Als Moses die Israeliten aus Ägypten führte, so geschah dies unter einem doppelten Versprechen. Zum einen war es das Verlangen nach der Aufhebung der realen Not der täglichen Zwangsarbeit, welche die 600 000 Männer, Frauen und Kinder antrieb, die Mühen des langen Weges durch die Wüste auf sich zu nehmen. Es war die Flucht vor den unmenschlichen Bedingungen eines Lebens, die ihnen von der dämonischen Gestalt des Pharao auferlegt wurden und die ein Ende haben sollten. Der Auszug aus Ägypten war aber mehr als die Vorstellung einer Aufhebung des Mangels. Er stand ebenso unter dem Vorzeichen eines materiellen Glücksversprechens, einer Hoffnung auf ein Land in dem „Milch und Honig fließen“ und in dem auf ideeller Ebene Freiheit und Gleichheit herrschen.
Die Exodus-Erzählung der Bibel kann mit einigem Recht als die erste Revolutionsvorstellung der abendländischen Tradition bezeichnet werden. 2500 Jahre später hat sich bei Lichte betrachtet am grundsätzlichen Problem nicht so viel geändert, als dass man heute nicht verstehen würde, worum es damals ging. Auch die Debatte um das „wie“ findet im wesentlichen bereits in der Bibel statt. Dass Veränderung sich nicht von heute auf morgen vollzieht und dass Menschen, die bis dato nicht in Freiheit gelebt haben, zum revolutionären Subjekt nicht taugen, ist angedeutet in den 40 Jahren des Zuges durch die Wüste. Es braucht eine lange Zeit aktiven Handelns, um ein solches Projekt zu verwirklichen. Der biblische Text ist beinahe eine realistische Darstellung, es bedarf im Kern der Geschichte keiner göttlichen Wunder, um sie wirklich werden zu lassen.
Der Exodusgeschichte als der Beschreibung eines Revolutionsprozesses steht in der Bibel als Kontrapunkt die Vorstellung eines absoluten Bruchs mit dem Bestehenden gegenüber. Dieser Bruch mit der Zeit, der sich in der Vorstellung der Ankunft des Messias verdichtet, ist bedingungslos und absolut. Mit dem Kommen des Messias ist die Idee eines erlösten Zustandes verbunden, der sich beispielsweise in der Metapher vom Wolf, der mit dem Schaf weidet, artikuliert. Mit der diesseitigen Heilsvorstellung der versöhnten Welt im Zusammenhang steht oftmals die Idee einer Apokalypse – der Zerstörung aller bisherigen Verhältnisse. Nur aus dieser absoluten Katastrophe kann sich das Paradies auf Erden errichten. Die messianische Hoffnung ist weit stärker einem transzendierenden Prinzip verpflichtet als die Erzählung vom Exodus aus Ägypten. In ihrer Konsequenz jedoch suchen beide nach einer Überwindung des Bestehenden unter dem Vorzeichen der Befreiung. Nicht anders die Linke.
So gehört die Idee der Erlösung, der Emanzipation, der Befreiung, der Revolution oder wie auch immer man sie bezeichnen will, zum ältesten Gedankengut der christlich-jüdischen Tradition, die auch von der europäischen Aufklärung – und in deren Folge von der Linken – nur in säkulare Begriffe gefasst und keineswegs überwunden wurde.
Wie die Revolution nun herbeizuführen sei, ob sie überhaupt durch Handeln herbeizuführen ist, über diesen biblischen Streit ist man auch heutzutage noch nicht hinweg. Im Zuge der europäischen Aufklärung wurde das göttliche Prinzip als das transzendierende Moment durch ein anderes scheinbar fundiert wissenschaftliches abgelöst: das der Geschichte. Der Fortschritt der Produktivkräfte war es nun, der ein Land in welchem Milch und Honig auf Knopfdruck produziert wurden, möglich oder sogar unumgänglich machen sollte. Anstelle eines mehr oder weniger gütigen alten Herrn, trat für die proletarische Linke die strahlende Sonne der Arbeit als Idee der Überwindung allen Übels. Es dauerte einige Zeit bis auch dieser Grund als ein Abgrund, d.h. als nicht fundiert erkannt wurde.(1) Und doch ist der Schock darüber, dass keine Rede davon sein kann, dass „unsere Sache aller Tage klarer und das Volk aller Tage klüger“ wird, längst nicht verdaut. Das einzige was nach dieser Krise der Linken zu bleiben scheint, ist die Gewissheit, dass es selbige nicht gibt. Insofern lassen sich Thesen wie der im Feuilleton beliebte Slogan Fukuyamas vom „Ende der Geschichte“ ebenso zurückweisen wie das Gerede von der dem Menschen angemessen Form der kapitalistischen Vergesellschaftung. Schließlich beruhen beide auf Annahmen, die von einem immanenten Standpunkt aus keine Wahrheit beanspruchen können. Während erstere ungerechtfertigt die Zukunft aus der Gegenwart ableitet, basiert letztere auf anthropologischen Annahmen, die von einem feststehenden Wesen des Menschen ausgehen und seine gesellschaftliche Überformung ignorieren. Außer einer solchen Kritik unbegründeter Annahmen kann die Linke jedoch kaum etwas Positives dagegensetzen, außer der Hoffnung, dass es auch anders sein könnte.
Auf diesen nicht sonderlich überzeugenden Ausgangspunkt einer bloßen Möglichkeit, sieht sich die Linke, die radikale zumal, heutzutage zurückgeworfen. Des Weiteren sieht sie sich mit der Einsicht konfrontiert, dass buchstäblich alles, was sie in die Waagschale werfen kann, den Verhältnissen selbst entspringt, selbst Teil dieser Verhältnisse ist.
Dass allerdings Veränderung sich vollzieht, davon ist auszugehen. Keine Linke ohne diese Grundannahme. Und dass sich Veränderung nur durch das Handeln der Menschen vollzieht. Auch wenn dieses bewusstlos, d.h. ohne Blick auf die Gesellschaft vonstatten geht, so steckt in ihm doch bereits das Versprechen, dass es auch anders sein könnte, d.h. das die Menschen ihr Geschick ganz in ihre Hände nehmen können. Dieser Gedanke transzendiert das Bestehende und doch ist diese Transzendenz im Bestehenden bereits angelegt. Es gibt, wenn man so will, die Momente der Befreiung bereits im Hier und Jetzt oder wie Walter Benjamin einmal sinngemäß formulierte: In der Jetztzeit sind die Splitter der messianischen Zeit eingesprengt. Jedoch ist der Weg dahin nicht positiv zu dechiffrieren. Revolution ist nicht planbar, weil Geschichte nicht planbar ist. Allenfalls im Bewusstsein des Fehlens von etwas ist emanzipatorisches Handeln möglich. Fehlt einem nichts, so fehlt doch eines: der Wille zur Veränderung. Und doch folgt aus einem Mangel noch nicht die Notwendigkeit, dass emanzipatorisch gehandelt wird. Eher droht am Mangel die Reflexionskraft verloren zu gehen.
Ausgerichtet ist und bleibt die Linke jedoch an den aus dieser Gesellschaft hervorgehenden Idealen und das sind die der bürgerlichen Revolution. Nur durch sie lässt sich ein Mangel konstatieren, der über die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Menschen, welche auch immer das seien, hinausgeht. Die Linke kommt über die bürgerlichen Ideale nicht hinweg und doch sollte sie darüber das Bewusstsein nicht verlieren, dass diese Ideale im Hier und Jetzt nicht zu verwirklichen sind. Insofern ist ein umstandsloser Bezug auf die bürgerlichen Werte in linker Perspektive auch nicht möglich. Sie transportieren immer sowohl ein Versprechen als auch die Realität. Einzufordern sind sie bloß als etwas zu Überwindendes. Geht man von einer Gesellschaftskritik aus, so kann das bürgerliche Glücksversprechen ernstgenommen nur bedeuten, dass sich das Bestehende nicht mehr affirmieren lässt. Freiheit ist mehr als die seine Arbeitskraft zu verkaufen, Gleichheit mehr als die vor dem Gesetz und Solidarität hat nicht viel mit Volksgemeinschaft zu tun. Und dennoch sind sie eben auch all dieses.
Kritik und Politik
Ausgangspunkt jeder Gesellschaftskritik kann nur sein, sich als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen. Dazu bedarf es einer Analyse der Gesellschaft. Wie diese auszusehen hat, darüber lässt sich trefflich streiten. Jedoch kann Gesellschaft nicht begriffen werden, wähnt man sich außerhalb ihrer. Genau diesem Fehler waren große Teile der Antifa verfallen. Allzusehr dachte sie sich als das Ganz Andere, als das versprengte Fähnlein der Aufrechten, welches allein den Anspruch auf Emanzipation noch hochhielt: als die letzten Linken. Dadurch wurde ihr politisches Handeln zum Selbstzweck, die Bewegung bestätigte sich in einer stetigen Abgrenzungsbewegung immer wieder selbst. Ihre Befriedigung erfuhr sie über das Bewusstsein auf der richtigen Seite zu stehen. Diese Kritik schmälert nicht die Notwendigkeit des Antifaschismus, doch vergaß die Antifa-Bewegung sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen, weswegen sie auch ein bloßes Strohfeuer blieb und jämmerlich in sich zusammenfiel als Andere begannen, ihre Arbeit zu machen.
Eine alleinige Kritik an den immer mal wieder aufflackernden Verfallsformen linker Bewegung reicht aber auch nicht aus. So richtig es ist, der Antifa vorzuhalten, dass sie ihre Lebenskraft aus identitätsstiftenden Mechanismen zog und dass sie darüber oftmals vergaß, die Verhältnis zu analysieren um die es ihr ging, so richtig ist es auch, dass es zur Lebensaufgabe werden kann, sich immer wieder mit den neuesten Ausformungen verirrten linken Bewusstseins zu beschäftigen und darüber das Grundproblem – die bürgerliche Gesellschaft – zu vergessen.
Die Debatte um Kritik und Politik die seit dem Ende der Antifa-Bewegung einiger Orten geführt wurde, unterliegt einem doppelten Missverständnis. Es betrifft zum einen die Verwechslung der Begriffe von Theorie und Praxis mit denen von Kritik und Politik, zum anderen den Vorwurf, dass Politik von jeher gebunden sei an eine Affirmation des Staates, als der Form in der sich politisches Handeln nur abspielen könne.
Zu ersterem: Niemand bestreitet, dass es Formen bedarf das Erdachte unter die Leute zu bringen. Seien es Papiere, Veranstaltungen oder Demonstrationen, ohne einen Weg der Vermittlung eigener Gedanken gibt es keine Linke. In diesem Punkt der praktischen wie theoretischen Betätigung unterscheiden sich politische Gruppen nicht von denen, die sich als antipolitisch bezeichnen. Eher schon ist ein Unterschied zu bemerken, dass erstere eher auf Formen abzielen, die im öffentlichen Raum stärker wahrnehmbar sind. Also beispielsweise die der Demonstration. Demonstrationen bringen es aber mit sich, dass der Inhalt, der mit ihnen vermittelt werden soll, sich oftmals auf Parolen reduziert. Auf der anderen Seite werden schriftliche Beiträge in einer Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden und auch innerhalb der Linken meist nur dann rezipiert, wenn sie polemisch daherkommen. Diese Form ist wiederum vor allem bei den antipolitischen Gruppen zu finden. Vermittlungsformen unterliegen generell dem Zwang sich Wahrnehmbarkeit zu verschaffen und wahrnehmbar ist das am besten, was am grellsten erscheint. Wer am lautesten schreit, bekommt meistens zuerst das Futter. Von dieser Seite unterscheidet sich in der Praxis Politik kaum von Kritik, die Unterschiede sind höchstens gradueller Art: in der unterschiedlichen Gewichtung von Theorie und Praxis.
Der Vorwurf politischen Gruppen gegenüber, den Staat a priori als Form der Vergesellschaftung vorauszusetzen und diesen durch ihr Handeln immer nur legitimieren zu können, hat zwar seine – in diesem Fall aber doch banale – Wahrheit darin, dass sich schlichtweg alles in vergesellschafteten Formen abspielt und der Königsweg aus diesen heraus nicht gefunden ist. Jedoch betrifft er dann eben auch die Kritik. Sobald sich die Linke an eine Öffentlichkeit wendet, bedient sie sich staatlicher Formen, indem sie mit Gesetzen konfrontiert ist und mit diesen umzugehen hat. Darin kein Unterschied zwischen einem Referat in der Uni und einer Scherbendemo. Eine Politik, die dem Anspruch nach den Staat negiert, die ihn symbolisch kritisiert und die ihn als außerparlamentarische Gruppe nicht mehr nutzt als es notwendig ist, affirmiert den Staat nicht. Der Makel den Politik von Geburt an trägt, liegt an anderer Stelle. Sie ist immer gerichtet an die Öffentlichkeit, zielt auf das Allgemeinwohl und lässt das Private außen vor. Daran hat auch der Leitspruch der Frauenbewegung „Das Private ist politisch“ nicht viel geändert. Die Sphäre des Privaten spielt in der linken Politik nach wie vor keine Rolle, zumindest dann nicht, wenn sie nach außen tritt. Auch die Kritik unterliegt dem Dualismus von privat und öffentlich. Tritt sie doch zuerst in Erscheinung als „Kritik der politischen Ökonomie“, spielt also im Feld des Öffentlichen. Was bleibt ist der Anspruch die Trennung von privat und öffentlich aufzuheben.
Kommt Kritik als abstrakte Gesellschaftstheorie daher, scheitert sie. Kann doch die Gesellschaft in ihrem Wesen als kapitalistische durch einen abstrakten Satz nicht begriffen werden. Spricht man davon, dass es das Wesen der Gesellschaft sei, dass sie sowohl Subjekte wie Objekte nur als Waren gelten lasse, so erlangt dieser Satz erst dann seine Wahrheit, wenn er durch die Erscheinungen hindurch verstanden und nicht über sie hinweg postuliert wird. Dann ist aber das Wesen einer Gesellschaft immer nur Wesen durch seine Erscheinungen und somit nicht ewig feststehendes, vielmehr etwas Veränderliches. Das heißt, dass es gar wohl Ansatzpunkte gibt, Kritik konkret zu formulieren und dass es nicht dabei bleiben muss, stets und ständig den Satz „Kapitalismus abschaffen!“ in die Welt hinauszuschreien. Die Frage bleibt allerdings unbeantwortet, und ist aus heutiger menschlicher Perspektive nicht zu beantworten, welcher dieser Ansatzpunkte denn nun Hebel sein kann – bzw. ob es überhaupt einen solchen Hebel gibt – um in das „Reich der Freiheit“ einzutreten.
Das Kriterium welchem politisches Handeln unterliegen muss, um emanzipatorischen Ansprüchen genüge zu tun, kann nur ein negatives sein. D.h. Politik muss unter dem Vorzeichen stehen, dem Anspruch nach, jegliche Affirmation der Verhältnisse zu vermeiden. Dass dies nur graduell gelingt, ist einsichtig, hat man doch zum einen keine Interpretationshoheit über die Auswirkungen der eigenen Handlungen, kann also als kritisches Feigenblatt oder abschreckendes Beispiel dienen. Zum anderen bewegt man sich selber nicht in einem außergesellschaftlichen Raum. Dennoch muss im eigenen Handeln deutlich werden, dass man sich den gesellschaftlichen Verhältnissen im Grundsätzlichen verweigert, dass man zu einer konstruktiven Mitarbeit am Projekt der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht bereit ist. Damit ist man auf sich selbst zurückgeworfen und kann nicht darauf rechnen hofiert zu werden. Mit einem solchen „Nein“ steht man beispielsweise der Antiglobalisierungsbewegung, die gerade mit großem Tamtam den Marsch durch die Institutionen beginnt, strikt entgegen.
Das gerade formulierte Ideal der Negation muss sich im Konkreten immer wieder ausweisen. Es bedarf zu seiner Rechtfertigung der Analyse der Gesellschaft. Nicht gesagt ist damit, dass es nichts gibt, was einzufordern oder was zu verteidigen wäre. Die furchtbare Wahrheit, dass es schlimmer sein kann als es jetzt ist, darf zwar nicht dazu führen zum Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft zu werden, doch aber zum Bewusstsein, genau diese in bestimmten Situationen schützen zu müssen.
Die Frage, ob aus einer aktiven Verweigerungshaltung heraus, sich jemals so etwas wie eine Aufhebungsbewegung gegen den Kapitalismus entwickeln kann, ist eine offene. Zu bedenken ist, dass kein strategisch noch so kluges Handeln allein alle Schwierigkeiten überwinden wird. Keinen Grund aber gibt es, dass die Ohnmacht für immer sein muss.
Fußnoten:
(1) Auch wenn es immer noch genug Linke gibt, die der Idee von ehernen Bewegungsgesetzen wahlweise der Weltgeschichte oder des Kapitalismus anhängen.
BgR Leipzig
November 2002