Dieser Text ist im Umfeld der Kontroversen um den Critical WhitenessIn den 1990er Jahren findet in der US-amerikanischen Rassismusforschung ein Blickwechsel statt: Weißsein wird als Kategorie zur kritischen Analyse gesellschaftlich gebildeter Normen verwendet. Siehe hierzu u.a. Toni Morrison, Playing in the Dark, Cambridge 1992; Fatima Al-Tayeb (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte, Münster 2009. -Ansatz innerhalb der linksradikalen, gemischt organisierten antirassistischen Bewegung entstanden. Ausgangspunkt unserer Beschäftigung waren vor allem die Zerwürfnisse auf dem No Border Camp in Köln 2012, die einige von uns miterlebt haben. Nachzulesen ist die Kölner und anschließende Debatte unter anderem in der Jungle World (0cn.de/mqkx, 0cn.de/9ebg), auf der Webseite des Camps (noborder.antira.info), der Sonderbeilage zu Critical Whiteness der analyse&kritik (www.akweb.de/themen/sonderbeilage_cw.htm) oder der transact-Broschüre (0cn.de/4wet). Insbesondere die Ausweitung des Definitionsmachtkonzepts, die Verhängung von Redeverboten und Campverweisen sowie die identitätsfixierte und autoritäre Aufladung von Sprechpositionen nehmen wir zum Anlass, uns mit der darin sichtbar werdenden Identitäts- und Machtpolitik auseinanderzusetzen und einige ihrer Voraussetzungen und Annahmen infrage zu stellen.
In den Debatten auf und nach dem Kölner No Border Camp wurde ein statisches Verständnis von Kultur- und Identitätszuschreibungen deutlich, das sich von einem strategischen Einsatz von identitären Zuschreibungen unterscheidet, wie beispielsweise die satirische Störaktion der Kopftuchmädchen bei einer Lesung von Thilo Sarrazin oder die Bündniskonstellation der Mad and Disability Pride Parade. Gegen die Lesung Sarrazins aus seinem Buch Der neue Tugendterror im Berliner Ensemble polemisierten im März 2014 post-migrantisch-deutsche Aktivistinnen mit satirischen Parolen wie »Wir sind die Kopftuchmädchen«, »Wir sind die Gebärmaschinen« und »Wir sind der Tugendterror«. Sie griffen damit die rassistischen Stigmatisierungen Sarrazins frontal an und demonstrierten performativ den Widerspruch, indem sie sich im besten Sinne politisch bewusst artikulierten. Bei der Mad and Disability Pride Parade werden seit 2013 unter der identitären Klammer der »Verrückten« und »Behinderten« Stigmatisierungen und Behinderungen durch die Mehrheitsgesellschaft aufgezeigt, indem diese Zuschreibungen zum Ausgangspunkt einer politischen Selbstermächtigung gewendet werden. Beide Aktionen sind Beispiele von strategischer Identitätspolitik, die die angenommenen identitären Zuschreibungen sichtbar macht, sie zum Zwecke des Self-Empowerment subversiv wendet und letztlich gesellschaftlich überwinden will.
Anhand dreier Thesen wollen wir Hierarchisierungen von Herkünften, die mit einem statischen Identitätsverständnis einhergehen und Beiträge von People of Color und der für sie sprechenden kritischen Weißen gegenüber anderen Positionen ermächtigen sollen, infrage stellen.
So finden wir es problematisch, wenn, wie auf dem Kölner No Border Camp geschehen, kritische Weiße stellvertretend für People of Color sprechen, weil sie eine Deutungshoheit darüber, was rassistisch ist, durch die Aneignung von Haltungen und einem entsprechenden Sprachkodex erworben haben. Der dadurch entstehenden Gruppenkonformität müssen sich Sprach- und Verhaltensregeln unterordnen. Dabei kommt in der Regel nichts Emanzipatorisches heraus, sondern zum Beispiel unter dem Stichwort des »Kulturkannibalismus« kulturalistischer Unsinn wie das Reservieren von bestimmten Haartrachten für People of Color. Schlimmstenfalls kommt es zu abstrusen Vorwürfen von kritischen Weißen an People of Color, Opfer von »Whitewashing« geworden zu sein, weil sie abweichende Positionen artikulieren oder nonkonformes Vokabular benutzen. Alle Beispiele haben sich auf dem Kölner No Border Camp 2012 zugetragen und liegen damit bereits drei Jahre zurück. Sie stehen aber auch nach der Auflösung der damals beteiligten Gruppen beispielhaft für eine innerhalb der antirassistischen Linken wie auch linker akademischer Diskurse zu beobachtende Orientierung an Identitäten anstelle von Inhalten. Außerdem offenbaren sie eine kaum begründete Ausweitung des Konzepts der Definitionsmacht auf Rassismus.
Unstrittig ist für uns, dass gemischte Organisierung viele Ungleichheiten und Dominanzmechanismen reproduzieren, weil ihre Akteur_innen selbstverständlich Teil verschiedener Unterdrückungsverhältnisse sind. Genau gegen deren Aufhebung organisieren sie sich. Zugleich müssen sie mit individuellen Ungleichzeitigkeiten im Sinne von persönlichen Ressourcen, Budgets, Zugang zu Bildung, unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebenssituationen usw. zurechtkommen. Privilegien gemeinsam zu hinterfragen und Dominanzverhältnisse zu thematisieren ist daher ein zentraler Bestandteil jeder linksradikalen Organisierung, der es um Emanzipation und Empowerment geht.
Politikansätze, nach denen Weiße per se die »Schnauze halten« sollen und People of Color aufgrund ihrer Herkunft besondere, nicht hinterfragbare Rede- und Sanktionsrechte analog zum feministischen Definitionsmachtkonzept erhalten, führen nach unserer Auffassung aber nicht zu einer produktiven, gemischten, emanzipatorischen Organisierung, sondern betreiben deren Ende. Das lässt sich an dem in Köln entstandenen politischen Flurschaden ebenso wie an der schleppenden Aufarbeitung des Geschehens deutlich nachvollziehen. In diesem Sinne verstehen wir unseren Text als einen Debattenbeitrag für eine offene Diskussionskultur und gegen die Erlangung von Diskurshoheiten via Herkunft und Zuschreibung.
Erste These: Sprechorte
Es kann kein Instrument emanzipativer Politik sein, politischen Äußerungen öffentliche (Selbst-) Zuschreibungen über Herkunft und entsprechende Privilegien voranzustellen. Eine derart ritualisierte, zwanghafte Bekenntnispraxis führt eher zu einer Politik des schlechten Gewissens als zu einer selbst reflektierten und -kritischen Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen und Privilegien.
Sprechorte im Sinne sozialer Positionierungen zur Kenntnis zu nehmen, kann für eine gleichberechtigtere Auseinandersetzung durchaus sinnvoll sein, z. B. um eine Konnotation als ironisch zu erkennen, eine Formulierung zu kontextualisieren oder einer unabsichtlichen Verletzung durch Sprache vorzubeugen. Wenn diese Offenlegung jedoch nicht zur Einordnung des Gesagten verwendet wird, sondern zur Bewertung der oder des Sprechenden, entsteht daraus ein Machtinstrument. Das Sichtbarmachen von sozialen Ausgangsbedingungen sollte idealerweise weder dazu führen, dass etwas unsagbar wird, noch dass dem Gesagten zusätzliches moralisches Gewicht verliehen wird.
Wenn aber in standardisierten Worten angezeigt wird, beispielweise »weiß« und »frauisiert« zu sein, werden normative Kategorisierungen der Mehrheitsgesellschaft reproduziert. Auch wenn es eine nominelle Übereinstimmung darüber gibt, dass Herkunft und Identität als konstruiert verstanden werden, entsteht hierdurch ein Zwang, entlang einer vorgefertigten Matrix Identitäten zu benennen und festzuschreiben. Durch diese mantrahaften Selbstkategorisierungen findet eine unterschwellige Wiedereinführung des Differenzdiskurses statt, um dessen Öffnung und Überwindung bereits in der Vergangenheit gerungen wurde (z. B. im Intersektionalitätsansatz, in der Queer Theory und in der anti-identitären Organisierung von Kanak Attak). Zugleich wird die Komplexität von Erfahrungen und Herkünften ausgeblendet und die Möglichkeit emanzipativer Prozesse negiert. Schließlich sind Selbstwahrnehmungen und Eigenbeschreibungen oftmals keineswegs feststehend, sondern können vielschichtig und komplex erlebt werden und von einer politischen Entwicklung und dem Wunsch nach Veränderung geprägt sein.
Wo entlang eines ritualisierten Selbstbeschreibungskanons Handlungsanweisungen gegeben und Entscheidungsspielräume begrenzt werden, wird eine politische Praxis durch Herkunft und Identität festgelegt: Das inhaltlich Gesagte wird sekundär, wichtig wird stattdessen, wer etwas sagt oder tut. Die damit einhergehende Hierarchisierung erschwert oder verunmöglicht eine um Gleichberechtigung ringende Zusammenarbeit. Das Aushandeln von inhaltlichen Positionen ist aber ein grundlegender Bestandteil von linker Politik. Wenn politische Auseinandersetzungen nicht nur auf eingeweihte Zirkel oder die eigene Peer Group beschränkt sein sollen, muss eine Verständigung auch jenseits festgefahrener Sprachcodes möglich sein.
Zweite These: Sprechakte
Es besteht ein Unterschied zwischen einer rassistischen Äußerung und rassistischer Gewalt. Auch wenn sprachliche wie physische Handlungen verletzend sein können, ist es notwendig, die verschiedenen Verletzungen und Gewaltformen auszudifferenzieren, um politisch handlungs- und auseinandersetzungsfähig zu bleiben.
Mit dem ambivalenten Zusammenhang zwischen Handlung und Sprache hat sich Judith Butler Ende der 1990er Jahre in ihrem Buch Hass spricht auseinandergesetzt: Die sprachliche Anrufung bzw. Benennung ist eine Bedingung für die Konstitution von gesellschaftlichen Subjekten und mithin für Handlung und Sprache. Sprache wirkt in diesem Sinne normierend, kategorisierend und ist Grundlage für gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse. Formulierungen wie »sprachlicher Angriff« und »Wörter verwunden« legen zwar nahe, dass eine Verletzung durch Sprache einer physischen Verletzung gleicht, jedoch weist nach Butler »gerade die Gleichsetzung darauf hin, dass es sich letztlich um zwei ungleiche Sachverhalte handelt.« Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006. Für das Phänomen der sprachlichen Verletzung gibt es Butler zufolge offenbar keine eigene Sprache, sodass es bei der Beschreibung von verbalen Diskriminierungen zu einer Entlehnung des Vokabulars kommt. Um dem komplexen Zusammenhang von Sprache und Handlung gerecht zu werden, differenziert Butler daher zwischen sprachlichen Verletzungen und Hate Speech bzw. Gewaltandrohungen. Letztere zerstören jede Perspektive, weil sie existenzielle Angst produzieren und dadurch bereits vollziehen, was sie androhen. Nur im Fall von Hate Speech betrachtet sie Sprechen bereits als eine körperliche Handlung.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, Verletzungen durch Sprache anzuerkennen, ohne jede verletzende Äußerung mit Gewalt gleichzusetzen. Denn eine beleidigende oder diskriminierende Äußerung ist eben nicht notwendig dasselbe wie sprachliche oder körperliche Gewalt. Bei Äußerungen, die rassistisch sind, aber von den Sprechenden selbst nicht bewusst als solche erkannt oder wahrgenommen werden, muss deshalb die Möglichkeit für eine Auseinandersetzung und einen Lernprozess bestehen. Das Gleiche gilt für Äußerungen, die als Trigger (Schlüsselreiz) empfunden werden, da nach einer Traumatisierung alle möglichen Äußerungen triggernd sein können.
So sind Gewalterfahrungen oftmals langfristig traumatisierend. Sie können durch Sprache und Übergriffe, aber auch durch Bilder oder Gerüche wieder in Erinnerung gerufen werden. Eine Vielzahl von Äußerungen können Erinnerungen und Retraumatisierungen auslösen, auch wenn sie nicht in verletzender Absicht geäußert werden bzw. nicht notwendigerweise in einem verletzenden Zusammenhang stehen. Wenn die Verkettung von Trigger und Trauma mit Gewalt gleichgesetzt wird und jegliche als diskriminierend und rassistisch empfundene Sprache per se als Trigger betrachtet wird, der eine (Re-)Traumatisierung auslösen kann, wird die Ausdifferenzierung eines Vorfalls und seine entsprechend abgestufte Bearbeitung unmöglich. Die Traumabearbeitung und ihre Einordnung kann zwar letztlich nur die betroffene Person selbst leisten; das individuelle Erleben einer (Re-) Traumatisierung kann aber nicht die Grundlage für eine politische Beurteilung sein. Das bedeutet auch, dass das Triggern eines Traumas nicht mit dem traumatischen Ereignis bzw. der Gewalterfahrung selbst gleichgesetzt werden kann. Gerade wegen dieses individuellen Charakters ist es anmaßend, wenn Nicht-Betroffene auf der politischen Ebene definieren, was traumatisierend ist und welche Sprache verwendet werden sollte, beispielsweise wenn Flüchtlinge aufgefordert werden, von sich selbst nicht als Opfer oder Flüchtling zu sprechen (weil andere sich davon traumatisiert fühlen könnten). Absichtsvolle rassistische Äußerungen sind in der antirassistischen Bewegung zwar möglich, jedoch selten und sollten, wenn sie vorkommen, Ziel von Interventionen sein. Explizit rassistische Gewaltandrohungen oder körperliche Übergriffe kommen dagegen so gut wie nie vor, da rassistische Gewalt innerhalb der Linken unüblich ist und geächtet und sanktioniert würde. Andere physische Angriffe wie beispielsweise die der Revolutionären Kommunisten (RK) bei 1. Mai-Demonstrationen zu Beginn der 1990er Jahre oder gewalttätige Angriffe von anti-imperialistischen Gruppen und Einzelpersonen auf Menschen mit Israel-Fahnen betreffen andere Widersprüche wie autoritäre und patriarchale Politikverständnisse, Stalinismus und Antisemitismus. Es ist daher notwendig, die verschiedenen Gewaltdimensionen zu unterscheiden, um überhaupt in einem längerfristigen, übergreifenden Zusammenhang Politik machen zu können. Einen Raum, in dem sich verschiedene Menschen treffen und der vollständig verletzungs- und störungsfrei wäre, gibt es nicht. Politische Organisierung erfordert daher die Bereitschaft aller Teilnehmenden, immer wieder in produktive, offene Auseinandersetzungen zu treten und dabei auf die bekannten sozialtechnischen Hilfsmittel wie Moderation, Redeliste, Blitzlichter, Kleingruppendiskussion, bedarfsorientierte Quotierung, Übersetzung usw. zurückzugreifen. Dabei sind auch die gemeinsamen Kriterien konkret auszuhandeln,wie mit verletzenden Äußerungen umzugehen ist, die nicht nur rassistisch, sondern zudem auch sexistisch, antisemitisch oder auf andere Weise verletzend sein können.
Dritte These: Definitionsmacht
Das Konzept der Definitionsmacht steht für den Versuch, innerhalb der Linken einen Umgang mit sexistischen Übergriffen und sexualisierter Gewalt zu finden.Die Ausweitung von Definitionsmacht auf verbale und körpersprachliche Äußerungen sowie die Anwendung auf rassistisches Verhalten bedeutet eine Relativierung von sexualisierter und physischer Gewalt.
Die Idee der Definitionsmacht wurde in der linken Szene als Reaktion auf (hetero-)sexistische und patriarchale Macht- und Gewaltverhältnisse über mehrere Jahre hinweg in der Auseinandersetzung mit konkreten Übergriffen entwickelt. Einen Konsens gab es darüber nie. Vor allem der Vorwurf einer möglichen Instrumentalisierung des Konzeptes führte dazu, dass es immer wieder neu verhandelt werden muss. Daher ist die Definitionsmacht ein labiles Instrument, das nur dann legitim und wirkmächtig sein kann, wenn sein Wirkungsbereich klar umrissen bleibt.
Sexistische Übergriffe und sexualisierte Gewalt haben Folgen für die Betroffenen, die meist weit über die Tat selbst hinausreichen. Diese spezifische Form von Gewalt findet meist in nicht-öffentlichen Räumen statt: in privaten Beziehungen und Lebensverhältnissen. Häufig kommen Täter_innen aus dem persönlichen Umfeld. Darum gibt es oft keine Zeuginnen oder Zeugen, kann die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Zwang nicht immer eindeutig gezogen werden, ist ein sexistischer Übergriff oder sexualisierte Gewalt nicht mit der Anwendung von unmittelbarem körperlichen Zwang verbunden und die Tat nicht »objektiv« nachweisbar. Aus diesen Gründen wird häufig nicht anerkannt, was Betroffene erlebt haben; ihre Erfahrungen werden ihnen abgesprochen. Darauf reagiert das Konzept der Definitionsmacht, indem Betroffenen von sexistischen Übergriffen und/oder sexualisierter Gewalt das Recht und die Macht zugesprochen werden, selbst zu definieren, was sie erlebt haben und empfinden. So kann Definitionsmacht als ein Ermächtigungsprozess verstanden werden, indem die Wahrnehmung von Betroffenen einer Realität entgegengesetzt wird, in der häufig verschwiegen, verleugnet und verdrängt wird. Da Definitionsmacht das subjektive Empfinden in den Mittelpunkt stellt, folgt die Unterstützung von Betroffenen ebenfalls dem Prinzip von Subjektivität und Parteilichkeit. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Unterstützende keine Fragen stellen dürfen bzw. keine Gespräche oder Auseinandersetzung anbieten sollten. Darüber hinaus ist uns wichtig, dass unterstützende Gruppen oder Einzelpersonen nur als erste und akute Krisenintervention agieren sollten. Darüber hinaus verleiht Definitionsmacht die Möglichkeit, Konsequenzen zu fordern und Sanktionen durchzusetzen, um auf diesem Weg (idealerweise) wieder handlungsfähig zu werden und die oftmals in der Folge eines Übergriffs nachwirkenden Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust zu kompensieren. Im Umgang mit Täter_innen sollte es darum gehen, zunächst den Bewegungsspielraum für Betroffene wieder freizugeben. Dafür kann es ganz unterschiedliche Möglichkeiten geben, die es von Fall zu Fall herauszufinden gilt. Automatisierte Forderungen nach einem Rauswurf bzw. Ausschluss von Täter_innen halten wir daher für falsch. Zudem hat die/der Täter_in ebenfalls ein Recht darauf, sich zu äußern und in einem nicht-öffentlichen und vertraulichen Rahmen zu den Vorwürfen Position zu beziehen. Ohnehin sind mögliche Wünsche oder Forderungen der betroffenen Person nur erfüllbar, wenn ein funktionierender Kontakt zu der/dem Täter_in besteht.
Das Konzept der Definitionsmacht sollte wie hier umrissen auf sexistische Übergriffe und sexualisierte Gewalt begrenzt bleiben. Denn die Ausweitung und ein dementsprechend ausgedehnter Zuständigkeitsbereich von Unterstützungsgruppen, auch als »Ansprechgruppen«Debatten um praktische Konsequenzen, die aus dem Definitionsmachtkonzept entstehen, haben im Kontext der antirassistischen Grenzcamps bzw. der No Border Camp-Bewegung bereits eine lange Geschichte: Die Frage, ob sich aus dem Definitionsrecht zugleich eine Sanktionsmacht ableitet und wie überhaupt eine für alle Beteiligten produktive Debatte zum Umgang mit Sexismus geführt werden kann, wurde ab den späten NeunzigerJahren viel diskutiert. Beim Camp in Köln 2003 gab es zum ersten Mal eine »Ansprechgruppe« als festen Bestandteil der übrigen Camp-Struktur. Auf dem No Border Camp in Köln 2012 erklärte die »Ansprechgruppe« schließlich auch ihre Zuständigkeit für rassistisches Verhalten. bezeichnet, führen in eine politische Sackgasse. So wird bei einer unterschiedslosen Anwendung von Definitionsmacht auf verbale und körpersprachliche Äußerungen sowie rassistisches und sexistisches Verhalten nicht wahrgenommen, dass die spezifischen Mechanismen und Folgen sexualisierter Gewalt einen besonderen Umgang erfordern. Darüber hinaus hat die Anwendung von Definitionsmacht auf Sprache zur Folge, dass diskriminierende Äußerungen, ob intendiert oder nicht, jederzeit mit unbefristeten Gesprächsabbrüchen, Sprechverboten oder gar Ausschlüssen sanktioniert werden können. Auf diese Weise würde Definitionsmacht zu einem Regulierungsinstrument für inhaltliche Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgebaut, es wäre ein stark polarisierendes Machtmittel innerhalb der politischen Zusammenarbeit.
Zweifellos gibt es in der linken Szene Rassismen wie sprachliche Diskriminierungen und Verletzungen, stereotype Wahrnehmungen, Paternalismus und Ausschlüsse – und nichts spricht dagegen, dass dies auch definiert und öffentlich benannt wird. Hierfür sind andere Auseinandersetzungsformen sinnvoll, wie etwa Klärungsgespräche unter der Beteiligung von Unterstützer_innen oder auch nur eine einfache Benennung.
Schlüsse und Schluss
Unsere Thesen möchten wir als ein Plädoyer für die politische Auseinandersetzung und das Streiten gegen rassistische Strukturen innerhalb der Linken verstanden wissen. Es kann nur verändert werden, was begriffen und als Kritik angenommen wird. Diese Herangehensweise ist für uns die Basis einer prozesshaften Auseinandersetzung. Demgegenüber stehen der Einsatz von Stopp-Zeichen und Sanktionierungen durch eine undifferenzierte Inanspruchnahme von Definitionsmacht als eine Politik des Stillstands (»shut up and listen«). Die Angst, für eine Äußerung mit einem Sprechverbot belegt zu werden, verunmöglicht die Auseinandersetzung, statt sie zu eröffnen. Daher sind Sprechverbote und andere Ausschlüsse als Grundlage für eine politische Zusammenarbeit unbrauchbar, sie stellen Diskussionen generell unter Verdacht und sabotieren sie. Problematisch ist zudem, wenn »negativ von Rassismus Betroffenen« die alleinige Definitionsmacht über Rassismus zugesprochen wird. Rassismus selbst zu erfahren wird so zur Voraussetzung und Qualifikation dafür, sich überhaupt zu Rassismus äußern zu dürfen. Das negiert oder hierarchisiert nicht nur verschiedene Unterdrückungsverhältnisse, sondern setzt auch die Sprechenden zueinander in Konkurrenz. Sprechverbote geraten dann zu einem Ticket für den Gewinn von Diskurshoheit und sind daher kein Ausgangspunkt für emanzipatorische Politik.
Wir wünschen uns im Sinne einer Verständigung und der Auflösung von Blockaden, Differenzen verhandelbar zu machen. Gerade die No Border Camps waren und sind nach unserem Verständnis Orte, deren Ziel unter anderem darin besteht, zusammenzukommen, sich auseinanderzusetzen, in Kontakt zu treten, zu streiten. Anders gesagt: Wenn auf den Camps nicht mehr offen diskutiert werden kann, wo dann?
Es ist klar, dass Diskussionen und Auseinandersetzungen mitunter wehtun und emotional geführt werden. Um Verletzungen zu thematisieren, ohne Diskussionen dauerhaft und einseitig zu beenden, können temporäre Gesprächsunterbrechungen angebracht sein. Dennoch halten wir es für notwendig, solche Interventionen auch zu erklären, da ein unbegründetes, nicht-vermitteltes Sprechverbot lediglich zur Ächtung der oder des Sprechenden führt.
Einen vollständig verletzungsfreien Schutzraum einzufordern bedeutet letztlich die Orientierung an einem Ideal, das zwar wünschenswert, aber auch innerhalb der Linken weit von der Umsetzung entfernt ist. Eine Arbeit hin zu diesem Ideal darf aber keinesfalls mit Redeverboten operieren. Diskussionen, Auseinandersetzungen, auch Streit können und sollen Orte von Emanzipation und Empowerment sein und die Beteiligten ermächtigen, selbst zu handeln bzw. selbst handlungsfähig zu werden. Im Unterschied zur instrumentellen Ausweitung von Definitionsmacht verstehen wir unter Empowerment die Bereitschaft, in Auseinandersetzungs- und Lernprozesse einzusteigen und diese anzustoßen.
Einige von der Gruppe Subcutan
Als postautonomer Zusammenhang ist subcutan seit den späten 1990er Jahren unter anderem innerhalb der antirassistischen Bewegung aktiv, bis 2003 im Rahmen der antirassistischen Grenzcamps. Andere Themenfelder unserer politischen Arbeit sind Antisemitismus und Antinationalismus sowie Erinnerungs- und Geschichtspolitik in Bezug auf deutsche Kolonialgeschichte und Nationalsozialismus.