Die westliche Intervention hat Afghanistan keine gesellschaftliche Demokratisierung gebracht, eine linke Befreiungsstrategie gibt es nicht. Bevor Lösungen gefunden werden können, muss nach den Ursachen des Desasters gefragt werden. Die deutschen Soldaten hatten sich sehr auf den Besuch des Ministers gefreut, zumindest behaupteten das ihre Offiziere. Doch sie mussten auf das Schulterklopfen und die motivierende Rede Karl-Theodor zu Guttenbergs verzichten, denn die Quick Reaction Force in Baghlan war am 16. Juli mit einem Gefecht beschäftigt. Der Hubschrauber des Verteidigungsministers musste abdrehen.
Man hatte sich diesen Einsatz anders vorgestellt. Das UNO-Mandat für Afghanistan solle »auf maximal zwei Jahre begrenzt und robust sein nach Kapitel VII der UN-Charta: Ein entmilitarisiertes Kabul, den Flughafen, die Verbindung dorthin sichern und damit die Übergangsregierung. Es ist nicht sinnvoll, das ganze Land mit einer internationalen Streitmacht sichern zu wollen.« Das hatte Ende 2001 der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) gefordert. Statt 14000 sind nun mehr als 140000 ausländische Soldaten im Einsatz, dennoch ist es nicht gelungen, das Vordringen der Taliban zu stoppen.
In allen westlichen Regierungen werden mehr oder minder offen »Exit-Strategien« diskutiert. Ein Programm zur Reintegration »reuiger« Jihadisten wurde im Februar bei der letzten internationalen Konferenz in London bereits beschlossen. Bei der Konferenz in Kabul im Juli sprach sich US-Außenministerin Hillary Clinton zwar gegen die Pläne des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai aus, mit den Taliban-Führern auch über eine Teilung der Macht zu sprechen. Gestritten wird jedoch vornehmlich über taktische Fragen. Die US-Regierung würde gerne aus einer Position der Stärke verhandeln und hofft noch auf einen Erfolg der derzeit laufenden Militäroperationen. Überdies besteht sie auf Garantien dafür, dass sich die Taliban von al-Qaida trennen.
Vor allem von deutschen Politikern wurden die Integrations- und Verhandlungsbemühungen mit verdächtigem Enthusiasmus gelobt. So glaubt Guttenberg, dass Afghanistan »gerade wegen seiner Geschichte und seiner Prägung sich nicht als Vorzeige-Demokratie nach unseren Maßstäben eignet«, und fragt »wer von den Aufständischen stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Staatengemeinschaft dar und wem geht es um afghanische Angelegenheiten. Die Frage der Menschenrechte muss dabei einbezogen werden, ohne die gewachsenen Kulturen in Afghanistan zu ignorieren.« Kanzlerin Angela Merkel bezeichnete es als »vermessen«, aus Afghanistan eine »Demokratie nach unseren Kriterien« machen zu wollen.
Improvisierte Demokratisierung
Fraglich ist allerdings, ob es jemals beabsichtigt war, aus Afghanistan eine »Vorzeige-Demokratie« zu machen. Zwar hat der US-Präsident George W. Bush die revolutionäre Tradition der Bourgeoisie noch einmal aufgegriffen und universale Werte propagiert, aber er wollte auch auf kulturelle Besonderheiten Rücksicht nehmen und sprach die Bewohner islamischer Staaten vornehmlich als Muslime an. Ernsthafte Konsequenzen hatte seine Kritik an Autokratien und Diktaturen nur selten, und eine Demokratisierungsstrategie gab es nicht. Auch im Irak wurde nach dem Prinzip trial and error improvisiert. Dennoch war Bushs Anfang 2004 vorgelegte und mittlerweile wieder in Vergessenheit geratene Greater Middle East Initiative, die Demokratisierung und Reformen propagierte, eine Herausforderung für die muslimischen Potentaten.
Seine Amtszeit hatte Bush jedoch als »Isolationist« begonnen, er befürwortete eine strikt auf die Vertretung unmittelbarer nationaler Interessen ausgerichtete Außen- und Interventionspolitik. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war eine militärische Reaktion jedoch unausweichlich. Der US-Journalist Bob Woodward hat anhand von Interviews mit den Beteiligten die Kriegsplanung in seinem Buch Bush at War Bob Woodward, Bush at War. Amerika im Krieg, Stuttgart/München 2003. [New York 2002] beschrieben. Woodward wurde oft und nicht ganz zu unrecht vorgeworfen, den Mächtigen zu nahe zu sein, doch dürfte seine Darstellung, abgesehen von den Staatsgeheimnisse betreffenden Lücken, auf die er im Vorwort selbst hinweist, überwiegend korrekt sein.
Der Afghanistan-Krieg war in politischer wie militärischer Hinsicht eine Improvisation. In Windeseile wurden Verbündete gesucht. Die Militärstrategie folgte dem Konzept des »schlanken Krieges«, das der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vertrat. Nachdem eine mehrwöchige Bombardierung die Taliban zermürbt hatte, sollte die Rolle der US-Bodentruppen im Wesentlichen auf die Koordinierung der Vorstöße afghanischer Verbündeter beschränkt bleiben. Die Strategie war erfolgreich, ermöglichte es aber wahrscheinlich dem in Tora Bora eingeschlossenen Osama bin Laden, sich durch die Bestechung afghanischer Hilfstruppen den Weg nach Pakistan zu bahnen. Bedeutsamer noch war, dass man die Verbündeten vornehmlich unter den Warlords der Nordallianz fand, die sich gegen die Übermacht der Taliban hatten halten können. Sie konnten bei der Machtverteilung nun schwerlich übergangen werden.
Das nation building war für die US-Regierung eine unbequeme Notwendigkeit, mit der man sich nicht befassen wollte. Die politische Führung wurde Deutschland überlassen. In Afghanistan eine parlamentarische Demokratie einzuführen war aus politischen und praktischen Gründen unumgänglich. Entsprechend den Konzepten, die bereits in afrikanischen Bürgerkriegsstaaten angewendet worden waren, wurde eine Aufteilung der Macht unter den Warlords ausgehandelt. Mit Hamid Karzai wurde ein Zivilist ohne eigene Miliz zum Präsidenten gemacht, weil man eine international präsentable Person an der Staatsspitze benötigte, vor allem aber weil nur jemand, der keine Kriegspartei führte, vermitteln und das System zusammenhalten konnte.
Dass diese Konstellation der gesellschaftlichen Demokratisierung nicht dienlich sein würde, kann niemandem entgangen sein, der an den Verhandlungen beteiligt war, die Ende 2001 in Petersberg bei Bonn geführt wurden. Die deutsche Vorliebe für »gewachsene Kulturen« und den »Dialog« mag eine Rolle gespielt haben. Doch handelte die Bundesregierung im Auftrag der »internationalen Gemeinschaft«, wie der UN-Gesandte Lakhdar Brahimi durch seine Unterschrift bezeugte. Das damals geschlossene Abkommen erklärt den Jihad gegen die Sowjetunion zum Gründungsmythos des neuen Afghanistans. Die Mujaheddin hätten eine »wichtige Rolle im Kampf gegen den Terrorismus« gespielt und seien so zu »Helden des Jihad« geworden. Die im Jahr 2004 verabschiedete Verfassung macht die »Bewunderung für die höchste Position der Märtyrer« zur Grundlage der »Islamischen Republik«, die Justiz muss den »Bestimmungen der heiligen Religion des Islam« folgen.
Die Verfassung garantiert auch Demokratie und Menschenrechte, doch in der gesellschaftlichen Praxis werden viele Regeln einer streng ausgelegten Sharia angewendet. Technokratische Maßnahmen bewirken auch eine Modernisierung in Teilen der Gesellschaft, die Anwesenheit ausländischer Truppen bietet einen gewissen Schutz für säkulare Gruppen. Besondere Maßnahmen zu deren Förderung gab es jedoch nie. Der Wiederaufbau hat Fortschritte vornehmlich in der Bildungspolitik gebracht, einem Bereich, in dem die Taliban mit ihrer Ablehnung der Mädchen- und Frauenbildung eine von anderen islamistischen Organisationen nicht geteilte extremistische Haltung einnehmen.
Die Mädchenbildung war bereits während der sowjetischen Besatzungszeit in den achtziger Jahren umstritten gewesen. Damals waren es die AntikommunistInnen im Westen, die eine Achtung der »gewachsenen Kultur« afghanischer Patriarchen vertraten. Die DKP und viele andere linke Gruppen lobten hingegen das ambitionierte Reformprogramm der prosowjetischen Regierung Afghanistans, ignorierten oder bestritten jedoch die Kriegsverbrechen der Roten Armee, die weit brutaler vorging als die NATO. Reaktionäre Sozialromantik in Form von Solidarität mit den Befreiungsbewegungen gab es auch damals. Doch StalinistInnen wie RätekommunistInnen gingen von der Geltung universaler Prinzipien aus. Niemand kam in der linken Debatte davon, ohne etwas zu den Themen Klassenpolitik und Frauenrechte gesagt zu haben.
Kein westlicher Politiker würde es wohl zugeben, doch ist die NATO in einer ähnlichen Lage wie es die Rote Armee war. Sie vertritt das fortschrittlichere politische Programm, es mangelt jedoch an einer Basis in der afghanischen Gesellschaft, um es zu verwirklichen. Es geht dabei nicht um die Mehrheits-, sondern um die Machtverhältnisse. Bei einer Umfrage im vergangenen Jahr gaben 78 Prozent der AfghanInnen an, die Demokratie sei die beste Regierungsform, 87 Prozent befürworteten die Frauenbildung. Zwar dominiert ein religiöser Konservatismus, eine Gay Pride-Parade wird in Kabul in absehbarer Zeit nicht stattfinden können, eine Demokratie auf dem Niveau des Westens vor 1968 aber fände wohl breite Unterstützung. Die vom Westen legitimierte Neuordnung, in der die parlamentarischen Institutionen nur den Rahmen für den Machtkampf der Warlords bilden, behindert jedoch die gesellschaftliche Demokratisierung.
Niemand unter den AnhängerInnen der Friedensbewegung und der Gruppen des linken Mainstreams würde wohl zugeben, dass er oder sie faktisch die Position der AntikommunistInnen der achtziger Jahre einnimmt, wenn ein bedingungsloser Abzug der ausländischen Truppen gefordert wird. Sofern die gesellschaftliche Situation in Afghanistan überhaupt reflektiert wird, gilt das Dogma, dass der Truppenabzug die Chance zu einem tragfähigen Frieden beinhalte. Dies behauptete Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, erneut in einer Anfang Juli veröffentlichten Stellungnahme. Nur ein weiterer Appell? Zu den Chancen der Friedensbewegung, in der Afghanistan-Frage die Initiative zu ergreifen, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/bewegung/afgh/appell-stru.html Etwas vorsichtiger als bislang in der Friedensbewegung üblich fährt er fort: »Dies ist nicht so zu verstehen, als würde mit dem Abzug der NATO-Truppen in Afghanistan der Frieden ausbrechen. Viel eher werden sich manche Konflikte (z.B. zwischen der delegitimierten Zentralregierung und den Regionen oder zwischen Warlords, Drogenbaronen und Clans) verschärfen, bevor sich die Zivilgesellschaft zu einem neuen Miteinander ›zusammenrauft‹.«
Unklar bleibt, von welcher Zivilgesellschaft Strutynski spricht und wie das »neue Miteinander« aussehen soll. Als Befreiungs- oder auch nur Befriedungskonzept kann diese schwammige, durch keinerlei empirischen Befund gestützte Prophezeiung schwerlich gelten. Tatsächlich gibt es nur ein Beispiel für das »Zusammenraufen«. Somaliland, dessen Unabhängigkeit weder vom Westen noch von der UNO anerkannt wird, ist das einzige Beispiel für eine interne Einigung. Sie basiert offenbar auf einer Aufwertung der traditionellen Autoritäten, aber auch auf einem konsequenten Ausschluss der Islamisten, und sie war wohl nur möglich, weil sich die Kriegswirtschaft der Warlords noch nicht fest etabliert hatte.
Der Islamismus wird häufig missverstanden als Rückkehr zur Tradition. Doch der »Volksislam« wird von den Islamisten als Abweichung vom Weg Gottes betrachtet. Sie propagieren die angeblichen Werte der frühislamischen Gesellschaft als Ideal. Ursprünglich war der Islamismus eine vor allem von unzufriedenen Angehörigen der Mittelschicht getragene Bewegung, die ein korporatistisches Gesellschaftsmodell und eine technokratische Modernisierungsideologie vertrat. In Bürgerkriegsstaaten wie Afghanistan und Somalia hingegen entstanden Bewegungen, die der Islamwissenschaftler Olivier Roy als »neo-fundamentalistisch« bezeichnete. Sie sind ein Produkt der gesellschaftlichen Zerrüttung, die Bewegung der Taliban etwa entstand in pakistanischen Flüchtlingslagern. Ihnen fehlen eine intellektuelle Führung und eine Entwicklungsorientierung, sie sind vornehmlich damit beschäftigt, ihre Vorstellung von einer »islamischen Gesellschaft« mit puritanischem Tugendterror durchzusetzen. Damit bringen sie nicht nur die Säkularisten, sondern auch die Traditionalisten gegen sich auf, zumal sie viele gesellschaftliche Regeln brechen und beispielweise die Altershierarchie nicht achten: Im Bürgerkrieg essen die bewaffneten jungen Männer vor den Ältesten. Auch die Warlords sind ein Produkt der gescheiterten Modernisierung, zumeist self-made men, die ihre Position als Offizier, Bürokrat oder Unternehmer nutzten, um sich mit einer Privatarmee selbstständig zu machen. Die meisten Warlords gelten als Repräsentanten einer Bevölkerungsgruppe und stellen sich auch selbst so dar, doch entmachten sie die traditionellen Autoritäten.
Im wirklichen Leben ist allerdings alles viel komplizierter. Was als Tradition gilt, wird von jeder Generation neu bestimmt. Da die alten Stammes- und Clanstrukturen längst zerfallen sind, vermischen sich die Herrschaftsformen, sodass häufig unklar ist, ob ein lokaler Führer seinen Einfluss der familiären Herkunft, der Überzeugungskraft seiner Predigten, seinem Vermögen oder der Brutalität seiner Privatmiliz verdankt. »Afghanistan macht sogar die Afghanen konfus«, sagte US-General Stanley McChrystal, der bis vor Kurzem die ausländischen Truppen in Afghanistan kommandierte.
Doch auf dem Widerspruch zwischen Stammesgesellschaft und Islamismus basiert die politische Strategie des Westens, genauer gesagt der USA. Sie wurde maßgeblich von General David Petraeus entwickelt, der nach McChrystals Abberufung das Kommando übernahm und auch zu den Autoren des Field Manual 3-24, des Handbuchs der Armee zur Aufstandsbekämpfung gehört. Das Handbuch reflektiert die ersten desaströsen Jahre des Irak-Krieges und sieht unter anderem einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor Terroranschlägen, aber auch vor US-Bombardements vor. Bereits McChrystal war der neuen Strategie gefolgt, und die NGO Afghanistan Rights Monitor bestätigt, dass im ersten Halbjahr 2010 die Zahl der zivilen Todesopfer durch Luftangriffe um rund 50 Prozent sank. Diesen Angaben zufolge töteten die ausländischen Truppen 210, afghanische Soldaten 108 und Taliban 661 Zivilisten.
Im Irak ist es dem US-Militär gelungen, mit Hilfe lokaler Milizen al-Qaida weitgehend zu zerschlagen. Ob dieser Erfolg dauerhaft ist und welche politischen Folgen die Bewaffnung der »Stammeskämpfer« hat, ist noch unklar. Immerhin gibt es im Irak bedeutende politische Gegenkräfte, eine »Zivilgesellschaft« von DemokratInnen in den und jenseits der Parteien, Gewerkschaftern und kritischen Journalisten. In Afghanistan sind diese Kräfte wesentlich schwächer, es gibt jedoch auch Zweifel, ob das irakische Modell überhaupt anwendbar ist. Vor einer Übertragung warnt die von der US-Armee erstellte Untersuchung My Cousin's Enemy is My Friend: A Study of Pashtun ›Tribes‹ in Afghanistan. http://www.scribd.com/doc/19595786/My-Cousins-Enemy-is-My-Friend-A-Study-of-Pashun-Tribes- Für weite Teile der afghanischen Gesellschaft sei das Stammeskonzept gänzlich irrelevant, für die Paschtunen »ist ›Stamm‹ nur eine von mehreren potentiellen Identitäten, und nicht notwendigerweise die entscheidende.« Noch nicht debattiert wurde die Frage, welche Probleme auftreten werden, wenn die Taliban, die ja ebenfalls die Kontrolle über die paschtunische Gesellschaft beanspruchen, an der Macht beteiligt werden.
Die Ratlosigkeit der Linken
Wenn mir in den achtziger Jahren jemand prophezeit hätte, dass ich mir einmal Gedanken darüber machen würde, welche Strategie der US-Aufstandsbekämpfung am ehesten Erfolg verspräche, hätte ich ihn zweifellos für verrückt erklärt. Tatsächlich sollte es bei allem gebotenen Abscheu gegenüber den Taliban auch heute nicht der Job der Linken sein, sich als Regierungsberater zu gerieren und Schlachtpläne zu entwerfen. Wichtiger wäre es, zunächst die Frage zu klären, warum 35000 Jihadisten drauf und dran sind, die NATO zu besiegen. Es ist relativ leicht, eine Liste der Fehlentscheidungen zu erstellen, die die Krise verschärft haben. Das Präsidialsystem machte aus dem Staatschef einen power broker, der auf wechselnde Bündnisse mit den Warlords und ein korruptes Klientelsystem angewiesen ist. Hätte das Parlament die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, müsste, wie es im Irak der Fall ist, über einen Interessenausgleich wenigstens öffentlich verhandelt werden. Dass es Karzai gestattet wurde, Parteien von den Wahlen auszuschließen und nur Einzelkandidaten zuzulassen, hat die Personalisierung der Politik weiter gestärkt und das Parlament geschwächt. Weil die »internationale Gemeinschaft« Karzais Betrug bei den Wahlen im vergangenen Jahr generös überging, hat nicht nur die Regierung, sondern auch die »westliche« Demokratie an Legitimität verloren.
Nach der Solderhöhung bei der Armee im vergangenen Jahr ist der Abstand zum Verdienst der Taliban geringer geworden, doch weiterhin dürfte Afghanistan das einzige Land der Welt sein, in dem die Guerilla ihre Kämpfer besser bezahlt als die Regierung ihre Soldaten und Polizisten. Die vom Westen geförderte Islamisierung stellt die Taliban nicht zufrieden, schwächt aber die säkularen Kräfte. Sollten die Taliban auch noch an der Macht beteiligt werden, wird aus der Islamischen eine islamistische Republik. Die Wirtschaftspolitik ist schlicht irrational. Karzai wird gemäß den geltenden Dogmen eine Privatisierungspolitik aufgezwungen, obwohl es kaum Staatsbetriebe gibt und ein effektiver öffentlicher Sektor für den Wiederaufbau in Bürgerkriegsstaaten unerlässlich ist. Den wichtigsten Wirtschaftszweig, den Opiumanbau, zu bekämpfen oder, wenn dies zu viele Bauern in die Arme der Taliban treibt, den Warlords zu überlassen, ist für den Wiederaufbau auch nicht förderlich. Der Opiumanbau könnte legalisiert und die Ernte für medizinische Zwecke aufgekauft werden. Warum diese seit Jahren von diversen NGO propagierte und offensichtlich vernünftige Idee in den internationalen Gremien nicht einmal diskutiert wird, bleibt ein Rätsel.
Entscheidend ist jedoch, dass die Interventionsmächte keine wirkliche politische und soziale Neuordnung durchgesetzt haben. Im 21. Jahrhundert erscheint eine Retraditionalisierung, die Einbeziehung von »Stammesältesten« und anderen vorbürgerlichen Kräften, noch die realistischste Strategie der Befriedung zu sein. Das gilt nicht nur für Afghanistan, allgemein kann bezüglich der Fähigkeit zum nation building der »internationalen Gemeinschaft«, egal ob sie von der UNO, der EU, den USA oder regionalen Organisationen repräsentiert wird, nur festgestellt werden: No, they can't. Das autoritäre Konzept der Neuverteilung der Macht unter den Warlords konserviert die Bedingungen, die zum Krieg geführt haben. Bestenfalls kann die »Zivilgesellschaft« die Gelegenheit nutzen, um neue politische Strukturen und eine ausreichende Gegenmacht zu den Warlords zu schaffen.
Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob dies in afrikanischen Bürgerkriegsstaaten wie Liberia oder Sierra Leone gelungen ist. Die dortigen Konflikte waren jedoch nur schwach ideologisiert, es ging um so banale Dinge wie Geld und Macht. Islamistische Warlords und Bewegungen dürften sich nicht domestizieren lassen, eine Integration der Taliban wäre aus deren Sicht wohl nur ein Schritt auf dem Weg zur Alleinherrschaft.
Ignoriert man einmal reaktionäre AntiimperialistInnen und SozialromantikerInnen, die in der islamistischen Bewegung einen Verbündeten oder den zu respektierenden Ausdruck einer anderen Kultur sehen, verbleibt eine ratlose Linke. Eine Strategie zur Bekämpfung des Islamismus gibt es nicht, das gilt weitgehend auch für die Linke in den islamischen Staaten. In Pakistan haben sich im vergangenen Jahr linke Gruppen zur Labor Relief Campaign zusammengeschlossen, sie wendet sich sowohl gegen die Taliban als auch gegen Militär, zivile Oligarchie und US-Intervention. Es gibt Bemühungen um die gewerkschaftliche Organisierung in islamistisch beherrschten Gebieten, doch bleibt die Linke marginal. Potentielle Bündnispartner gibt es auch in Afghanistan, überwiegend liberale und linksliberale Gruppen wie die Revolutionary Association of the Women of Afghanistan. Eine Solidaritätsbewegung hat sich nicht entwickelt, die Bezugnahme auf AfghanInnen beschränkt sich zumeist darauf, jene zu zitieren, die der jeweiligen eigenen Bewertung des Kriegs zustimmen. Von einer Unterstützung oder Zusammenarbeit eine politische Wende zu erwarten, wäre angesichts der Schwäche linker und liberaler Oppositionsgruppen derzeit allerdings auch eine Illusion.
Das klassische linke Befreiungskonzept für ein Land wie Afghanistan wäre der Aufbau einer von städtischen Intellektuellen geführten bäuerlichen Bewegung. In der antikolonialen Epoche haben solche Befreiungsbewegungen zwar nicht den Sozialismus erkämpft, aber eine nachholende kapitalistische Entwicklung in Gang gebracht. So ist Vietnam gewiss kein Paradies für die Werktätigen geworden, doch sind nur noch sechs Prozent der Bevölkerung AnalphabetInnen, die Lebenserwartung hat 70 Jahre überschritten und das Wirtschaftswachstum liegt in den meisten Jahren bei zehn Prozent.
Das vermag die geballte Finanzkraft und Militärmacht des Westens nicht mehr. Nur 30 Prozent der Bevölkerung Afghanistans sind alphabetisiert, die Lebenserwartung liegt bei 44 Jahren, und die ökonomische Aktivität beschränkt sich im Wesentlichen auf die Opiumwirtschaft und die Verteilung ausländischer Hilfsgelder. Im offiziellen westlichen Diskurs ersetzt das Mantra »Wiederaufbau« eine ernstzunehmende Entwicklungspolitik. Lohnabhängige werden dauerhaft bei NGO und zeitweise bei Bauprojekten beschäftigt. Integriert wird so jedoch nur eine Minderheit der afghanischen Gesellschaft. Die Frage, wie eine interne Kapitalakkumulation in Gang gebracht werden kann, wird offenbar nicht einmal gestellt. Es ist in Afghanistan nicht gelungen, die Lohnabhängigkeit zum Grundprinzip der gesellschaftlichen Ordnung zu machen, und wenigstens dies sollte man von einer Intervention der kapitalistischen Staaten doch erwarten können. Die in Teilen der Linken gängige Behauptung, die AfghanInnen würden vom »Imperialismus« ausgebeutet, geht daher an der Sache vorbei. Die Lohnabhängigkeit, so unangenehm sie auch sein mag, ist notwendig für den gesellschaftlichen Fortschritt. Nur sie kann Frauen die ökonomische Unabhängigkeit verschaffen, die eine Emanzipation ermöglicht. Für junge Männer, die auch nach der Volljährigkeit der Autorität des Familienpatriarchen unterstehen, wäre ein eigenes Einkommen kaum weniger bedeutsam. Derzeit aber dominieren persönliche Abhängigkeitsverhältnisse und klientelistische Bindungen, auch im modernen Sektor, wo Lohnabhängigkeit meist auch persönliche Gefolgschaft erfordert.
Von dem Eifer, mit dem die Kolonialisten einst die »Inwertsetzung« der eroberten Gebiete betrieben, ist nichts mehr zu bemerken. Die Unfähigkeit, die Bevölkerungsmehrheit in ein marktwirtschaftliches System zu integrieren, wird auch bei Interventionen in anderen Bürgerkriegsstaaten erkennbar. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, ein Krisenphänomen des Spätkapitalismus, dessen Investoren auch nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte dubiose Derivate oder staatliche Schuldtitel kaufen, während ganze Regionen der Welt als unprofitabel abgeschrieben werden.
Die Propagierung universaler Werte bleibt daher zwar notwendig in der Auseinandersetzung mit reaktionären AntiimperialistInnen und ähnlichen Gruppierungen, ist ansonsten aber nur ein hilfloser moralischer Appell. Die gesellschaftlichen Gruppen, auf die sich eine Befreiungsbewegung stützen könnte, sind relativ leicht auszumachen: Frauen, Jugendliche, GewerkschafterInnen, Intellektuelle, die verarmte Landbevölkerung und Erwerbslose. Die Entwicklungen der jüngeren Zeit, insbesondere im Iran, deuten darauf hin, dass es im Widerstand gegen den Islamismus vor allem um bürgerliche Freiheiten gehen wird. Die gesellschaftliche Zerrüttung in Bürgerkriegsstaaten wie Afghanistan erschwert jedoch eine Organisierung.
Die radikale Linke muss nicht behaupten, für alle Probleme eine Lösung zu haben. Möglicherweise gibt es für Länder wie Afghanistan ohne eine Änderung der globalen Rahmenbedingungen, also etwa den Beginn einer neo-keynesianischen Phase, gar keine Lösung. Theoretisch ist die Entwicklungspolitik im Interesse der westlichen Staaten, schließlich machen die fortgeschrittensten Länder untereinander die besten Geschäfte. Dies erforderte jedoch auf westlicher Seite staatliche Investitionen bzw. eine staatliche Investitionslenkung, sei es durch Subventionen oder eine Einschränkung derzeit profitablerer Geschäfte.
Von Jörn Schulz. Die Warlordisierung könnte zum Dauerzustand werden. Der Autor ist Redakteur der Wochenzeitung Jungle World und lebt in Berlin.