Die dichte Vergesellschaftung der Deutschen als Volksgemeinschaft wirkt in keinem Bereich so fort, wie im Feld ihrer kollektiven Erinnerung. Die Täter machten sich zu Opfern. Teil dieser Viktimisierung war die gemeinsam entwickelte und individuell realisierte Schuldabwehr bezüglich der nationalsozialistischen Vernichtungsrealität. Die Strategien dafür reichten von Ignorieren über Verleugnen zur Universalisierung der Shoah. Aber es war gerade der Paradigmenwechsel von einem volksgemeinschaftlichen hin zu einem dominant zivilgesellschaftlichen Modus der Erinnerung,(1) der es dem German Gedächtnis,(2) respektive seinen Trägerinnen und Trägern, weiterhin erlaubt, von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu profitieren. Die Kritik des sozialen Gedächtnisses der Deutschen kommt dabei nicht aus ohne eine Analyse des Konnex von volksgemeinschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Elementen bei der deutschen Art Geschichte zu machen. Dazu wird im Folgenden unterschieden werden müssen zwischen institutionalisiertem Gedächtnis und kollektivem Gedächtnis. Das Erste – das institutionalisierte Gedächtnis – stellt den öffentlichen Diskurs im weitesten Sinne dar (Medien, Gedenkstätten, Historiographie, Lehrpläne) und ist, wie gezeigt werden wird, dominant zivilgesellschaftlich geprägt. Das Zweite – das kollektive Gedächtnis – repräsentiert das private Erinnern der Deutschen, hat seinen Ort in der individuellen und familiären Gedenkpraxis und offenbart enge Bezüge zur Volksgemeinschaft – die Unterscheidung ist analytisch motiviert, die Erinnerungspolitik der Deutschen tritt nicht in dieser Trennschärfe auf. Zentral verfolgt werden drei Thesen.
Erstens: Das German Gedächtnis ist in der Volksgemeinschaft verankert, dabei aber zivilgesellschaftlich überformt. Wie in allen Elementen der deutschen Gesellschaft bildet die Zivilgesellschaft die liberale Hülle um einen regressiven Kern volksgemeinschaftlicher Ausrichtung. Im Falle des German Gedächtnisses ist dieser zeitstabil resistent gegen Aufklärung.
Zweitens: Die Kohärenz, die Geschlossenheit und der einheitsstiftende Kern des German Gedächtnis bleibt volksgemeinschaftlich. Die zivilgesellschaftlichen Elemente des German Gedächtnis dringen nur dann in das kollektive volksgemeinschaftliche Gedächtnis vor, wenn sie Anschlussfähigkeit in Sachen deutsches Opfertum beweisen können, also ihren Beitrag zur Viktimisierung der Deutschen leisten.
Drittens: Die zivilgesellschaftliche Komponente der Erinnerung ermöglicht die gesellschaftliche Modernisierung und die internationalen, vor allem eurostrategischen Ambitionen des deutschnationalen Projektes erneuter Machtentfaltung, versucht dazu aber offen nationalsozialistische Argumentationen und solche der Schlussstrichziehung zu unterdrücken. In den 1990er Jahren wurde der zivilgesellschaftliche Erinnerungsdiskurs hegemonial.
Erinnern á la Volksgemeinschaft
Die Volksgemeinschaft(3) war in den ersten Jahren des NS keine Erinnerungsgemeinschaft: Die nervöse Historisierung war unsicher und uneins in den Bezügen: Antike, Germanentum oder Mittelalter. Als Substitut wurde ein diffuser aber bombastischer Totenkult für die Toten des vorgängigen Weltkrieges und vor allem für die »Gefallenen der Bewegung« betrieben. Ansonsten war die Blutgemeinschaft präsentistisch oder zukunftsorientiert, Blut sollte Gedächtnis ersetzten. Die Siege der Wehrmacht in dichter Folge trugen dazu bei, die Entwicklung einer Erinnerungsgemeinschaft aus NS-Perspektive tendenziell überflüssig zu machen. Erst die Niederlagen, und hier allen voran Stalingrad, und die brechenden Fronten zwangen zum Mittel der Vergesellschaftung durch kollektiv organisierte Erinnerung.
Kurz vor seinem Tod versuchte Adolf Hitler in Mein politisches Testament dann den Nationalsozialismus selbst zur Geschichte zu machen, die Deutschen zur Erinnerungsgemeinschaft und damit eine Basis neuer deutscher Ambitionen zu formulieren: »Aus dem Opfer unserer Soldaten und aus meiner eigenen Verbundenheit mit ihnen bis in den Tod wird in der deutschen Geschichte so oder so einmal der Same aufgehen zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft«.
Die Volksgemeinschaft ging in der Frage des Gedenkens deutscher Opfer nahtlos in die Nachkriegsjahrzehnte über. Die Volksgemeinschaft kann nur als hierarchische und institutionalisierte existieren. Die genuinen ideologischen Bedürfnisse der Volksgemeinschaft werden aber vom zivilgesellschaftlichen Diskurs nur teilweise bedient, was die Kontinuität von nationalsozialistischen Ideologien schwächt, allerdings nicht unterbricht und damit das volksgemeinschaftliche Erinnern erschwert. Der Zusammenhalt der Deutschen muss zusätzlich andere Wege finden. Nichts geändert hat sich an der Homogenität in weiten Teilen der Erinnerung der Deutschen.
Erinnern á la Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft als deutsches Macht- und Modernisierungsprojekt ist erinnerungspolitisch fundiert. Die Bezugnahme auf den Nationalsozialismus und die Shoah waren konstitutiv für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen und sind integraler Bestandteil der meisten zivilgesellschaftlichen Argumentationsmuster. Unter den Deutschen waren es zuerst die AkteurInnen des sich entwickelnden Projektes Zivilgesellschaft, die sich überhaupt mit dem Thema Shoah beschäftigten, es wahrnahmen. In den politischen Biografien der AkteurInnen der Zivilgesellschaft spielt die Auseinandersetzung mit der Shoah eine wichtige Rolle. In dieser Auseinandersetzung entwickelten sich zivilgesellschaftliche ErinnerungsexpertInnen, die medial die Diskurse beherrschen, die die relevante Literatur liefern, die Debatten über öffentliches Gedenken konturieren und faktisch die Erinnerungspolitik bestimmen. Und sie tun es für Deutschland, wenn sie einfordern, die Verfolgten des Nationalsozialismus ernster zu nehmen. Der Leiter der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten, Günter Morsch, forderte im Zusammenhang mit der Debatte um den Graffitischutz am ›Holocaust-Mahnmal‹ durch Degussa, man müsse die Gefühle der Opfer ernst nehmen und verlieh seinem Wunsch Gewicht, indem er, als Mentor der NS-Opfer, die Verdienste der Gedenkstätten betonte, die Arbeit der Gedenkstätten habe mehr zum Ansehen Deutschlands beigetragen als die deutsche Außenpolitik.(4) Dabei unterschlägt er, dass nicht erst seit 1998 Erinnerungspolitik in Deutschland Außenpolitik ist. Die ErinnerungsexpertInnen finden auf der zivilgesellschaftlich gehypten lokalen Ebene ihre Entsprechung in einer Unzahl von erinnerungspolitischen Basisteams in Form von Geschichtswerkstätten, Geschichte-für-alle-Vereinen, geschichtswissenschaftlichen StudentInnengruppen usw.
Zentrale Kategorie der zivilgesellschaftlichen Politik ist, neben Partizipation, die vorgebliche Verhinderung von Leid. Interventionen der Zivilgesellschaft legitimieren sich über Leid. Der Opferbegriff ist dabei sozusagen in einem Vorgang der feindlichen Übernahmen abgeleitet von den Verfolgten des Nationalsozialismus.
Das zivilgesellschaftliche Erinnern zielt, so das Selbstverständnis, darauf, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Dazu muss es überall entdeckt werden, selbst in der Geschichte anderer Gesellschaften. Die deutsch-erinnerende Zivilgesellschaft bezieht sich dabei auf eine universalistische Lesart der Shoah in der Denktradition des postmodernen Philosophen und Soziologen Zygmunt Bauman: Auschwitz versteht dieser als universelles Menschheitsverbrechen und Produkt der Moderne und nicht als einen Zivilisationsbruch der benennbaren konkreten TäterInnen und Opfer. Diese universalistische Deutung findet sich realpolitisch in den kriegslegitimierenden Menschenrechtsargumentationen der Deutschen wieder. Umgekehrt versteht sich natürlich auch die Friedensbewegung als Antwort auf den Nationalsozialismus.
Der öffentliche Geschichtsdiskurs hat sich, im zivilgesellschaftlichen Modus, pluralisiert, ehemalige Volksfeinde und Vaterlandsverräter werden oft taktisch integriert: Am Bespiel des Widerstandes zeigt sich eine deutliche Tendenz, verschiedene Strömungen unbewertet nebeneinander stehen zu lassen. Die Auseinandersetzungen über die deutsche Geschichte haben sich vermehrt.(5) Heterogenität und Konfliktkultur gehören zum Selbstverständnis der Zivilgesellschaft. Diese Konflikte sind, wie noch gezeigt werden wird, in der Regel Scheinkonflikte und stellen das deutsche Projekt an sich nie in Frage.
Der letzte Streich in der zivilgesellschaftlichen Schuldabwehr ist der Versuch der Europäisierung der Shoah-Erfahrung, getragen von Intellektuellen wie Habermas und Sloterdjik. Versucht wird, unter Verschweigen der Täter-Opfergrenzen, die Shoah im Rahmen des Zweiten Weltkrieges verständlich zu machen und eine Europäisierung der Bezugnahme zu forcieren. Neben der Schuldumverteilung liegt die neueste Zumutung der Sinnzuweisung an Auschwitz nun zusätzlich in der Nutzbarmachung für ein euroidentitäres Projekt unter deutscher Führung.
Beide Stränge, zivilgesellschaftliches und volksgemeinschaftliches Erinnern, ergänzen sich und lassen sich zusammenführen. Das zivilgesellschaftliche Erinnern ist geprägt von teilweise konfliktiöser politischer Analyse, der Wahrnehmung des Leides der NS-Verfolgten, von temporären Konjunkturen und von Erinnerung auch an Details. Es stellt die Normativität des aktuellen German Gedächtnis und bildet seine allgemein wahrnehmbare Oberfläche. Die Erinnerung in Volksgemeinschaftsmanier ist widerspruchsfrei, konzentriert sich auf eigenes Leid, moralisiert, ist zeitstabil, bildet den Kernbestand des deutschen Erinnerns, fordert den Schlussstrich ein und rekurriert, wenn von »Bombenterror« oder »Kollektivschuldvorwürfen« die Rede ist, auf NS-Propaganda. Beide Modi wirken zusammen: das zivilgesellschaftliche Erinnern hat Laborcharakter und erfüllt die internationalen Verpflichtungen, sorgt also für die erinnerungstheoretische außenpolitische Beziehungspflege, u.a. indem es dysfunktional gewordene historische Deutungsmuster dekonstruiert. Die volksgemeinschaftliche Komponente stiftet Einheit und Kohärenz und liefert die Basis der individuellen Schuldabwehr.
Das German Gedächtnis wird theoretisch fundiert und gegen mögliche Kritik imprägniert, indem die Diskurse der Opfer gekapert werden, analytische Modelle wie das des kollektiven Gedächtnisses, der Oral History, der ZeitzeugInnenschaft, der Traumaforschung oder der lieux de mémoire (Erinnerungsorte) national identitär aufgeladen werden und gleichzeitig für die Einbettung angeblicher deutscher Opfer entleert werden. Dies ermöglicht eine Neuformulierung der neugeschichtlichen deutschen Mythen wie Stalingrad, Wilhelm Gustloff, Dresden.(6)
German Gedächtnis – empirisch
Die Aussage, die Deutschen würden sich nicht mit der Shoah beschäftigen, ist so falsch wie die, sie würden dies intensiv tun. Beide Analysen gehen von einem undifferenzierten Begriff des sozialen Gedächtnisses aus. Zwei umfassende empirische Studien, veröffentlicht 2002 und 2003, erlauben tiefe Einblicke in die deutschen Felder der Vergessens sowie in ihre Ehrenhallen.(7)
Die erste breite Studie zum sozialen Gedächtnis in Deutschland legte dieses Jahr der Soziologe Horst-Alfred Heinrich vor – hervorgegangen aus weit über 2000 ausführlichen Fragebogen-Interviews und mit einer umfassenden Auswertung.(8) Die für die Deutschen wichtigsten Ereignisse ›ihrer Geschichte‹ des 20. Jahrhunderts sind auf Platz 1 die Wiedervereinigung, gefolgt von der Zeit des Nationalsozialismus. Heinrich spricht hier von Globalkategorien, an die stabil, d.h. kontinuierlich und homogen erinnert wird. Die Kategorisierung Nationalsozialismus ist dabei irreführend. Was die Befragten meinten, war nicht der Nationalsozialismus an sich, so Heinrich, sondern der Zweite Weltkrieg. Wenn die Deutschen sich erinnern, erinnern sie sich dann dominant an drei Dinge: Fronterfahrung, Flucht und sogenannter »Bombenkrieg«. Es sind alles Ereignisse, in denen Deutsche sich als Opfer zu verstehen können meinen. Die Shoah ist kein Thema. Die öffentliche Debatte, die derzeit zu verfolgen ist, verläuft genau entlang dieser ›Stationen‹. Die Stalingrad-Erinnerung steht stellvertretend für die »Opfer an der Front«. Die öffentliche Debatte um den »Bombenkrieg«, in Folge von Friedrichs Brand und den Bombardierungsjahrestagen vieler deutscher Städte, hat als Referenz die angeblichen deutschen zivilen Opfer. Die Debatte um Flucht und Vertreibung ist verbunden mit der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen. Das klingt banaler, als es tatsächlich ist und erweckt einen falschen Eindruck. Heinrich verweist darauf, dass nach seinen Befunden scharf getrennt werden müsse zwischen dem, was die Masse der Deutschen denkt und erinnert und dem, was öffentlich medial vermittelt wird. Diese Unterscheidung wurde bereits oben vorgenommen. Heinrich stellte fest, dass der öffentliche Diskurs nur einen eher geringen Einfluss auf das kollektive Gedächtnis – das volksgemeinschaftliche – hat. Er kommt zu dieser Erkenntnis über die Shoah. Sie ist medial stark thematisiert, es gibt Standards der Erinnerung, öffentliches Fehlverhalten im Umgang mit ihr wird teilweise sanktioniert. Nur die Deutschen, alleine befragt, erinnern ihr nicht. In einer Konstellation offener Fragen erwähnen lediglich 1–3 Prozent die Shoah und NS-Verbrechen als zentrales Ereignis.(9) Erst nach der Konfrontation mit anderen Items, die auf die Shoah verweisen, wird sie von 8–12 Prozent der Befragten erwähnt. Dazu kommen noch verzerrende Effekte durch die Tendenz, konform zu antworten (Effekte der ›erwünschten Antwort‹) oder nicht zu antworten (Missing-Rate). Lediglich nach dem Belastungsgefühl befragt, zeigen sich vergleichsweise hohe Werte.
Die Deutschen kennen also die Normen der Erinnerung. Das unterscheidet auch den modernen, zivilgesellschaftlich geprägten, von dem konventionellen volksgemeinschaftlichen Erinnerungsdiskurs. Dennoch muss Heinrich attestieren: »Zugleich trägt die Anerkennung dieser normativen Vorgaben offensichtlich nicht dazu bei, dass die Shoah den Deutschen in dem Ausmaß im Gedächtnis präsent ist, wie bei einer Normanerkennung eigentlich zu erwarten wäre.« Das volksgemeinschaftlich-kollektive Gedächtnis weiß die Shoah zu ignorieren. Lediglich ein oberflächlicher Modus der Shoah-Erinnerung ist teilweise abrufbar. Auch an einem anderen Punkt klaffte eine Lücke zwischen starker und dominanter öffentlicher Präsenz und breiter gesellschaftliche Ignorierung oder Ablehnung: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus spielt im öffentlichen Diskurs eine äußerst große Rolle. Er ist zentraler Referenzpunkt der Zivilgesellschaft, deren Pluralitätsverständnis sich auch in der Tendenz zeigt, verschiedene Gruppen im Widerstand unbewertet nebeneinander zu stellen.(10) Der volksgemeinschaftliche Modus ignoriert (mit unter 1 Prozent der Befragten) den Widerstand als Thema weitestgehend; auf Handlungsalternativen verweisend verträgt sich diese Erinnerung nicht mit den volksgemeinschaftlichen Strategien der Schuldabwehr. Die aufgezeigten Widersprüche spalten nicht die deutsche Gesellschaft, da die zivilgesellschaftliche Hegemonialität besteht und gemeinsame Interessen dominieren. Die Widersprüche und deren Verhandlung bilden allerdings den Subtext aller erinnerungspolitischen Debatten der Deutschen.
Die sozialpsychologisch analysierende Studie einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern um Harald Welzer ist die erste qualitativ arbeitende Großstudie zum Erinnern der Deutschen bezüglich der AkteurInnen, d.h. der NS-TäterInnen.(11) Die Intention der Studie war nicht die Analyse der Taten und der Verantwortung, sondern des Modus der Erinnerung an das TäterInnenkollektiv. Auch die Ergebnisse dieser Studie stützen obige Thesen zu Volksgemeinschaft und Zivilgesellschaft im German Gedächtnis. Die Studie kam zu zwei zentralen Ergebnissen: Erstens muss bei den Deutschen zwischen Geschichtswissen (in unserem Sinne institutionell und medial vermittelt und der zivilgesellschaftlichen Norm folgend) und Geschichtsbewusstsein (gespeist aus den Ressentiments der Volksgemeinschaft) scharf getrennt werden. Zweitens ist es in der Regel das Geschichtsbewusstsein, das konturiert, wie der deutschen Geschichte erinnert wird und wie das Geschichtswissen angewendet wird. Um es vorwegzunehmen – stets zugunsten der deutschen TäterInnen. Das Alltagsgespräch über den Nationalsozialismus ist dominiert vom volksgemeinschaftlichen Erinnern.
Die Narrative der TäterInnengeneration werden stetig im familiären Gespräch verändert und aktualisiert, durch die TäterInnen selbst, ihre Kinder und Enkel. Dabei sind inkonsistente Erzählungen besonders geeignet, um TäterInnen in Opfer umzudeuten, zu viktimisieren. Dabei werden auch immer NS-Ideologeme reproduziert. Mehr als zwei Drittel der Erzählungen bestehen aus deutschen Opfer- und Heldenerzählungen. Die TäterInnengeneration verschweigt dabei und lügt um. Die Folgegenerationen, also ihre Kinder und Enkel, viktimisieren oder heroisieren die TäterInnengeneration und interpretieren auch konkrete und bekannte Taten als Akte des Widerstands. Im Zusammenhang der von Generation zu Generation zunehmenden Entlastung der TäterInnen spricht die Autorengruppe von einer »kumulativen Heroisierung«.
Die Narrative über angebliches Leid und Opfertum der Deutschen werden präsentiert in der Ikonographie der Shoah-Erinnerung: Bilder des Transportes von Soldaten und Flüchtlingen in Viehwagons, von der angeblichen Brutalität der alliierten Soldaten, die Zivilisten töten, von Leichenbergen usw. Szenarien aus Filmen und Romanen werden in die Erlebnisberichte integriert und unhinterfragt akzeptiert. Die Erzählungen sind weiterhin geprägt von rassistischen und antisemitischen feindbildhaften Stereotypisierungen, vom »Russen« und vom »Juden«. Diese Stereotypisierungen werden von Kindern und Enkeln fortgeschrieben. In den Erzählungen benutzt die Täter-innengeneration die narrative Technik des »leeren Sprechens«. Diese Technik belässt den Gegenstand diffus und konturlos, um so interpretatorische Freiräume zu erzeugen. Vage Andeutungen zu den KZs lassen die Nachgeborenen glauben, dass ihre Vorfahren nichts darüber wussten. Die Kritikfähigkeit der TäterInnengeneration bezüglich des eigenen Verhaltens im Nationalsozialismus und die Kritik der Angehörigen daran geht gegen Null.
Strategien der Selbstviktimisierung
Die gegenwärtigen Mechanismen der Viktimisierung im Gleichklang von zivilgesellschaftlichen und volksgesellschaftlichen Erinnerungsmodi lassen sich exemplarisch an der nun weitestgehend überschaubaren erneuten Auseinandersetzung um den sogenannten Bombenkrieg nachzeichnen.(12) Alle Elemente des German Gedächtnis lassen sich identifizieren: falsche Begriffsbezeichnung, Scheindebatten-Charakter, Entkontextualisierung, Viktimisierung der TäterInnen, Vereinnahmung der Opfer, Rekurs auf Shoah-Bilder, politische Funktionalisierung, zivilgesellschaftliche PartnerInnen/AkteurInnen, internationale KronzeugInnen, angeblicher, notwendiger Tabubruch und angebliche internationale ZensorInnen. Im Folgenden sollen sie im Einzelnen exemplifiziert werden.
Schon die Bezeichnung spricht Bände, denn »Bombenkrieg« evoziert die Vorstellung eines (angeblich unnötigen) Separatkrieges, über den getrennt vom Rest verhandelt werden könne und der eindeutig als verbrecherisch verstanden werden könne. Die Schein-Debatte wird geführt über die völlig irrelevante Frage, ob die Bombardierungen so wie sie waren notwenig waren. So wird in einem der Bände der Deutschen Erinnerungsorte gefragt, und zwar bezüglich des Erinnerungsortes Dresden: »Aber waren die Luftschläge, die das alte Dresden auslöschten, sinnlos?«(13) Die Frage wird gestellt, aber nicht diskutiert, sie ist rhetorisch gemeint, und das wissen die Deutschen. Dazu kommen KronzeugInnen ins Spiel. Zitiert werden ausschließlich britische Quellen, die die Bombardierung der Operation »Thunderclap« ablehnen. Die Entkontextualisierung zeigt sich, wenn selbstverständlich nicht oder nur marginal derer gedacht wird, die Opfer des NS waren, oder denen, die ihr Leben lassen mussten in seiner Bekämpfung. Im Falle des sogenannten Bombenkriegs gegen Deutschland waren das zehntausende Angehörige der alliierten Luftstreitkräfte. Dass diesen nicht gedacht wird, sondern dem TäterInnenkollektiv, setzt eine historische Entkontextualisierung voraus: Die Ausblendung von Kriegsursachen, die Ausblendung der tödlichen Wirksamkeit und das Ausmaß der Kooperation der Volksgemeinschaft. Die Deutschen seien fraglos Opfer der Bombardierung, im Falle Dresden kann gesellschaftlich die Viktimisierung der TäterInnen zusätzlich dadurch verfeinert werden, dass ein doppeltes Opfertum beklagt wird: Bombardierte Flüchtlinge. Jörg Friedrich reichte es nicht, TäterInnen zu Opfern zu machen, aus BefreierInnen mussten TäterInnen werden. Die Bomberverbände nennt Friedrich »Einsatzgruppen«, eine feststehende Bezeichnung für die deutschen Mordkommandos hinter der Ostfront, aus den Bunkern der Volksgemeinschaft werden bei Friedrich »Krematorien« und der Brand, damit endet Friedrich, stellt »die größte Bücherverbrennung aller Zeiten« dar. Sowohl bei Friedrich in der Brand, bei Walser in der Verteidigung der Kindheit, als auch im Dresden-Aufsatz der Deutschen Erinnerungsorte wird implizit höhnisch auf den Tod von damals noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden verwiesen. Die Vereinnahmung der Opfer macht sie zu Opfern der Alliierten. Jörg Friedrich prangert an, dass zwar angeblich ganz Deutschland zerstört worden wäre, nicht aber die Gleise nach Auschwitz. Die Verantwortung für die Shoah wird so weitergereicht.
Dass die Deutschen sich als Opfer- und GenozidexpertInnen verstehen, ist Teil der politischen Funktionalisierung. Sie meinen am besten beurteilen zu können, welche Kriege geführt werden dürfen (die nämlich, die die Deutschen führen wollen) und welche nicht geführt werden dürfen (wenn z.B. die Interessen der USA mit denen Deutschlands kollidieren). Dadurch, dass man sich selbst als Opfer stilisiert, kann souverän mit der Shoah umgegangen werden: Sie ist außenpolitisch operationalisierbar und stellt für das deutsche Sentiment weiter keine Belastung dar. Im deutsch-hegemonialen Europaprojekt dienen die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg als entkontextualisierte Euroerfahrung zur Identitätsstiftung. In allen Aufwallungen des German Gedächtnis liegt ein angeblicher Tabubruch vor: Die Deutschen hätten nie der Bombardierung deutscher Städte gedenken ›dürfen‹. Dahinter steht die Vorstellung externer Diskurszensur, die Vorstellung, dass die Alliierten oder die NS-Opfer Deutschland kontrollieren würden und Befreiung von dieser Kontrolle geboten sei. Die Deutschen haben, das zeigen die Studien, immer der Bombardierung deutscher Städte gedacht. Auch im institutionalisierten Gedächtnis war hier nur kurz Zurückhaltung gegenüber den Westalliierten zu bemerken. Das Thema Bombardierung der Deutschen füllte Alltagserzählungen wie Literatur.(14) Im Gleichklang befanden sich offizielles Gedenken und privates Erinnern in der DDR, wo Regierende vom Luftterror der angloamerikanischen Imperialisten sprachen, von »angloamerikanischen Luftgangstern«, der »räuberischen Fratze des amerikanischer Imperialismus, des ärgsten Feindes der Menschheit«. Damit sind wir bei den zivilgesellschaftlichen AkteurInnen angekommen. Diese Argumentationen könnten Zitate aus der deutschen Friedensbewegung sein, wenn sie in ihren Demonstrationen alles in eins dachten – Bagdad und Dresden, die Kontinuität amerikanischer Aggression. Mit Jörg Friedrich haben wir einen idealtypischen deutschen Zivilgesellschafter des Erinnerns: Als kritischer NS-Forscher und Mitarbeiter der deutschen Ausgabe der über jeden Zweifel erhabenen Enzyklopädie des Holocaust repräsentiert er eine Generation von linken Historikern und Journalisten, die den Erinnerungsdiskurs dominieren.
Die Erinnerung an die Bombardements durch die Alliierten begann im NS, war volksgemeinschaftlich und wurde so in das kollektive Gedächtnis der Deutschen überführt. Die Stränge der volksgemeinschaftlichen Erinnerung bestehen fort, die zivilgesellschaftliche Überformung besteht in einer außenpolitisch motivierten Vorsicht in der Anprangerung der Alliierten, im engen Kontext von Friedensbewegung und Kriegserinnerung, in bestimmten linken Formen des Antiamerikanismus, in der außenpolitischen Nutzbarmachung durch Rot-Grün und nicht zuletzt in den AkteurInnen der Debatten, die sich in vielen Fällen als kritische NS-ForscherInnen, teilweise auch Shoah-ForscherInnen einen Namen gemacht haben.
Die Zukunft des Gedächtnisses der Deutschen wird seine Themen in der Regionalisierung der Erinnerung an den Bombenkrieg (2003–2005) finden, in der (lediglich öffentlich vollzogenen) Würdigung des deutschen Widerstands (2004), in der Klage über die deutschen Toten des Ersten Weltkrieges (2004), in der Zwangsarbeit und Gefangenschaft von Deutschen und in den Leistungen der Trümmerfrauen (das deutsche Erinnern der beiden letztgenannten ist vor allem ab 2005 zu erwarten).(15) Die Vorstellung von irgendeiner Legitimität von so etwas wie Deutschland grenzt nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz an den Wahnsinn der Tat selbst an. Dass dies nicht so gesehen wird, ist u.a. Ergebnis von knapp 60 Jahren erfolgreicher deutscher Erinnerungspolitik seit dem Nationalsozialismus.
Fußnoten:
(1) Zum hier verwendeten Begriff der Zivilgesellschaft; vgl. Phase 2.07 und der Artikel »Volksgemeinschaft, die keine ist, ist keine« in dieser Ausgabe.
(2) Vgl. Schwerpunkt Phase 2.09.
(3) Auch zum Begriff der Volksgemeinschaft: oben genannter Artikel dieser Ausgabe.
(4) FAZ, 25. Oktober 2003.
(5) Die zivilgesellschaftlich geprägte deutsche NS- und Shoah-Forschung arbeitet auf international hohem Niveau. Auf entsprechenden internationalen Tagungen stellen sie, neben Israelis und Amerikanern, den Großteil der WissenschaftlerInnen zum Thema.
(6) Die Deutschen hatten schnell drei Bände mit Erinnerungsorten gefüllt: Neben Auschwitz und Oberammergau wurde auch die Flucht als Ort gefasst, Dresden stand für die »Bombenopfer« und Stalingrad für das Leid an der Front. Siehe Etienne Francoise u. Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 2001, 3 Bde.
Zur feindlichen Übernahme von Opferdiskursen: Die Reihe »Stille Post« von Günther Jakob in Konkret 1999 und die Artikel »Stalingrad – die Deutschen verdauen eine Schlacht« (Phase 2.06) und »German Gedächtnis – Das Konzept einer feindlichen Übernahme« (Phase 2.09).
(7) Die Studien mit ihrer nichtintendierten Diskreditierung der Deutschen wären noch extremer ausgefallen, hätten nicht beide Erhebungen eine sehr hohen Missing-Rate gehabt, die aus der hohen Verweigerungshaltung in Antwortverhalten oder Teilnahme derer resultierte, die einen Schlussstrich unter die Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen wünschten.
(8) Horst-Alfred Heinrich, Kollektive Erinnerungen der Deutschen. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zum sozialen Gedächtnis, Weinheim und München 2003.
(9) Heinrich zieht für diese Ergebnisse zusätzliche Studien heran: Howard Schuman u.a., Collective memories of Germans and Japanese about the past half-century, in: Memory 6, 427–454, 1998 und Thomas Blank u.a., Pretest 6. Politbarometer Münster 1/95 – Stichprobenbeschreibung, Fragebogen und Häufigkeitsauszählung, Gießen 1995.
(10) Sichtbar am Selbstverständnis der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und in den zentralen Bänden: Peter Steinbach u. Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994; Peter Steinbach, Widerstand im Widerstreit – Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, Paderborn 2001.
(11) Harald Welzer u.a., »Opa war kein Nazi« – Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M 2002.
(12) Der relevanteste Titel der Debatte erschien im November 2002: Jörg Friedrich, Der Brand – Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 2002.
(13) Olaf B. Rader, Dresden, in: Francois a.a.O., Bd.3.
(14) Vgl. Literatur-Konkret 10/2003.
(15) Im Falle der Gefangenen gab Knopp die Richtung schon vor, im Falle Erster Weltkrieg halluzinierte die tageszeitung, dass der Erbfeind’ seiner Gefallenen gedenkt, nicht aber die Deutschen (taz, 11. November 2003).
Phase 2 Leipzig