Teil 1 dieses Beitrages erschien in der vergangenen Ausgabe dieser Zeitschrift. Nachzulesen unter:
phase-zwei.org/hefte/artikel/die-krise-der-kapitalistischen-normalitt-teil-1-254/
Im ersten Teil wurde mit Marx gezeigt, dass die kapitalistische Ökonomie nur angemessen darstellbar wird als eine Ökonomie der Zeit. Marx zeigt, dass die kapitalistische Produktivität aus der Verwertung von Arbeit und Kapital resultiert, und in dieser Verwertung tritt die lebendige, gegenwärtige Arbeit der Ware Arbeitskraft in ein Verhältnis zu ihrer eigenen, im Kapital akkumulierten Vergangenheit, zur toten Arbeitszeit. Die Arbeit beherrscht sich mithin selbst, aber in Form der Entfremdung und in vergegenständlichter Gestalt. Die Arbeitskraft kommt von einer Vergangenheit her auf sich zurück, die auf eine gemeinsame Verwertung drängt, nämlich auf die Übertragung des im Kapital bereits bestehenden sowie auf das Zusetzen neuen Werts.
Aus dieser Verwertung ergab sich das Axiom der kapitalistischen Reichtumsproduktion: Wie immer auch vergangene und gegenwärtige Arbeitszeit eine Ökonomie der Übertragung und der Verwertung von Werten eingehen, letztlich muss aller Wert aus dieser Verwertung resultieren, und das Geld muss in seiner quantitativen Bestimmung letztlich dieser Verwertung entsprechen. Folgerichtig muss, wenn sich die Verwertung im Geld nicht entspricht, diese Entsprechung früher oder später wieder eintreten – und eben das ereignete sich, auf schlagartige Weise, in der aktuellen Krise.
Nicht nur die Produktivität der kapitalistischen Gesellschaft resultiert also aus der Verwertung von Arbeit und Kapital, sondern auch die Krise. Entsprechend kann auch die Krise nur angemessen begriffen werden, wenn sie auf eine Ökonomie der Zeit zurückgeführt wird. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im Allgemeinen, so wurde im ersten Teil gesagt, liegt in dem Widerspruch, dass die Ware Arbeitskraft einerseits die einzige Quelle des Werts und des Mehrwerts ist, weil nur sie ein Verhältnis mit ihrer eigenen, in der toten Arbeitszeit des Kapitals akkumulierten und vergegenständlichten Vergangenheit eingehen kann und dadurch die produktive Kraft erhält, mehr Warenwerte zu produzieren, als die Ware Arbeitskraft zur eigenen Reproduktion benötigt. Andererseits steigert das Kapital diese produktive Kraft der Arbeitskraft, indem es die zu ihrer Reproduktion notwendige Arbeitszeit zugunsten der zusätzlichen Arbeitszeit (dem Mehrwert) senkt; die Steigerung der Produktivkraft lässt nicht nur notwendige Arbeitszeit überflüssig werden, sie führt auch dazu, dass die Ware Arbeitskraft als solche aus dem Verwertungsprozess im Wortsinn: entlassen wird. Dieser allgemeine Widerspruch des Kapitalismus führt dazu, dass die Arbeitskraft gleichsam an der Überwindung ihrer eigenen Notwendigkeit arbeitet, aber genau dafür ihr kapitalistisches Verwertungsverhältnis reproduzieren muss. Sie beherrscht einerseits sich selbst und geht sogar über ihre eigene Notwendigkeit hinaus, nämlich indem sie die zu ihrer Reproduktion notwendige Arbeitszeit in zusätzliche Arbeitszeit umwandelt, sodass ein Mehrwert gewonnen und Reichtum in abstrakt-quantitativer Form freigesetzt wird. Andererseits verwirklichen sich die Selbstbeherrschung der Arbeitskraft und das Hinausgehen über ihre Notwendigkeit nur, indem sie ihre produktive Kraft von ihrer eigenen, im Kapital vergegenständlichten Vergangenheit her erhält und beständig von dort her auf ihre Verwertung zurückkommt.
Der Finanzkapitalismus hat die Krisentendenz, die in diesem allgemeinen Widerspruch liegt, noch insofern verschärft, als er auf verschiedenen Wegen (niedrige Leitzinsen, sog. Kredithebel, Spekulationsgeschäfte etc.) Geld vermehrt hat, ohne dass es durch Arbeit und Kapital – die sogenannte Realökonomie – verwertet wurde. Weil die Vermehrung des Geldes nicht durch entsprechende Gewinne aus der Verwertung in Wert gesetzt und durch diesen Materialismus des Kapitalismus begründet wurde, entsprach sich die Verwertung im Geld nicht mehr selbst. Es war letztlich diese Differenz, die in der Krise schlagartig aufbrach, aber nur, um die Entsprechung zwischen dem Geld und der Verwertung wieder herzustellen. Während auf diese Weise die Krise gerade die Normalität schlagartig geltend macht, hat sich die Krise wiederum durch die »normalen« Zeiten entwickelt, und sie kommt gerade von den »guten« Zeiten des ökonomischen Aufschwungs und des Fortschritts her – allerdings unzeitgemäß, nämlich im Nachhinein. Und sie entwertet dann einerseits schlagartig, gleichsam rückwirkend, die ökonomische und politische Vergangenheit, andererseits greift sie auf die Zukunft über. Die Krise greift ökonomisch auf die Zukunft über, indem die zukünftige Verwertung noch für fehlende Verwertung und für die Verschuldung der Vergangenheit aufkommen und die Entwertung aufhalten muss, die Krise greift politisch auf die Zukunft über, indem sie meist einen Umbruch in der politischen Regulation nach sich zieht.
Der zweite Teil soll nun der Frage nachgehen: Wenn Normalität und Krise derart ineinander verschränkt sind, wie ist dann die Bewältigung der Krise zu bewerten?
Das Ablösen von Fortschritt und Krise
Wenn sich heute, nach der Finanzkrise von 2008, die Phase des post-fordistischen und post-keynesianistischen Neoliberalismus und Finanzkapitalismus als eine »krisenhafte Normalität« herausstellt und darum ökonomisch entwertet und politisch neu bewertet werden muss, so ist das nur die halbe Wahrheit. Denn damit ist noch gar nicht berücksichtigt, dass die Phase des Post-Fordismus und Post-Keynesianismus ihrerseits eine »krisenhafte Normalität« abgelöst hat – eben jene Krise, in die der fordistisch-keynesianistische, durch einen engagierten Sozialstaat geprägte Kapitalismus in den siebziger Jahren eingetreten ist. Damals geriet die fordistische Produktionsweise – gekennzeichnet durch industrielle Massenproduktion, Massenbeschäftigung und einen entsprechenden Massenkonsum, durch Industrie und Maschine als Hauptproduktionsmittel, durch ein Industrieproletariat als Hauptproduktivkraft sowie durch eine (sozial-) staatlich-keynesianistische Regulierung und Lenkung –, diese fordistische Produktionsweise geriet in einen Umbruch. Die industriellen und maschinellen Produktionsmittel wurden durch Mikroelektronik, Programmierung, Toyotismus und Informationsverarbeitung entwertet, an die Stelle des industriellen Massenarbeiters trat eine Ausdifferenzierung der Produktivkräfte und ihre Verlagerung in Dienstleistungen, und die ökonomischen Planungs- und Lenkungsfunktion des Staates und der Politik wurde durch deregulierte und privatisierte Märkte sowie durch die Börse und die Finanzmärkte ersetzt. Diese umfassende Ablösung markierte geradezu das Ende des Industriezeitalters und den Aufstieg des sogenannten Kommunikations- und Informationszeitalters (das eigentlich ein Zeitalter der Informationsverarbeitung und -verwertung ist).
Der Umbruch in der Politischen Ökonomie hat zudem einen entsprechenden Umbruch in ihrer Kritik mit sich gebracht. Von einer Entsprechung kann allein schon darum gesprochen werden, weil die Kritik nicht mehr von den »alten« Produktivkräften ausging, von den ArbeiterInnen und ihren Parteien, sondern in Selbstorganisation von StudentInnen und Jugendlichen, von KünstlerInnen und Feministinnen (Neuen Soziale Bewegungen, Strukturalismus, Operaismus, Situationismus, sogenannte neue Marx-Lektüre, Feminismus, autonome Bewegung etc.). Überhaupt ging der Umbruch mit einer neuen Subjektivität und mit neuen politischen und sozialen Formen sowie mit einer neuen Produktion des Begehrens und seiner Befriedigung einher.
Wie einschneidend die Krise des Fordismus und des keynesianistischen Sozialstaates war, wird am Realsozialismus deutlich, für den der Umbruch zum Zusammenbruch wurde. Er konnte sich weder auf die neuen Produktionsmittel und ihre Steigerung der Produktivkraft auf Kosten der fordistischen Industriearbeit einstellen, noch eine Finanzindustrie zur Mobilisierung und Lenkung der Ökonomie nutzen, noch das Bedürfnis nach neuen politischen und sozialen Formen befriedigen, ja, er konnte gar nicht erst der Produktion dieser Bedürfnisse Raum geben.
Doch waren nicht auch schon Fordismus und Keynesianismus ihrerseits die Ablösung einer Krise? Haben sie nicht bereits eine Phase des Liberalismus und sogar der Globalisierung abgelöst, nämlich jene Phase, die in den zwanziger Jahren zur ersten großen Weltwirtschaftskrise geführt hat, mit den bekannten verheerenden Folgen? Hat also die krisenhafte Normalität des Neoliberalismus und des Finanzkapitalismus nur diejenige Krise des Fordismus und Keynesianismus abgelöst, die ihrerseits bereits eine krisenhafte Phase des Liberalismus und der Globalisierung abgelöst hat?
Offensichtlich geht mit der Krise stets beides einher, eine Lösung im Sinne ihrer Bewältigung und eine bloße Ablösung durch eine neue krisenhafte Normalität, und mit der gehen ein Aufschub und sogar eine Verschärfung der vorherigen Krise einher. Wenn die Unterscheidung zwischen Normalität und Krise derart prekär ist, dann muss das auch den Unterschied zwischen den beiden großen Krisen»lösern« betreffen, zwischen Staat und Markt.
Die zwei Versager: Staat und Markt
Wenn die Unterscheidung zwischen Normalität und Krise genau das ist, was durch die Krise infrage gestellt wird, dann kann es keine endgültige Lösung der Krise geben, sondern nur die Ablösung einer krisenhaften Normalität durch eine andere. Die Ablösung betrifft die beiden großen »Krisenlöser« Staat und Markt.
Gleichwohl wird der Staat zur Zeit so diskutiert, als sei er zum Markt die Alternative. Dabei sind Staat und Markt nicht nur, wie zu Recht gegen eine solche Alternative eingewandt wurde, aufeinander angewiesen, vielmehr müssen beide dieselbe Ökonomie teilen. Das Teilen ist in einem unmittelbaren Sinn zu verstehen. Beide müssen dieselbe Verwertung und Reichtumsproduktion teilen, aber beiden bleibt die von Marx kritisierte Methode der Verwertung der lebendigen Arbeitszeit der Ware Arbeitskraft durch die tote Arbeitszeit des Kapitals letztlich unverfügbar. (Zur Verfügung stehen allenfalls die Resultate der Verwertung, um deren Verteilung so viel gerungen wird, und vor allem um diese bloße Verteilung konkurrieren Staat und Markt.)
Doch auch wenn der Staat keine Alternative zum Markt und nicht das große Andere ist, so tritt er auf ihm doch als die große Ausnahme auf. Der Staat ist nicht nur die große Ausnahme, weil er bekanntlich »ideeller Gesamtkapitalist« (Marx) ist statt borniertes, privat-interessiertes und individuelles Kapital, er ist auch die Ausnahme, weil er derjenige Kapitalist ist, der als letzter Pleite geht. Er ist daher der Letzte, der für das Finanzkapital und die Banken, für die individuellen Unternehmerkapitale und überhaupt für das Geld bürgen kann (und in genau dieser Reihenfolge die Kettenreaktion der Krise aufhalten muss). Und er ist der Einzige, der aus Sicht aller anderen MarktteilnehmerInnen irrational handeln kann, etwa dann kaufen, wenn es für keinen anderen ökonomisch sinnvoll ist, oder bürgen, wofür sonst keiner bürgen würde. Er kann sich sogar ökonomisch auch dann noch verschulden, wenn kein einzelnes Kapital mehr Schuld auf sich nehmen kann. Und doch: auch für den Staat muss die normale Verwertung weitergehen. Und er selbst muss sich dafür einsetzen: Er ist nicht die große Ausnahme, weil er die Verwertung aussetzen oder gar ersetzen kann, im Gegenteil, er ist die Ausnahme, weil er dafür sorgen kann und muss, dass die Verwertung weitergeht.
Doch was folgt nun aus der aktuellen Krisenintervention? Wird sie für dieses Weitergehen gesorgt haben? Wenn individuelle (Finanz-) Kapitale Pleite gehen, kann der Staat einspringen und im ökonomischen Sinne ihre Schuld auf sich nehmen, und wenn einzelne Staaten Pleite gehen, können andere einspringen. Doch was passiert, wenn nun alle Staaten sich bei der zukünftigen Verwertung verschulden, also durch ihr Eingreifen in die Ökonomie genau die zukünftige Verwertung zeitigen müssen, von der sie sich durch eben dieses Eingreifen abhängig gemacht haben?
So offen die Situation zur Zeit auch ist: Auch die staatliche Verschuldung kann nur durch die zukünftige Verwertung in Wert gesetzt werden. Es ist und bleibt die Verwertung bzw. der Gewinn daraus, der sich früher oder später (wieder) im Geld entsprechen muss. Es ist und bleibt die Verwertung, die im Geld auf quantitative Weise währt und jede Differenz zwischen Geld und Verwertung früher oder später ins Verhältnis einer Entsprechung setzt, gleichgültig, ob die Differenz durch fiktives Kapital und Spekulation oder ob sie durch die Verschuldung des Staates entstanden ist. Bleibt die Differenz bestehen, trotz oder gerade durch das Eingreifen des Staates, dann gehen – in den Begriffen der Volkswirtschaftslehre – »das Vertrauen« und »der Glaube« in das Geld und die Währung verloren. Das letzte Mittel ist dann die Entwertung des Geldes durch den Staat. Wenn er seine Verschuldung nicht in eine unendliche Zukunft hinausschieben will, muss in irgendeiner Weise eine Reform der Währung eintreten, damit die Verwertung sich im Geld wieder entsprechen kann. Die Entsprechung tritt dann nicht, wie in der aktuellen Krise, einerseits schlagartig ein, durch das Platzen einer Blase und einer Pleitewelle, und andererseits langanhaltend, durch eine Phase der Rezession. Die Entsprechung wird sich dann nur durch eine staatliche Währungsreform oder auch durch eine Inflation wieder herstellen lassen.
Wie sehr Staat und Markt dieselbe Ökonomie teilen müssen, zeigt sich daran, dass der Staat zur Zeit ironischerweise dasselbe macht wie zuvor die Finanzindustrie: Er bringt massenhaft Geld in Umlauf. Der Staat treibt dieselbe Verschuldung bei der zukünftigen Verwertung weiter, die vordem das Finanzkapital und deregulierte Märkte besorgten, nur dass diesmal das Geld eine »reale« Ökonomie nach sich ziehen und mobilisieren bzw. stützen soll.
Ebenso war vor der Finanzkrise der Markt seinerseits dazu übergegangen, staatliche Aufgaben zu übernehmen: Privatisierung der Sicherheit bis hin zum Militär, Umwelt- und Klimaschutz als freiwillige Selbstverpflichtung und Werbestrategie sowie Konkurrenzvorteil, Kulturförderung durch Mäzenatentum usw. Insbesondere die Generierung von Nachfrage, die der keynesianistische Staat einst durch deficit spending auf sich genommen hatte, ist auch auf den Finanzkapitalismus und seine Mittel der Kreditschöpfung und Verschuldung übergegangen. Und nicht zuletzt sind selbst die viel kritisierten Konsumentenkredite und Hypotheken an die Einkommenschwachen vom US-Staat in den sechsiger Jahren gezielt gefördert worden, und zwar um einer Forderung der »nicht-kreditwürdigen« unteren Klassen und der (schwarzen) Bürgerrechtsbewegung nachzukommen.
Die Krisenreaktion
Während die Krisen des Kapitalismus ökonomisch nicht endgültig zu lösen sind, weder durch den Staat noch durch den Markt, liegt das eigentlich Bedrohliche an der Krise in der Politisierung des Ökonomischen. In der Politisierung geht der Anspruch einer Begründung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus einher mit dem Anspruch ihrer endgültigen Überwindung. Während der Versuch einer ökonomischen Lösung der Krise »nur« eine neue politische Regulation und eine neue krisenhafte Normalität zeitigen, ist diese Reaktionsform gleichsam die Krise in der Krise.
Das große Beispiel dafür ist die erste Weltwirtschaftskrise. Spätestens seit der Reaktion auf diese Krise: dem Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus, ist die Erwartung fahrlässig, dass die Krise des Kapitalismus den Weg zum Sozialismus bereiten werde. Die Kapitalismuskritik muss seitdem vielmehr eine Wendung vollziehen: Der Kapitalismus muss zwar, soll ihm seine Kritik nicht äußerlich sein, durch sich selbst seine Kritik hervorbringen, etwa durch seine inneren Widersprüche und ihre Entwicklung, durch die Formen seiner Herrschaft und Ausbeutung, durch die Ungleichheit und Krisen, usw., die er hervorbringt. Er muss zudem auch die Möglichkeit seiner Überwindung aus sich selbst hervorbringen. Aber genau hier muss nun die Wendung der Kapitalismuskritik einsetzen: Der Kapitalismus bringt zwar eine »Kritik« und sogar den Versuch seiner Überwindung hervor, aber sie sind ihm selbst nicht angemessen. »Unangemessen« heißt schlicht, dass die Kritik den kritisierten Kapitalismus nicht logisch-begrifflich und nicht durch eine systematische Entwicklung zur Sprache bringen will, damit der Kapitalismus sich durch dieses Zur-Sprache-Bringen in seiner Kritik auf buchstäbliche Weise: entspricht. Stattdessen versteht jene unangemessene »Kritik« den Kapitalismus verkürzt, etwa antisemitisch, rassistisch, kulturalistisch oder religiös. Genau dieses Dilemma: dass der Kapitalismus zwar durchaus seine eigene »Kritik« hervorbringt, aber – und sogar zuerst – eine ihm unangemessene Kapitalismus»kritik«, dieses Dilemma muss zur »eigentlichen« Kapitalismuskritik werden. Zudem bringt der Kapitalismus nicht einfach nur eine ihm unangemessene Vorstellung hervor, vielmehr ist diese »Kritik« gar nicht vom Kapitalismus zu trennen, im Gegenteil, sie schreibt sich unmittelbar in sein Funktionieren ein.
Dieses Dilemma verschärft sich noch in der Krise. Die Krise des Kapitalismus wird zu einer subjektiven Erfahrung und »Verarbeitung«, die das Ökonomische der Krise nicht nur nicht (systematisch-kategorial) begreift, sondern es durch antisemitische Personifizierungen, durch rassistische Biologisierungen, durch Kulturalisierungen u.Ä. bewältigen will. Insbesondere gilt das für die antisemitischen Aufspaltungen und Personifizierungen der im ersten Teil skizzierten Verwertung von lebendiger und toter Arbeitszeit, kurz Arbeit und Kapital, in schaffendes und raffendes Kapital, Unternehmer- und Geldkapital, Produktions- und Finanzsystemssphäre. Diese Aufspaltungen haben bereits in der ersten Weltwirtschaftskrise von 1929 zur eliminatorischen Verschärfung des Antisemitismus und zum »Antikapitalismus« eines nationalen Sozialismus geführt, und auch in der aktuellen Finanzkrise halten solche Aufspaltungen wieder Einzug. Und auch hier gilt, dass diese subjektiven »Verarbeitungen« der Krise keine passive und der Krise äußere Reaktion bleiben, sondern immer schon in die gesellschaftliche Praxis eingeschrieben sind und auf eine Umsetzung ihres Antikapitalismus drängen.
~Von Frank Engster. Der Autor ist am Institut für Methodenkritik tätig.