicht, dass diese Dinge einfach zu erledigen wären – es steht nur hinterher selten der Autorinnenname drauf. Die Lorbeeren erhalten andere. Heutige Arbeitszimmer sind mit Elektrizität und Internetanschluss ausgestattet, sodass während der gesuchten Einsamkeit trotzdem Austausch und Zugriff auf Informationen möglich sind. Doch die tröstliche Kommunikation mit anderen während des eventuell unter Schwierigkeiten ermöglichten Aufenthalts kann die kostbare Zeit in der vermeintlichen Einsamkeit schnell wieder aufsaugen.
Letztendlich geht es sehr schnell, dass Frauen die zuvor erkämpfte Autarkie freiwillig wieder aufgegeben, aus Sehnsucht nach Gesellschaft, aus Pflichtbewusstsein. Das Rollen-Default Mum, wiewohl konzeptuell durchaus widersprüchlich (»Verwirkliche dich selbst – kümmere dich einfach nur noch um andere«), ist allgegenwärtig abrufbar und lockt mit der Aussicht darauf, nicht mehr ständig individualisiert gegen gesellschaftliche Erwartungen kämpfen zu müssen. Eva IllouzEva Illouz, Warum Liebe weh tut, Suhrkamp 2012. wie auch Audre LordeAudre Lorde, Man Child. A Black Lesbian Feminist Response, 1979. In: Sister Outsider Crossing Press 1984. argumentieren, dass Kindererziehung im Kleinfamilienmodell wenig mit den romantischen Bildern, die davon kursieren, zu tun hat, und es für alle Beteiligten – allen voran die Frauen – sinnvoll ist, Elternschaft und sexuell-romantische Beziehung zu trennen.
Freundschaft!
Egal wie viele Vorbilder für Gegenentwürfe es gibt – die gesellschaftliche Frauisierung hält an. Mit diesem Begriff meinen wir den Vorgang, der dazu führt, Frauen an ihr angeblich biologisches Geschlecht rückzukoppeln, qua dessen sie nicht das andereSimone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. 1949/dt. Ausgabe Rowohlt 1951., sondern nur für andere sein können. Sie entsteht mit einem männlichen Blick auf die Frau – ein Blick, den auch Frauen auf sich selbst richten und reproduzieren. Frauen bleiben die wichtigsten Akteur_innen der Care-Arbeit, ob es um Kindererziehung, Beziehungsarbeit, Haushalt oder Altenpflege geht.
Bei all dem, was Frauen so »nebenbei« erledigen, selbst wenn sie berufstätig sind, nimmt es nicht Wunder, dass eine Subjektwerdung statt der Erfüllung ihrer gesellschaftlich vorgesehenen Rolle schwer umzusetzen ist: »Ein autonomes Subjekt zu sein ist Voraussetzung dafür, überhaupt Freund sein zu können – gerade darum wurde Frauen die Freundschaftsfähigkeit im 18. Jahrhundert abgesprochen«Steidele, Als wenn du mein Geliebter wärst, 271.. Wenn Subjekt zu sein die Voraussetzung dafür ist, Freundinnenschaften zu haben sowie gleichberechtigte Beziehungen einzugehen und Frauen aufgrund der ihnen zugewiesenen Rolle keine (vollständigen) Subjekte sein können, so bleibt als gesellschaftlich anerkannter Weg der Beziehung hauptsächlich die Zweierbeziehung, als romantische Ehe und Kleinfamiliengründung. Und damit sehen wir uns auch heute immer wieder konfrontiert. Die Priorisierung der Freundinnenschaften (politisch und emotional), der kollektiven Zusammenhänge geht oft in der Familienorganisation unter (und zwar nicht nur in der Hetero-, sondern auch der Homovariante), in der häufig auch das eigene Zimmer verschwindet.
Das Interesse, das Frauen haben sollten, die Zustände zu verbessern,Roxane Gay, Bad Feminist, Harper 2014, 108. wird von denen, die es sich aussuchen könnten, oft hinter das scheinbare Glücksversprechen, einen Platz in der Teilhabe des Patriarchats zu haben, zurückgestellt. Dieses Glücksversprechen führt vom eigenen Zimmer weg – und es findet sich im Extremfall erst in der psychiatrischen Anstalt wieder. In Anke Stellings Roman Bodentiefe FensterAnke Stelling, Bodentiefe Fenster, Verbrecher Verlag 2015. von 2015, der die klaustrophobische Enge linker Familienentwürfe in einem Hausprojekt zum Thema macht, hat die einzige weibliche Figur mit einem eigenen Zimmer dieses in der Psychiatrie. Erst nach einem Zusammenbruch wird der Frau von der Gesellschaft ein eigener Raum zugestanden – vorher nicht. Abschließbar ist dieses im Zweifelsfall nicht von innen, sondern von außen. Das Zimmer an dieser Stelle ähnelt eher einem Gefängnis. Es hat jeglichen verheißungsvollen Gehalt verloren.
Das Reich der Freiheit
Woran orientieren sich Lebensentscheidungen wie die, auf ein eigenes Zimmer, das schon mal da war, zu verzichten, zugunsten des Zusammenlebens in der Beziehung, zugunsten der Gründung einer Kleinfamilie? Der Gang ins Archiv, das Lesen in längst Geschriebenem hat nur reale Bedeutung für das eigene Leben, wenn es als Raum der Möglichkeiten gefasst wird. Wenn durch das Graben andere Lebensformen präsent gemacht und daraus Repräsentationen zur Orientierung gemacht werden, eine Überführung in die eigene Lebenspraxis stattfindet.
Bisher erscheint das eigene Zimmer, über das jede_r verfügen sollte, um sich zum Nachdenken, Schreiben oder zum künstlerischen Tätigsein zurückzuziehen, als ein bürgerliches Privileg, das nur wenige haben, zumal im herrschenden Wohnungsmangel in den Großstädten. Das heißt aber nicht, dass es nicht die Voraussetzung dafür wäre, sich denkend und schreibend mit den Zumutungen der gesellschaftlich herrschenden Strukturen auseinanderzusetzen.
Das eigene Zimmer für alle sollte nicht eine Utopie bleiben, sondern zur Minimalforderung werden – für alle, als konkreter Ort, der weder durch Lohn- noch durch emotionale Arbeit gerechtfertigt werden muss, weder vor den Partner_innen noch vor dem Staat. Als Möglichkeit nicht nur zum schöpferischen Arbeiten, sondern für das eigene Leben, zur Auseinandersetzung mit sich selbst und den herrschenden gesellschaftlichen Zusammenhängen, mit den Stimmen im Kopf, die einen nicht in Ruhe lassenWoolf, Room.. Wo das eigene Zimmer zugunsten eines größeren Ganzen – der Partnerschaft, der Familie – aufgegeben wird, müssten alle Alarmglocken schellen. Die weibliche Bereitschaft, das Zimmer, das es schon mal gab, wieder aufzugeben, weist gerade auf seine Notwendigkeit hin – als Verkörperung und als Veräußerlichung der ständig von Zumutungen bestürmten Subjektgrenzen.
Marlene Pardeller / tagediebin
Marlene Pardeller und tagediebin leben und schreiben in den und gegen die Zumutungen der Verhältnisse, unter anderem in Berlin und Hamburg.