Ein neuer arabischer Frühling, ein progressiver gesellschaftlicher Umbruch – so oder so ähnlich wurden die vom geplanten Abriss des Istanbuler Gezi-Parks ausgelösten Proteste in Deutschland zumeist wahrgenommen. Drei Bücher deutsch-türkischer Autoren bereichern diese einseitige Darstellung um weitere Dimensionen.
Es existiert zwar eine traditionell starke Bürgerrechtsbewegung in der Türkei, die Proteste um den Gezi-Park hatten dennoch eine neue Qualität. Der Islam- und Musikwissenschaftler Tayfun Guttstadt spricht in seinem Buch Çapulcu daher zu Recht von »neuen« Protesten. Dass z.B. gläubige Muslim_innen und Kemalist_innen einmal zusammen auf den Barrikaden stehen würden, hätte noch vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten.
Nach einem kurzen chronologischen Abriss der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe und einer knappen Chronologie der Ereignisse um den Gezi-Park erteilt der Autor sehr unterschiedlichen Aktivist_innen das Wort, denen er in Istanbul begegnet, darunter teils sehr bekannte Personen wie der Journalist Ahmet Sik. Weil Guttstadt diese jeweils über die persönliche Begegnung einführt, bleibt er als Gesprächspartner immer bemerkbar, auch, weil er sich mit eigenen Wertungen nicht zurückhält.
Wie widersprüchlich die Ziele der Beteiligten sind und vor welche Herausforderungen Bündnisse gestellt werden, machen diese Interviews deutlich, denn die Mitgründerin der Antikapitalistischen Muslime hat mit dem Vertreter des nationalistischen Türkischen Jugendbundes kaum etwas gemeinsam. Guttstadt bettet die aktuellen Ereignisse in die historischen Zusammenhänge ein: So stellt er heraus, dass die undemokratische Vorgehensweise der AKP keineswegs eine neue Dimension bedeutet – denn gerade für die kurdische Bevölkerung seien Polizeigewalt und Unterdrückung keine neuen Erfahrungen. Das Buch schließt mit drei Essays. Die Soziologieprofessorin Ayse Bugra plädiert in Anbetracht der Proteste für eine Neudefinition dessen, »was Demokratie bedeutet« und blickt hoffnungsvoll auf Gezi: »Eine Generation, die sich nicht darum sorgte, ob der Säkularismus abgeschafft wird oder nicht, hat dem ganzen Land gezeigt, dass Säkularismus zusammen mit Respekt vor der Religion bestehen kann.«
Der Journalist Erol Özkoray interpretiert in einem weiteren Essay die Regierungspolitik der AKP als »grünen Faschismus«, während Michael Hardt, gemeinsam mit Antonio Negri Autor von Empire, freudig vom »universellen Zyklus des Kampfes« schreibt, der den eigenen Voraussagen von der globalen Demokratiebewegung zu entsprechen scheint.
Insgesamt wirkt die Zusammenstellung des Bandes etwas beliebig und auch die vorangestellte Chronologie reiht relativ wahllos die Ereignisse in einigen türkischen Städten aneinander, vergisst andere dabei völlig. Weit störender ist jedoch das mangelhafte Lektorat, das die unzähligen Rechtschreibfehler und holprigen Formulierungen leider übergangen hat.
Einige Erklärungen des Autors hätten noch einer umfangreicheren Analyse bedurft. So nennt Guttstadt die Anhängerschaft des muslimischen Predigers Fethullah Gülen »Taliban light« und begründet das allein mit dessen Unterstützung durch die USA. Das Buch vermittelt jedoch ein eindrückliches Bild der Atmosphäre um die Gezi-Proteste und der vielfältigen Zusammensetzung der beteiligten Gruppen.
Deniz Yücel findet in Taksim ist überall für seine Darstellung der Ereignisse neutralere Worte und vor allem eine einheitlichere Form. Auch wenn er die eigene Parteilichkeit ebenso bereitwillig eingesteht wie Guttstadt. Dabei ist er ebenso emotional involviert: »Wer solche Beobachtungen [der Polizeigewalt] aufschreibt, gerät leicht in den Verdacht, einseitig zu berichten. Aber Gummigeschosse aus zwei Metern Entfernung abzufeuern, ist auch eine einseitige Angelegenheit«.
Anders als Guttstadt, der sich von der eigenen aktivistischen Haltung leiten lässt, war Yücel zur Zeit der Gezi-Proteste als taz-Korrespondent in Istanbul. Er schreibt wie ein Zeitungsredakteur eben schreibt: kurze, knapp formulierte Sätze. Auch er wählt eine persönliche Herangehensweise an die Thematik und leitet das Buch mit der Kindheitserinnerung an ein Foto ein, das am 1. Mai 1977 den Taksim-Platz zeigt.
Seinen roten Faden spannt Yücel von Ort zu Ort: Vom Taksim bereist er über den benachbarten Gezi-Park weitere Stadtteilen Istanbuls und schließlich andere Städte in der Türkei. Er recherchiert, welche gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu den aktuellen Ereignissen geführt haben und erklärt politische Zusammenhänge am jeweiligen Beispiel. Woher Premierminister Recep Tayyip Erdogan die Motivation nimmt, im Gezi-Park ein Einkaufszentrum in Form einer osmanischen Kaserne wiederaufzubauen, wird nachvollziehbar, wenn Yücel von deren Vorbild, der Topcu-Kaserne, erzählt. Dieses Beispiel verdeutlicht wie dicht kapitalistische und religiöse Handlungsmotivationen bei der regierenden AKP beieinander liegen und zeigt zugleich, von welch hoher symbolischer Bedeutung der Taksim-Platz ist. Yücel zitiert einen Historiker zum Militäraufstand vom 31. März 1909 in ebenjener Kaserne: »Für die Kemalisten ist es ein Tag des Sieges der fortschrittlichen Kräfte über die Reaktion, für die Islamisten der Beginn einer hundert Jahre währenden Bevormundung durch das Militär. Und der Taksim-Platz ist der symbolische Ort dieser Niederlage«. Zu Wort kommt auch der armenisch-stämmige Student Norayr Olgar, der konstatiert, dass die Geschichte des Platzes schon mit dem Abriss und der Verbauung des armenischen Friedhofs, der sich dort befunden hatte, eine besondere Bedeutung erhalten habe.
Die Gespräche, die Yücel führt, tragen zur Relativierung der unkritischen Begeisterung über die Proteste in den deutschen Medien und die vermeintliche Annäherung unterschiedlicher Gruppierungen bei. So sagt die transsexuelle Sexworkerin Sevval Kiliç über die plötzlich so freundlichen Menschen im Park: »›Du findest die Morde an Transsexuellen also nicht mehr gut? Na bravo!‹ Ich bin zu alt, um mir so einen Scheiß anzuhören«. Sie spielt damit auch auf die Tatsache an, dass die im Kontext der Proteste eingegangen Bündnisse häufig situationsbedingt sind und sich die Solidarität als nicht grenzenlos erweist.
So erzählt ein jüdischer Gesprächspartner im schicken Istanbuler Viertel Nisantasi von der Diskriminierung, die er sowohl von religiösen wie von säkularen Gesprächspartner_innen erfährt. Auch Kinder, die am Taksim-Platz Wasser verkaufen, äußern sich. Das verdeutlicht, dass die Umstrukturierung der türkischen Gesellschaft und ihrer Städte viel mehr Menschen betrifft als die üblicherweise genannten. Wie bei Guttstadt steht auch bei Yücel am Ende die Hoffnung auf eine Veränderung, die nicht nur auf die Türkei beschränkt ist: »Als kollektive Referenz für die Gott weiß notwendigen Veränderungen ist Gezi nicht schlechter als die EU«.
Die ökonomischen Hintergründe der Gezi-Proteste zeichnet der Politikwissenschaftler Ilker Ataç in Ökonomische und politische Krisen in der Türkei nach. Er verweist darauf, inwiefern sich mit der veränderten Wirtschaftspolitik seit Ende der neunziger Jahre auch die innertürkischen politischen Verhältnisse änderten. Dass ökonomische Krisen nicht nur gesellschaftliche Auswirkungen haben, sondern auch politische Machtverhältnisse beeinflussen, zeigt er am Beispiel der Türkei anschaulich. Dabei nimmt er das 2001 verabschiedete »Programm zum Übergang in eine starke Ökonomie« (GEGP) zum Ausgangspunkt seiner Analyse, der zufolge die Reformen seit 1980 »eine Neuorganisierung des Neoliberalismus« darstellen, die »im Kontext der Finanzkrise von 2001 die Integration der türkischen Ökonomie in den Weltmarkt vertieft hat«.
Ataç will eine Forschungslücke der Regulationstheorie schließen, indem er die »Fragen nach der Transformation von Staatlichkeit, nach politischen Auseinandersetzungen sowie nach der Verbindung von Kräfteverhältnissen und gesellschaftlichen Projekten« nachverfolgt. Unter Regulationstheorien versteht er Ansätze, die sich mit Krisen und stabilen Phasen kapitalistischer Systeme beschäftigen. Dazu gliedert er seine Untersuchung in drei Perioden, nämlich die 1980er, 1990er und 2000er Jahre. Der Analyse dieser Perioden stellt er eine Vorstellung der Regulationstheorie in ihrer Genese und ihrer verschiedenen Ausprägungen voran.
Die Integration der Türkei in den Weltmarkt mittels verstärkter Exportorientierung und Liberalisierung war von einer Stärkung der Exekutive und der Schwächung des Parlamentes begleitet. Nebeneffekt der Liberalisierung ist laut Ataç das Anwachsen der Korruption. In Bezug auf die Zweitausenderjahre erklärt er den Erfolg der regierenden AKP mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, der mit einer restriktiven Geldpolitik, Privatisierungen und Deregulierungen erkauft wurde. Dass der Aufstieg der Partei mit der Finanzkrise von 2001 zusammenfällt, ist demnach auch kein Zufall.
Ataçs Hauptthese, die Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Ökonomie und Politik zulasten der Letzteren, kann er anhand der Beschreibung des GEGP belegen. Anders als viele deutsche Medien betrachtet er eine Islamisierung nicht als die größte Bedrohung des Landes durch die Regierung der AKP. Die Gefahr, das wird aus seinen Ausführungen deutlich, besteht vielmehr in einer Verknüpfung neoliberaler und konservativer Tendenzen.
Ataç bietet eine gute Ergänzung zu den beiden anderen Büchern, da er den Bogen zwischen ökonomischer Entwicklung und politischen Abläufen schließt. Zugleich zeichnet sich sein Buch durch eine komprimierte und gut strukturierte Darstellung staatstheoretischer Grundbegriffe aus.
Claire Horst
Tayfun Guttstadt: Çapulcu. Die Gezi-Park-Bewegung und die neuen Proteste in der Türkei. Unrast Verlag, Münster 2014, 325 S., € 11,99.
Deniz Yücel: Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei. Edition Nautilus, Hamburg 2014, 224 S., € 14,90
Ilker Ataç: Ökonomische und politische Krisen in der Türkei. Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, 191 S., € 24,90.