Die unverstandene Theorie

Kein anderer naturwissenschaftlicher Erklärungsvorschlag hat die gesellschaftliche Auseinandersetzung um menschliches Zusammenleben stärker geprägt, als die Theorie der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Lebens. Diese Theorie war seit ihrer Formulierung Gegenstand heftiger Debatten. Nachdem die Ablehnung der Evolutionstheorie jüngst vor allem als amerikanisches Phänomen galt, muss der Kreationismus nun auch in Europa als eine zu diskutierende Strömung angesehen werden. Dafür plädiert zumindest der Sammelband Die unerschöpfte Theorie – Evolution und Kreationismus in Wissenschaft und Gesellschaft, der die Beiträge einer im Sommer 2007 abgehaltenen Tagung versammelt. Zwei Themenblöcke verspricht der Band zu bearbeiten: Erstens die »Auseinandersetzung um Evolution und Schöpfung als gesellschaftliche[n] Konflikt« und zweitens die Frage, welche Rückschlüsse aus einem naturalistischen, auf den Theoremen der Evolution basierenden Weltbild für das soziale Leben gezogen werden können, »ohne dabei dem Ziel gesellschaftlicher Emanzipation entgegenzulaufen«.

Die sich der Auseinandersetzung um die Leugnung der Evolution und den Kreationismus widmenden Beiträge sind überwiegend von BiologInnen verfasst, wobei der Akzent deutlich auf den bildungspolitischen Sektor gesetzt ist. Als Aufmacher dienen mehrfach die Vorschläge führender deutscher CDU-PolitikerInnen und KirchenvertreterInnen, den Schöpfungsmythos in den Biologieunterricht einzuführen und der Evolutionstheorie gleich zu stellen. Wichtig scheint den AutorInnen im besonderen Maße, dass sich Kreationismus als politisch-religiöse Strömung und die »im wissenschaftlichen Gewand eingekleidete« Intelligent-Design-Theorie in den USA zwar eines großen Rückhaltes erfreuen, längst aber keine us-amerikanischen Ausnahmeerscheinungen mehr darstellen. Einzig der Tatsache, dass »es bis heute keine sozialwissenschaftliche Untersuchung zum Phänomen des Kreationismus in Deutschland« und »zum sozialen Umfeld der KreationistInnen« gibt, sei es geschuldet, dass die Bewegung in Deutschland und Europa bisher kaum kritisch betrachtet wurde. Die AutorInnen des ersten Buchteils geben zwar eine gute Einführung in den Diskurs um den »Streitfall Evolution« und zu den Begrifflichkeiten der Debatte. Ein gut strukturierter Überblick über die deutsche und europäische Evolutionskritik gelingt ihnen letztlich aber doch nicht. Besser vermittelt wird, von welchen strukturellen Fehlvorstellungen und falschen Analogieschlüssen die positive Aufnahme der Evolutionstheorie begleitet wird. So macht der Sammelband auf der einen Seite die Komplexität des Konzeptes der Evolutionstheorie für den Kreationismus verantwortlich, auf der anderen Seite das postsäkulare Zeitalter, mit seinen »privaten (weltanschaulichen) Trägern« des Bildungsmarktes, »Home Education« und einer »christlichen Parallelgesellschaft in Deutschland«.

Den Kern des zweiten Teils der Publikation bilden die Bedeutung der Evolutionstheorie für Schlussfolgerungen im Bereich des Sozialen und ihre Rezeption in Kultur- und Geisteswissenschaft. Den VerfasserInnen dieses zweiten Themenblockes liegt es spürbar am Herzen, die Lesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, Biologie und Geisteswissenschaft als sich wechselseitig beeinflussende Wissenschaften anzuerkennen, da eine Trennung zu deterministischen Weltanschauungen wie »undarwinistischem Sozialdarwinismus« und zu »unbiologische[n] Konzepte[n] von Höherentwicklung und Rasse« führe. Der Vorschlag ist, das gegenseitige Ausschlussverhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften als überholt anzusehen. »Das gilt für viele gesellschaftliche Debatten, etwa um Erziehung und über Gender«. Warum Rassismus in Deutschland wenig mit Darwin zu tun hat, erläutert der Beitrag »Darwin ist unschuldig«, in dem Utz Anhalt die Entwicklung des biologistisch geprägten Rassismus in Deutschland zusammenfasst und festhält: »Eine Verbindung zwischen Darwins Evolutionstheorie und vernichtendem Rassismus vollzog [erst] Ernst Haeckel«.

Den lesenswertesten Artikel formuliert die Psychologin Vanessa Lux. Ihr Beitrag »Biologismen in Soziobiologie und Evolutionärer Psychologie« verfolgt einen funktionskritischen Ansatz, indem sowohl das »biologistisch verkürzte« Gen-Modell der Soziobiologie (Richard Dawkins), als auch das Konzept der Evolutionären Psychologie scharf kritisiert werden und Vanessa Lux sich in ihrem Fazit bei Adorno anlehnt und konstatiert, »dass der Wissenschaftsapparat in der bürgerlichen Gesellschaft immer auch der Ideologieproduktion diente« und dient.

Insgesamt ein Sammelband, in dem linke Natur- und GeisteswissenschaftlerInnen den Kampf mit Windmühlen aufnehmen und versuchen, einer bis dato gesellschaftspolitisch eher konservativ geprägten Biologie einen emanzipatorischen Anstrich zu verpassen. Den Lesenden bleibt die Erkenntnis, dass die Evolutionstheorie unerschöpft, vielmehr aber noch unverstanden ist.

Christoph Antweiler, Christoph Lammers, Nicole Thies (Hrsg.): Die unerschöpfte Theorie. Evolution und Kreationismus in Wissenschaft und Gesellschaft, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2008, 224 S., € 15,00.

BRUNO BERHALTER