Die Kontinuität des Antisemitismus

Der zu besprechende Sammelband nimmt nach den Worten des Herausgebers »antisemitisierende Semantiken des Jüdischen und die damit einhergehenden Zuschreibungen in den Blick«. Er nähert sich den »akademischen und öffentlichen Debatten über das Verhältnis von Kapitalismus und Juden in den Jahren und Jahrzehnten um 1900 über den Zugriff der Sprache und der Begriffsbildung« und fragt, »mithilfe welcher Schlüsselbegriffe und -konzepte die um 1900 weit verbreitete Überzeugung von der Verursachung des modernen Kapitalismus durch die Juden zu einer [...] ›wissenschaftlichen Tatsache‹ wurde«. Allgemeiner Gegenstand der versammelten 17 Beiträge ist damit der Zusammenhang von Sichtweisen auf das Judentum und Perspektiven auf den »Kapitalismus« in einem Zeitraum, der als entscheidend für die Herausbildung ökonomisch-antisemitischer Stereotype angesehen wird. Besonderheit des Bandes ist, dass im Wesentlichen keine sich selbst als antisemitisch verstehenden Texte untersucht werden. Darüber hinaus sind die Themen der Beiträge im Einzelnen durchaus divers und lassen sich hinsichtlich unterschiedlicher Fragestellungen gliedern. Acht Beiträge beschäftigen sich mit der Anfang des 20. Jahrhunderts stattfindenden soziologischen Diskussion um die Ursprünge und Ursachen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, wobei insbesondere Werner Sombarts 1911 erschienenes Die Juden und das Wirtschaftsleben sowie dessen Rezeption untersucht wird. Einen zweiten Themenschwerpunkt mit drei Beiträgen bildet die Frage nach der literarischen Verarbeitung antisemitisierender Topoi. Hier steht Gustav Freytags 1855 erschienener Roman Soll und Haben im Zentrum. Dritter Schwerpunkt, der sich jedoch aufgrund der damals noch kaum instituierten Fächertrennung nicht klar vom ersten unterscheiden lässt, sind Analysen nationalökonomischer Diskurse. Es wird zum einen nach der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie gefragt, die sich heutzutage als Sonderweg wissenschaftlicher Entwicklung darstellt, zum anderen finden sich verstreute Beiträge zu Marx, zur jüdischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung und zur Nationalökonomie im Nationalsozialismus.

Auch der Allgemeinheitsanspruch der einzelnen Beiträge differiert. Er reicht von biographischen Vignietten wie der zu Sombarts Verleger Ludwig Feuchtwanger (Artikel von Rolf Rieß), über begriffsgeschichtliche Analysen zu Begriffen des »Fremden« (Klaus Christian Köhnke) oder des »Paria« (Hartmann Tyrell), bis zur Analyse von wissenschaftlichen Traditionen und Versuchen, den »Geist« der Epoche auf den Begriff zu bringen. Weiterhin unterscheidet sich der Charakter der Beiträge zwischen solchen mit eher deskriptivem Charakter, solchen, die von einem explizit gesellschaftstheoretischem, d. h. hier marxistischen, Hintergrund ausgehen und einer dritten Kategorie, die als affirmative Texte bezeichnet werden könnten, wobei die Abgrenzung zwischen der ersten und dritten Kategorie wiederum keine trennscharfe ist.

So kommt beispielsweise der Beitrag von Hans-Christoph Liess zum Vergleich der österreichischen Schule der Nationalökonomie mit der deutschen historischen Schule zu dem erstaunlichen Schluss, dass erstere ideologiefrei sei. Sie strebe nach »exakter Theorie«, die »gebunden ist an dasjenige im Menschen, was immer gleich ist und damit als allgemein-menschlich zu gelten hat«, während »bei einem vergleichsweise naiven historischen Ansatz das Potenzial für ideologische Gefährdungen groß [ist], da hermeneutische Deutungsprozesse in hohem Maße offen sind für das Einfließen eigener normativer Maßstäbe«. Dass auch und gerade die Bestimmung des allgemein Menschlichen ideologischen Gefährdungen ausgesetzt ist, muss eigentlich nicht eigens betont werden, die sich im Band in einigen Texten findenden affirmativen Passagen sind jedoch deshalb relevant, weil sie unter Umständen auf ein Reflexionsdefizit bloßer Deskription hindeuten.

Dies zeigt sich in anderer Hinsicht in der Bestimmung von Sombarts Buch als antisemitisch. Nach heutigen Maßstäben ist es das auch. Im Band findet sich aber leider keine explizite Untersuchung, warum es dies nach den Maßstäben der Zeitgenossen ganz überwiegend nicht war. Vielmehr konnte etwa die Jewish Chronicle, die als »führende Zeitschrift des englischen Judentums« charakterisiert wird, »überschwängliche Begeisterung« äußern. Hier scheint ein Desiderat der Begriffsgeschichte des Antisemitismus vorhanden, allgemein wirft es die Frage nach der Schwierigkeit der Konstruktion geschichtlicher Kontinuität auf. Kontinuitäten in den Dichotomien und Bildern, mit denen sowohl das Alltagsverständnis, aber auch wissenschaftliche Herangehensweisen den Gegenstandsbereich Ökonomie begreifen, immer wieder aufzuzeigen, bleibt trotzdem ein Verdienst des Buches. Wie der Beitrag von Mark Loeffler zu den Diffamierungen des Finanzkapitals in Deutschland und England während der so genannten Großen Depression von 1873 bis 1896 exemplarisch zeigt, besitzt dies auch aktuelle politische Relevanz.

MARTIN EICHLER

Nicolas Berg (Hrsg.): Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011, 461 S., € 59,00.