Der 9. November 1938 jährt sich in diesem Jahr zum achtzigsten Mal und es ist davon auszugehen, dass er von staatlicher Seite mit zentralen Gedenkakten begangen wird. In den vergangenen zwanzig Jahren haben die obersten RepräsentantInnen des Staates ihre Gedenkreden an diesem Datum durchgehend dafür genutzt, die Manifestation demokratischer Werte und die Achtung der Menschenwürde in Deutschland und Europa zu betonen. So sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Einweihung einer Synagoge in München am 9. November 2006: »Wir sind Demokraten – und wir stehen dafür ein. Unser Staat hat sich verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen – und er tut das auch. Das ist der große Unterschied zu den Jahren nach 1933.« Angela Merkel erinnerte 2008 auf einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung der Bundesregierung und des Zentralrats der Juden in Deutschland: Europa war »oft genug Schauplatz fürchterlicher Gewalt und Kriege – bis hin zum Zivilisationsbruch der Shoa. Erst seitdem wir das erkennen, sind wir Europäer in Frieden, Freiheit und Menschenwürde zu unserem Glück vereint«. Die deutsche Politik sieht sich am 9. November aber nicht nur verpflichtet, der Ereignisse und Opfer von 1938 zu gedenken; das Datum bietet ihr zugleich die Möglichkeit, an das Ende der SED-Diktatur zu erinnern. Bei einer Großdemonstration im Jahr 2000 in Berlin betonte etwa der damalige Bundespräsident Johannes Rau: »Deutsche haben sich gegen Diktatur und Unrecht gewehrt, Deutsche haben ein System der Unfreiheit überwunden. Wir haben gesehen: Freiheit und Menschenwürde sind stärker als Unterdrückung und Gewalt.« Und 2014 fragte wiederum Merkel anlässlich der Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer: »Der 9. November wurde ein Tag der Scham und der Schande. Wie sollte aus diesem Datum jemals der Tag des Glücks und der Freude werden können, wie wir ihn 61 Jahre später, am 9. November 1989, erleben durften?«
Die offiziellen Reden und Äußerungen zu ähnlichen Gelegenheiten sollen eines verdeutlichen: Deutschland ist jetzt anders. Die Bundesrepublik inszeniert sich als eine Nation, die ihre Lektion aus der Geschichte gelernt habe. Das beweise nicht nur das aufrichtige Gedenken an die Opfer, sondern auch die Tatsache, dass wieder Jüdinnen und Juden nach Deutschland (re)migrierten und Einweihungen von Synagogen wieder möglich seien, so der Tenor. »Das Verständnis der eigenen Geschichte«, so steht es im 2013 bestätigten Gedenkstättenkonzept von 2008, »trägt zur Identitätsbildung jeder Nation bei. Dazu gehören für uns Deutsche die Lehren, welche die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland aus der verbrecherischen Herrschaft des Nationalsozialismus gezogen hat: Die unveräußerliche Achtung der Menschenwürde, das Bewusstsein für die Bedeutung der Freiheit und die Wertebindung des Grundgesetzes sind tragende Prinzipien unserer demokratischen Ordnung.«Deutscher Bundestag, Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, http://0cn.de/1u29
Was die »Gründergeneration« verschwiegen hat und wie sie jenseits formal-rechtlicher Proklamationen mit der Vergangenheit umgegangen ist, darüber spart sich das Gedenkstättenkonzept indes aus.Mit Unterstützung der jeweiligen Behörden und der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien haben sich in den vergangenen Jahren verschiedene historische Forschungsinstitute der Aufgabe angenommen, Ministerien und demokratische Institutionen der frühen Bundesrepublik hinsichtlich ihres Umgangs mit der NS-Vergangenheit kritisch zu befragen. Angesichts der daraus resultierenden wissenschaftlichen Erkenntnislage ist es erstaunlich, dass sich dieser Aspekt im Gedenkstättenkonzept (noch) nicht widerspiegelt. Entscheidend ist nur, was an Positivem aus Unterdrückung, Entrechtung und Vernichtung für die Gegenwart zu ziehen sei. Ohnehin zelebriert man auch lieber den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus oder den der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, anstatt an die »Machtergreifung« oder den Beginn des Zweiten Weltkriegs zu erinnern; oder man deutet, wie im Falle des 9. November, einen »Tag der Scham und der Schande« gleich in einen Glücks- und Freudentag um. Das Negative der Vergangenheit, das doch vor allem daran erinnern könnte, wie man es von Anfang an nicht machen sollte, gerät so in den Hintergrund. Und das berechtigte Ansinnen, der Opfer um ihrer selbst willen zu gedenken, wie es vor allem von deren NachfahrInnen getan wird, wird eigenen Zwecken untergeordnet, die nicht zuletzt darin zu bestehen scheinen, die erfolgreiche Realisierung demokratischer Werte zu bezeugen.
Dieses offizielle Gedenken ist in großen Teilen aus einer nicht-staatlichen, kritischen Erinnerungskultur heraus entstanden, die zunächst von Opfergruppen und BürgerInneninitiativen erkämpft wurde. Inzwischen stellt sich jedoch die Frage, wer diese Erinnerungskultur jenseits der staatlichen Gedenkrhetorik trägt. Sie steht nicht mehr in Opposition zu einem zuvor noch vorherrschenden kruden Revisionismus, sondern dient beinahe nur noch zur Bestätigung der von der Politik beschworenen und in weiten Teilen auch faktisch erfolgten Normalisierung Deutschlands. Auch wenn es durchaus auch andere Formen des Gedenkens gab und immer noch gibt und sich insbesondere die Erinnerung an den Holocaust nicht in Akten vor dem Hintergrund staatspolitischen Kalküls erschöpft, so geht es im Folgenden um eben dies: nicht um die Erinnerungskultur in all ihren Aspekten, sondern darum, wie sie von der und für die Politik konzipiert wird.
Die Theorie des kollektiven Gedächtnisses
Es passt in das Bild, welches die deutsche Erinnerungspolitik bietet, dass der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in diesem Jahr gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. In ihrer Begründung betont die Friedenspreis-Jury, Assmann leiste »in hohem Maße Aufklärung zu Fragen eines kulturellen Gedächtnisses einer Nation« und plädiere für einen »offene[n] und ehrliche[n] Umgang mit der Vergangenheit« als »Bedingung für ein friedliches Miteinander«. Das Ehepaar Assmann ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung seit den späten achtziger Jahren zu Leitbegriffen zunächst der Kulturwissenschaften geworden sind und im Folgenden auch darüber hinaus größte Verbreitung gefunden haben. Seit der Jahrtausendwende ist im Zusammenhang mit der deutschen Erinnerungskultur, aber auch vonseiten der deutschen Politik, wie selbstverständlich vom kollektiven bzw. kulturellen oder nationalen Gedächtnis die Rede und die Assmann’sche Theorie hat mittlerweile nahezu einen Monopolstatus in Fragen der Erinnerungspolitik inne. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man einen Blick in die Reden von deutschen PolitikerInnen zu entsprechenden Anlässen etwa ab 2000 wirft, so zum Beispiel auf die Rede Wolfgang Thierses zur Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas am 10. Mai 2005 in Berlin, in der die gesamte gedankliche Basis der Theorie wiedergegeben wird. Als Ägyptologe bezog sich Jan Assmann mit seiner an Maurice Halbwachs anknüpfenden Gedächtnistheorie zunächst auf antike Hochkulturen, um die in diesem Zusammenhang entwickelte Terminologie dann zur Grundlage einer allgemeinen Kulturtheorie zu machen, die in der Folge durch Aleida Assmann auch auf die Situation des postfaschistischen Deutschlands angewandt wurde. In Kurzform lässt sich die Theorie folgendermaßen skizzieren: Mit dem Bezug auf eine gemeinsame Vergangenheit, die in einer Erzählung vereinheitlicht wird, konstruieren Kollektive sich zugleich eine Identität im Sinne eines Selbstbildes. Das kollektive Gedächtnis wird zum Zweck der dauerhaften Fixierung in Speichermedien ausgelagert, womit der Übergang vom »kommunikativen«, an lebendige organische Gedächtnisse gebundenen zum auf Überzeitlichkeit angelegten »kulturellen Gedächtnis« bezeichnet ist.
Es ist leicht einsehbar, dass dieses theoretische Grundgerüst mehr als gut zur Situation des nominell wiedervereinigten Deutschlands passte, in dem das Bedürfnis nach einer einigenden kollektiven Identität der Deutschen mit neuer Dringlichkeit geäußert wurde – ein Problem, auf das die Theorie des kollektiven Gedächtnisses ebenso eine passende Antwort bot wie auf die Tatsache, dass allmählich die letzten ZeitzeugInnen des Holocaust sterben. »Die negative Erinnerung ist in das Fundament des deutschen Staats eingebrannt. Dieses Stigma ist jedoch in positive und zukunftsweisende Werte konvertierbar: in die Affirmation von Menschenrechten, die in die Präambel des Grundgesetzes eingegangen ist,« Aleida Assman, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 279. schreibt Assmann in Der lange Schatten der Vergangenheit. Sie umschreibt damit, was sich in der Zeit seit den achtziger Jahren als das Zentrum des deutschen Gedenkens staatlich etabliert hat und vordergründig auch heute noch sein Zentrum bildet. Assmann war dann auch diejenige, die diese Theorie in die Praxis getragen hat, zunächst in die Debatten um das geplante Holocaust-Mahnmal in den neunziger Jahren. Seit 1989 war sie Mitglied des Förderkreises für das Mahnmal, sprach sich in Zeitungsartikeln für das Denkmal aus, nahm nach dem gescheiterten Wettbewerb von 1995 als Expertin am dreiteiligen Kolloquium von 1997 teil und war schließlich Teil der ExpertInnenkommission zur Gestaltung des an das Denkmal angeschlossenen Ortes der Information. Mittlerweile nimmt sie auch selbst als Rednerin am politischen Gedenken teilAleida Assmann, Die transformierende Kraft der Erinnerung. Rede im Landtag von Baden-Württemberg am 27. Januar 2012, http://0cn.de/txgj und ist politisch beratend tätig, so etwa 2013 für den damals amtierenden Bundespräsidenten Joachim Gauck zum Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung.Aleida Assmann, Ein europäischer Gedächtnisraum, der uns zusammenbringt - Wie können wir an Flucht und Vertreibung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern? Einführungsvortrag zum 5. Europäischen Geschichtsforum am 23. und 24. Mai 2016 in Berlin, http://0cn.de/g9ai
Es überrascht also nicht, dass Assmann als Akteurin der erinnerungspolitischen Wende Deutschlands und als Mitgestalterin des politischen Gedenkens die deutsche Erinnerungskultur und staatliche Gedenkpolitik in ihrer gegenwärtigen Form affirmiert und legitimiert. Ihre Texte der ausgehenden neunziger Jahre und der 2000er Jahre, in denen sie die deutsche Erinnerungsgeschichte als lineare Erfolgsgeschichte beschreibt, sowie ihre Schrift Das Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention von 2013, in der sie diese Erfolgsgeschichte gegen ihre KritikerInnen verteidigt, müssen vor diesem Hintergrund gelesen werden. Dabei verschränken sich ihre Rollen als Kulturwissenschaftlerin einerseits und als Akteurin, die selbst Teil der Erinnerungsgeschichte ist und politische Interessen vertritt, andererseits.
Dass Assmann sich auch selbst in ihren Schriften mit der deutschen Erinnerungskultur identifiziert und grundsätzlich nicht zwischen wissenschaftlich-deskriptivem und politisch-engagiertem Anspruch trennt, macht es auch für die Kritik an ihr schwierig, in jedem Fall genau zu bezeichnen, wovon gerade die Rede ist: dem deutschen Erinnerungsdiskurs im Allgemeinen, dem staatlichen Gedenken, Assmanns Theorie oder ihrem politischen Engagement. Wenn im Folgenden zentrale Aspekte der deutschen Erinnerungspolitik anhand von Aussagen Assmanns betrachtet werden, dann treffen die Feststellungen deshalb in der Regel sowohl auf ihre theoretischen Arbeiten als auch auf die praktisch-politische Umsetzung zu. Die Analyse dessen, womit die von Assmann angeführte »Konvertierung der Vergangenheit« im Sinne einer Umwandlung der Negativität des Vergangenen in das Positive der Erinnerung und Identität erreicht werden soll, hat dabei das Ziel, die grundlegende Fragwürdigkeit dieser Konstruktion sowohl für das etablierte Paradigma opferzentrierter Erinnerung als auch für neuere Entwicklungen einer Pluralisierung des Erinnerns aufzuzeigen.
Die »ethische Erinnerung«: Deutsche Identität und die Vereinnahmung der Opfer
Assmanns Affirmation und Legitimation der deutschen Erinnerungskultur kristallisiert sich in der Formel ethische Erinnerung, die ihr zufolge zwei zentrale Stränge umfasst: Der eine ist das Gedenken an die Opfer der Verbrechen der eigenen Nation, das für Assmann ein historisches Novum darstellt, da nicht mehr nur der »eigenen« Kriegsopfer gedacht wird; der andere ist die Abgrenzung gegen diese Vergangenheit und das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten. Das »kommunikative Schweigen« (Hermann Lübbe), das die ersten Jahre nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg geprägt habe, sei in Deutschland der Maxime gewichen: »Wir sind anders, und deshalb müssen wir von dieser Vergangenheit reden!« Aleida Assmann, Das Unbehagen der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, 49f. Das darauf aufgebaute Gedenken stehe unter dem Grundsatz der Vergangenheitsbewahrung auf unbestimmte Zeit im Unterschied zur Vergangenheitsbewältigung. Die Unermesslichkeit der Verbrechen erfordert Assmann zufolge neben der gerichtlichen Verfolgung und Bestrafung aufgrund eines unabgegoltenen Restes ergänzende Formen der Bearbeitung, die einzig durch eine allgemeine und verbindliche Erinnerung geleistet werden könne. Die historische Schuld, die im Normalfall eher eine Dynamik des Vergessens anstoße, um Scham und Schuld abzuwehren, werde im deutschen und welthistorisch »absolut neuartigen« Fall in historische Verantwortung verwandelt, die Anerkennung der Vergangenheit werde als ethische Pflicht angesehen. »Ethisch« nennt Assmann diese Integration der negativen Erinnerung in das nationale Selbstbild, weil sie eine Erinnerung an etwas darstelle, das man lieber vergessen wolle.Ebd. 208
Sie bezeichnet dies als »selbstkritische« Erinnerung, durch die sich die Wertmaßstäbe und das Geschichtsbewusstsein tiefgreifend verändert hätten. Die Deutschen fühlten mit den Opfern, bauten eine Verbindung mit ihnen auf und schenkten ihnen Anerkennung, Wiedergutmachung, Versöhnung und eben Erinnerung, was den Opfern ihre Würde zurückgebe. Assmann stellt klar, dass die vom Trauma gezeichneten Opfer für die Bestätigung ihres Opferstatus auf die großzügige Anerkennung anderer angewiesen sind, was sie zur Behauptung führt, das Holocaust-Gedenken stehe »auf der Basis eines ethischen Erinnerungsvertrags zwischen den Deutschen als Nachfahren der Täter und den Juden als Überlebende und Nachfahren der Opfer«. Ebd., 109 Die TäterInnen und ihre NachfahrInnen ließen die Überlebenden und die NachkommInnen der Opfer mit ihrer traumatischen Erinnerung nicht allein, sondern übernähmen in einer gemeinsamen Erinnerung ihre Perspektive und machten in dieser Weise das historische Trauma zur Grundlegung einer gemeinsamen Zukunft. Der paradigmatische und gleichzeitig bekannteste Ausdruck dieser Erinnerung ist das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas. In den dazugehörigen Debatten sprach sich Assmann seinerzeit nicht nur für das Denkmal als geeignetes Speichermedium im Sinne des kollektiven Gedächtnisses und somit als Antwort auf das Sterben der ZeitzeugInnen aus, sondern verknüpfte damit eben auch die brennende Frage nach deutscher Identität. Sie wollte diese definieren als »relationale Identität, die nicht mehr ideologisch, sondern kommunikativ zu begründen ist […], nicht als abgeschottetes Weltbild, sondern in der gegenseitigen Wahrnehmung mit den Selbstbildern und Erinnerungsperspektiven anderer Nationen«.Aleida Assmann, Kommentar (zum dreistufigen Colloquium von Januar bis April 1997. Erste Sitzung am 10. Januar 1997), in: Ute Heimrod u.a. (Hrsg.), Der Denkmalstreit - das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermodeten Juden Europas«. Eine Dokumentation, Berlin 1999, 615-616. Das Ergebnis spricht dann jedoch eine andere Sprache, denn es handelt sich in erster Linie um eine einseitige Perspektivübernahme, die die Frage ausklammert, ob diese von der anderen Seite überhaupt erwünscht ist.
Es geht Aleida Assmann demnach im Sinne der staatlichen Gedenkpolitik weniger um die historischen Ereignisse an sich oder um das Wie und Was der Erinnerung, sondern in erster Linie um die Grundlegung einer deutschen Identität, in der die Negation der schlimmen Vergangenheit und die Affirmation der guten Gegenwart miteinander verbunden werden. Die Vergangenheit dient als Kontrastfolie, um das gegenwärtige Deutschland als vorbildliche und moralisch überlegene Nation darzustellen. Dafür werden die Opfer als Bindemittel vereinnahmt. Die Deutschen hätten inzwischen gelernt, dass sich Weltkriege und die Ausrottung der Jüdinnen und Juden nicht gehören, und könnten den Holocaust nun als negativen Gründungsmythos annehmen, um sich »distanzierend von ihm zu befreien und mit den Opfern zu verbünden«.Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, 18. Der Trick, der es den Deutschen so ermöglicht, durch ein auf den Holocaust fixiertes Gedenken mit eben dieser Vergangenheit fertig zu werden, besteht darin, sie nicht zu verdrängen, sondern sich ihrer durch eine vorbehaltlose Annahme und vergangenheitspolitische Funktionalisierung zur Legitimation der deutschen Demokratie zu bemächtigen. Auschwitz wird als Gründungsmythos in den Rang eines Heilsgeschehens gerückt, das Sinnlose schlechthin zur Sinnstiftung deutscher Identität vereinnahmt. Dass auf diesem Wege dem absolut Negativen doch noch etwas Positives abgerungen wird, erscheint wohl nur demjenigen plausibel, der von der Sache selbst zu abstrahieren weiß.
Während in den achtziger Jahren noch darüber debattiert wurde, was man der nationalsozialistischen »Episode« an deutscher Geschichte entgegenhalten könne, um ein positives deutsches Selbstbild zu konstruieren, führt die »negative Erinnerung« qua Konvertierung jetzt ganz automatisch zu einem positiven Selbstbild. Dabei erweisen sich Assmanns Ausführungen als dreifacher Glücksfall für die deutsche Politik. Erstens rettet sie den scheinbar unentbehrlichen Identitätsbegriff; zweitens braucht es keinen Blick in Gegenwart und Zukunft der Demokratie, wenn mit der Erinnerung an die schlimme Vergangenheit wie von selbst die Manifestation demokratischer Werte einhergeht; und drittens hilft die Interpretation der bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik nach 1945 als Erfolgsgeschichte ihrerseits, der schlimmen Vergangenheit vor 1945 etwas Positives entgegenzustellen. Das damit einhergehende Identitätsmodell ist in Assmanns Augen so attraktiv, dass sie es auch als Integrationsvehikel für ein (politisch und kulturell) vereinigtes Europa vorschlägt.
Das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten vor der Kontrastfolie NS-Vergangenheit hat, wenn es sich nicht auf bloße Beschwörungen beschränkt, durchaus einen realen Kern. Hingegen ist Assmanns Blick auf den Status des leidenden Opfers, das im Zentrum der »ethischen Erinnerung« steht, geradezu pervertiert. Die Bedeutung des Opfers, schreibt Assmann in Der lange Schatten der Vergangenheit, »liegt in seiner absoluten Passivität, die mit Unschuld und Reinheit konnotiert ist. […] Die Betonung des Leidens und der Narben erscheinen als Teil einer nachchristlichen Passionsgeschichte, die die Opfer mit einer absoluten moralischen Autorität ausstattet.« Für Assmann ist das Neue an den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen trotz der Präzedenzlosigkeit des Holocaust nicht ihr Opferstatus an sich, sondern »die Aufmerksamkeit, die diese Opfer heute auf sich ziehen bzw. auf sich ziehen wollen«. Demnach gehe es ihnen um den Aufbau einer neuen Identität: »Es geht um den Nachweis einer Opfergeschichte von und für die eigene Gruppe.« Die ethische Erinnerung habe neben der positiv zu bewertenden moralischen Sensibilisierung und neuen rechtlichen und ethischen Standards auch eine Emotionalisierung der Geschichte und eine einseitige Betonung des Leidens zur Folge, auf deren Basis kollektive Ansprüche formuliert würden. Den Opfern wird von Assmann also vorgeworfen, dass sie sich nicht damit zufriedengeben, dass ihnen von der Erinnerungsgemeinschaft ihre Würde zurückgegeben wird, sondern sie auf Grundlage ihrer Opferrolle eine Identität aufbauten und aus dem Trauma einen positiven Selbstwert gewönnen: »Was bis vor kurzem Gegenstand der Scham gewesen ist, ist damit zum Gegenstand von Prestige und Ehre geworden.« Problematisch findet Assmann, dass »eine Gruppe, die ihr Selbstbild auf einer mythisch überhöhten Opferrolle errichtet, ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten erstens durch Passivierung blockiert und sich zweitens gegen die Erfahrung anderer immunisiert«.Assmann, Der lange Schatten, 79-81.
Das von Aleida Assmann als ethische Erinnerung gepriesene opferzentrierte Gedenken gilt in Deutschland als hinreichende Antwort auf den Holocaust. Dabei wird ausgeblendet, dass Erinnern und Vergessen bei Tätern und Opfern jeweils sehr unterschiedliche Funktionen und damit auch unterschiedliche Legitimationen besitzen. Die Opfer deutscher Verbrechen werden post mortem symbolisch – und damit folgenlos – anerkannt, wodurch in erster Linie die eigene moralische Überlegenheit dargestellt werden soll, während eine reale Entschädigung der Überlebenden und der NachfahrInnen der Opfer möglichst auf ein Minimum reduziert wurde und wird. Dazu passt, dass der Konzentration auf die Opfer eine weitgehende Ausblendung der TäterInnen entspricht. Die Beschäftigung mit Letzteren fokussiert sich auf wenige zentrale Gestalten, die Taten selbst werden mit der Konzentration auf das fabrikmäßige Morden in den Gaskammern entpersonalisiert und als nicht darstellbar charakterisiert. Womit nicht nur etwa die große Zahl von Massenerschießungen ausgeblendet wird, sondern auch die Tatsache, dass die Verbrechen nicht plötzlich in Auschwitz begannen, sondern vorher schon als Ausgrenzung, Beraubung, Vertreibung und Deportation in der Mitte der deutschen Gesellschaft stattfanden. Dass diese Geschichte völlig entkonkretisiert und nur aus der Perspektive einer Erfolgsgeschichte der Aufarbeitung thematisiert wird, ermöglicht es, in der Erinnerung selbst einer konkreten, tatsachenbasierten Auseinandersetzung auszuweichen. Bezeichnenderweise spielt weder bei Assmann noch im Gedenkstättenkonzept die Zeit des Nationalsozialismus sowie eine grundsätzliche Reflexion darauf, was aus dieser Zeit (neben den Opfern) als erinnerungswürdig erscheint, eine entscheidende Rolle.
Zweierlei Gründungsmythos
Die Holocaust-Erinnerung steht bei Assmann Modell für Erinnerung schlechthin, doch betont sie auch, dass durch sie andere Erinnerungen verdeckt oder an die Seite gedrängt würden. Neben der Internationalisierung bzw. Europäisierung des Holocaust geht es ihr vor allem um eine Pluralisierung des Erinnerns. Durch die Aufarbeitung des Holocaust habe sich eine Reihe von Begriffen und Normen etabliert, die in der Folge auf unterschiedliche vergangene Ereignisse und gegenwärtige Formen von Gewalt ausgedehnt worden seien.Ebd., 15f. Dies bedeute jedoch keine Relativierung des Holocaust oder die Infragestellung seiner Beispiellosigkeit, sondern verdeutliche vielmehr eine tiefgreifende moralische und kognitive Wende. Der Bezug auf den Holocaust habe demnach positive Folgen nicht nur für die Deutschen und ihre Opfer. Nun könnten auch vergessene, verdrängte oder ignorierte Gewaltgeschichten in einer transnationalen Perspektive artikuliert werden und Gehör finden.
Besonders wichtig ist es Assmann dabei, dass Konkurrenzen der verschiedenen Gruppengedächtnisse in dialogische Formen der gemeinsamen Teilhabe und Verantwortung verwandelt würden. So existierten auch in Deutschland viele Gruppen nebeneinander, für deren teilweise unvereinbaren Erinnerungen es einen gemeinsamen Gedächtnisrahmen zu finden gelte. Assmann nennt »die nichtjüdischen Deutschen als Opfer der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, als Opfer von Flucht und Vertreibung, als Opfer von Verfolgung in der DDR, und nicht zu vergessen: die Deutschen mit Migrationshintergrund samt ihrer verschiedenen Herkunftsgeschichten«.Assmann, Das Unbehagen, 28. Vor allem für die so unterschiedlichen Migrationserfahrungen gehe es um die Entwicklung eines einheitlichen subsumierenden Narratives, denn Migration sei mit Blick auf das zwanzigste Jahrhundert eine »unendliche Geschichte«, »die sich in ganz unterschiedlichen Kontexten wiederholt«.Aleida Assmann, Menschenrechte und Menschenpflichten. Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, Wien 2017, 15. Assmann stellt diese Thematik ganz konkret in den Kontext der gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen und auch auf politisch-institutioneller Ebene soll dieser Zusammenhang herausgestellt werden, so in der für 2020 geplanten Eröffnung der Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.
Ungeachtet der Fragwürdigkeit einer solchen Parallelisierung von Migrationsgeschichten geht es laut Assmann aber vor allem auch um die Integration der MigrantInnen in die bestehende deutsche Erinnerungskultur. Einerseits könnten diese auf dem direkten Weg der Empathie Zugang zu ihr finden. Die MigrantInnen könnten »zum Beispiel stolz darauf sein, dass die Türkei den aus Deutschland fliehenden Juden Asyl gewährt hat, oder sie könnten sich mit den diskriminierten und ausgegrenzten Juden identifizieren«,Assmann, Das Unbehagen, 129f. da sie oft genug selbst alltägliche Erfahrungen mit Rassismus, Zurücksetzung und Diskriminierung gemacht hätten. Andererseits bestehe in Deutschland aber auch eine Erinnerungspflicht, die sich im ethischen Imperativ »Nie wieder darf so etwas passieren!«Aleida Assmann, »Wir haben eine Errungenschaft zu verteidigen«, Interview mit Karin Janker, Süddeutsche Zeitung, 19.2.2018, http://0cn.de/ipad ausdrücke. Diese allgemeine deutsche Pflicht zur Erinnerung scheinen auch Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli oder der CDU-Bundestagsabgeordnete Marian Wendt im Blick zu haben, wenn sie in Reaktion auf die antisemitischen Äußerungen bei Demonstrationen im Dezember 2017 in Berlin insbesondere Flüchtlinge zur Erinnerung bzw. zu Besuchen von Gedenkstätten verpflichten wollen. Steinmeier etwa erinnerte beim Auftakt der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestags der Staatsgründung Israels an Deutschlands Verantwortung vor seiner Geschichte, wozu die Lehren zweier Weltkriege und die aus dem Holocaust gehörten. Diese Verantwortung kenne »keine Schlussstriche«, weder für »Nachgeborene« noch für diejenigen, »die später hinzugekommen sind«. Dabei ist nicht nur die Verpflichtung zur Erinnerung als Mittel zur Bekämpfung von Antisemitismus an sich fraglich. Fraglich ist auch deren umstandslose Übertragung auf MigrantInnen, die eben nicht in der generationellen Nachkommenschaft der TäterInnen stehen. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass Integration vor allem als einseitige Annahme der deutschen Identität verstanden wird, und zu dieser gehörten eben die sogenannten Lehren aus der Vergangenheit, die in erster Linie darin zu bestehen scheinen, der Opfer und ihrer Leiden würdig zu erinnern, wie es auch schon im Gedenkstättenkonzept angeklungen ist.
Dass die MigrantInnen sich einerseits aus der Opferperspektive mit den ausgegrenzten Jüdinnen und Juden, andererseits mit der deutschen Erinnerungsperspektive identifizieren sollen, macht die Fragwürdigkeit eines umstandslosen Miteinanders einer Pluralität von Erinnerungen anschaulich. Assmann kommt es in Bezug auf die durch Migration, Europäisierung und Globalisierung geprägte Pluralisierung von Perspektiven darum auch lediglich darauf an, dass die eine Erinnerung die andere nicht in Frage stellt, sondern sich »im Beziehungsgefüge des nationalen und europäischen Gedächtnisses moralische Barrieren und Empathieblockaden allmählich auflösen«. Zudem sei es – trotz ihrer eigenen Fixierung auf die Opfer – wichtig, »das emotionale Spektrum des nationalen Gedächtnisses zu erweitern und vermehrt auch positive Bezugspunkte zur Vergangenheit ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken«. Assman, Das Unbehagen, 48f.
In Bezug auf den 9. November ist dies auf staatlicher Ebene bereits mit Bravour gelungen: Aus dem Tag, an dem die BRD bis 1989 offiziell der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gedachte, wurde der Tag, an dem Deutschland symbolisch seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg überwand und die volle Souveränität wiedererlangte. Dem Gründungsmythos Auschwitz wird damit ein anderer, positiver Gründungsmythos entgegengestellt. Dieser Gründungsmythos findet seinen symbolischen Ausdruck im geplanten Denkmal für Freiheit und Einheit, das vor dem rekonstruierten Berliner Stadtschloss errichtet werden soll. Der Siegerentwurf mit dem Titel Bürger in Bewegung – eine überdimensionale begehbare Schale, die je nach Verteilung der BesucherInnen zur einen oder anderen Seite kippt – verweist laut Jury darauf, »dass Veränderungen mit der Aktivität der Bürgerinnen und Bürger verbunden sind, Kommunikation voraussetzen und selbst dann nur langsame, allmähliche Bewegung erzeugt [sic!]«. Das Denkmal erinnert also nicht an die Opfer der Diktatur, sondern an die sich selbst befreienden BürgerInnen, es »schafft einen symbolischen Ort der positiven Erinnerung an die Friedliche Revolution und Wiedervereinigung als glücklichste Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte« – ganz ohne Konvertierung der Vergangenheit. Dabei wird die Fokussierung auf den BürgerInnenprotest als Ursache für die Erlangung von Freiheit und Wiedervereinigung sowie der Schriftzug »Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk« der historischen Konstellation und den Ereignissen natürlich kaum gerecht. Beides passt aber sehr gut zu einem Selbstbild, das sich dadurch auszeichnet, dass wir alle Demokraten sind und die Menschenrechte achten, weil wir schließlich unsere geschichtliche Lektion gelernt haben.
Wenn das Denkmal für Freiheit und Einheit 2019 am dreißigsten Jahrestag der »Friedlichen Revolution« tatsächlich eingeweiht wird, dann kann man in Berlin bei einem Spaziergang vom Brandenburger Tor zum Schlossplatz ganz buchstäblich den Weg von der »Schande« zur »Freude« nachvollziehen. Ironischerweise kommt man dann auch an der 1993 auf Anregung von Helmut Kohl umgestalteten Neuen Wache vorbei, die das Gedenken an die Opfer der beiden deutschen Diktaturen verbindet und die von den Deutschen Ermordeten gemeinsam mit WiderstandskämpferInnen und deutschen Soldaten in der pauschalen Widmung »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« zusammenfasst. Es wird dann darauf ankommen, dieses Geflecht an deutscher Gedenk- und Erinnerungspolitik nach 1989 zu entwirren, zu rekontextualisieren und sich der Sache selbst zuzuwenden. Man fragt sich nur, was dann eigentlich aus Assmanns Begriff des negativen Gründungsmythos wird. Vielleicht ein Fall für das kulturelle Gedächtnis.
Felix Denschlag / Jan Ferdinand
Felix Denschlag ist 1,72 und lebt in Hamburg, Jan Ferdinand ist 1,92 und lebt in Berlin. Gemeinsam erarbeiten sie eine kritische Studie zur Dialektik von Theorie und Praxis des kollektiven Gedächtnisses vor dem Hintergrund der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus. In ihrer Freizeit lesen sie gute Bücher.