Am 20. Februar 1909 erscheint in der Pariser Zeitung Le Figaro das erste Futuristische Manifest als Spätgeburt des langen 19. Jahrhunderts. Es ist der erste öffentliche Auftritt einer künstlerischen Bewegung, die gemeinsam mit dem etwas jüngeren Dadaismus die »Historische Avantgarde« aus der Taufe heben sollte. Unter diesem Label fasst Peter Bürger in seiner 1974 erschienenen Theorie der Avantgarde Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus zusammen. Bürger unternimmt hier nicht einfach nur den Versuch einer Neuinterpretation von vergangenen künstlerischen Bewegungen, vielmehr will er deren eigene Theorie, ihr eigenes künstlerisches Selbstverständnis in ihrem historischen Werdegang fassen, denn genau in diesen Aspekten unterschied sich die Historische Avantgarde von vorangegangenen Strömungen. Um die Jahrhundertwende existierten zahlreiche Bewegungen nebeneinander, die jeweils ihre eigene Programmatik mitbrachten und sich gegen vergangene und zeitgenössische Strömungen abgrenzten, wie der Impressionismus, Symbolismus oder auch der Ästhetizismus. Letztgenannter ist für Bürger von besonderem Interesse, denn er stellt die theoretischen Voraussetzungen für das Selbstverständnis der Historischen Avantgarden und lässt sich innerhalb der Kunstgeschichte als Brücke zwischen systemimmanenter Kritik und Selbstkritik von Kunst begreifen. Demnach grenzten die zahlreichen untereinander konkurrierenden »Ismen« der Jahrhundertwende sich mit ihrer Kritik innerhalb des Systems Kunst gegeneinander ab. Dabei fragten sie nicht nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst, sondern beschäftigten sich letztlich mit der Selbstbehauptung gegenüber konkurrierenden künstlerischen Vorstellungen. Der Ästhetizismus dagegen verfolgte mit seinem Kunstverständnis bereits ein politisches Programm und formulierte seine Forderung mit dem »l’art pour l‘art«-Prinzip: Die Kunst sollte als Selbstzweck um der Kunst willen produziert werden. So wurde Kunst als autonome Institution innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft begriffen, die einen Schutzraum vor deren gesellschaftlichen Zwängen und ihrer Zweckrationalität bieten sollte. Nicht mehr die systemimmanente Abgrenzung gegen konkurrierende Strömungen war das Ziel, sondern die Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen Alltag.
Hier setzten die Historischen Avantgarden an und forderten das Gegenteil: die »Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis« Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, 72.. Sie wollten sich nicht damit zufrieden geben, dass ihr künstlerisches Schaffen einzig und allein den Selbstzweck verfolgt. Die Historischen Avantgarden begriffen ihre Kunst in ihrer Funktion als gesellschaftliche Praxis. Damit wurde das Verhältnis von Kunst und Politik neu bestimmt: Kunst wurde nicht mehr als interesselos und losgelöst von der Gesellschaft betrachtet. Indem die Avantgarden ihr künstlerisches Schaffen als politisches Mittel begriffen, konnten sie ohne die Trennung von Kunst und Lebenspraxis arbeiten.
Laut Bürger ist es genau das, was die Historische Avantgarde von ihren Vorläufern unterscheidet: Sie formuliert nicht einfach nur eine Kritik am Ästhetizismus; sie nutzt vielmehr dessen Erkenntnisse als Vorlage, um von dort aus Kunst als Institution, also in ihrer gesellschaftlichen Funktion begreifen zu können. Die Avantgarden wenden sich gegen die Funktion der Kunst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die der Ästhetizismus offenbart hat.
Peter Bürger wurde vielerorts vorgeworfen, seine Analyse würde nicht ausreichend auf Einzelwerke eingehen und sei von daher nicht haltbar. In der Tat, Einzelwerke spielen in der Theorie der Avantgarde eine untergeordnete Rolle und dienen höchstens ab und zu der Illustration. Das hat allerdings einen Grund in der Sache: Avantgardistische Kunst war auch ein Angriff auf die Kategorie des »Kunstwerks«. Bürger unterscheidet dabei zwischen dem organischen und dem anorganischen Werk: Ersteres ist in sich geschlossen, tritt als Einheit auf und steht für sich; es erscheint also als organisches Gefüge. Wenn nun dagegen Marcel Duchamp 1917 ein Pissoir in einer Kunstgalerie ausstellt, handelt es sich dabei nicht um ein einheitliches Gebilde. sondern vielmehr um ein anorganisches. Es stellt einen Verweis auf die Funktionsweise des Kunstbetriebs innerhalb des Kunstbetriebs selbst dar, in Szene gesetzt mit Hilfe eines alltäglichen Gegenstands, einem Fragment, das aus einem lebenspraktischen Kontext in die Kunst geholt wurde, um eben jene Werkkategorie anzugreifen – und mit ihr den Geniekult der bürgerlichen Kunst. Darum lassen sich avantgardistische Kunstwerke genau genommen nicht als Kunstwerke begreifen, sondern vielmehr als Manifestationen -- Manifestationen einer bestimmten Haltung, einer Bewegung, als Manifestationen in Form von Verweisen. Sie sind zwar durchaus von neuen Gestaltungsmitteln geprägt, so zum Beispiel von der Montage. Doch fungieren sie eben nur als selbstreferentielle Nebenprodukte, als Mittel zum Zweck; sie sind stets ein Verweis auf die Bewegung, die sie hervorbrachte.
Diese Denkweise, die ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis der eigenen künstlerischen Arbeit erforderte, ist eine der zentralen Gemeinsamkeiten zwischen Futurismus und Dadaismus. Doch so viele formelle Übereinstimmungen es zwischen den beiden auch gab: Es ist dennoch notwendig, ihre jeweilige politische Ausrichtung näher zu betrachten. Diese ist die offenbare Konsequenz aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und lässt sich anhand zwei der zentralen Figuren der jeweiligen Kunstströmungen nachzeichnen: dem Futuristen Filippo Tomasso Marinetti und dem Dadaisten Richard Huelsenbeck.
Auf die zahlreichen anderen Protagonist_innen der beiden Bewegungen und ihrer vielfältigen Ableger wird in diesem Beitrag nicht eingegangen. Es soll lediglich versucht werden, anhand von Marinetti und Huelsenbeck die unterschiedliche Erfahrung des Weltkrieges und inhaltlichen Voraussetzungen für dessen künstlerische Verarbeitung zu beschreiben.
Die bedingungslose Kriegsbegeisterung der Futuristen vor dem Ausbruch des Weltkrieges stieß nicht nur in Italien auf Interesse, sondern unter anderem auch in Deutschland – so auch bei dem Künstler Huelsenbeck und seinen Kolleg_innen. Als der herbeigesehnte Weltkrieg schließlich ausbrach, änderte sich ihre Einstellung allerdings sehr schnell. Sie gingen nach Zürich, um dort mit anderen europäischen Kunstschaffenden den Dadaismus als gesellschafts- und kriegskritische Bewegung zu begründen.
Der Futurismus des Marinetti
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Futuristischen Manifests besteht die Bewegung einzig und allein aus Filippo Tomasso Marinetti, einem bis dahin eher mäßig von Begabung und Erfolg gesegneten Literaten, der aber über ausreichend Geld und Kontakte verfügte, um sein Manifest prominent in der französischen Tageszeitung Le Figaro zu platzieren. Dennoch tritt die angebliche Bewegung als Kollektiv auf und spricht von sich selbst im Plural. Ihr Ziel ist die Mobilisierung von Gleichgesinnten, die ihre politische Überzeugung teilen und sich von ihrem Kunstverständnis angesprochen fühlen. Der Futurismus manifestiert sich, um alles Vorhandene hinter sich zu lassen – ohne überhaupt erst zu verhandeln, was im Konkreten abgeschafft oder gar erhalten werden soll. Das unterscheidet ihn von zeitgenössischen kulturkritischen Bewegungen wie der Lebensreformbewegung. Sein Ausgangspunkt ist nicht etwa die Begründung einer Angst vor einem drohenden Kulturverfall oder die politische Legitimation von reformistischen bis revolutionären politischen Programmen. Im Gegenteil, er will alles Dagewesene sowie die Erinnerung daran beseitigen. Die Gegenwart soll ebenfalls nicht konserviert werden. In ihr sieht er höchstens Elemente, die auf seine Zukunftsvision hinweisen und hervorzuheben sind: »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt–, den Militarismus, Patriotismus, den Befreiungsgestus der Freigeister, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung der Frau« Filippo Marinetti, Manifest des Futurismus, in: Le Figaro, 20. Februar 1909, zit. n. http://0cn.de/lj23.. Diese Aspekte sind dem Futurismus zumindest dienlich. Alles andere erscheint als Ballast, der abgeschüttelt gehört. Krieg sieht er als Katalysator seiner Zukunftsvision, der die erhoffte gesellschaftliche Reinigung bringen soll: »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.« Ebd.
Das Dokument gibt sich als Manifestation einer neuen Bewegung, die nicht nach hinten blicken will. Im Gegenteil, es geht bei voller Fahrgeschwindigkeit in Richtung Zukunft, während die Vergangenheit in Schutt und Asche gelegt werden soll. Marinettis Fortschrittsglaube ist bedingungslos, er will den absoluten Bruch.
Im Futurismus tauchen etliche kulturkritische Motive zeitgenössischer Strömungen auf, allen voran der Voluntarismus, also die Überbetonung des Willens gegenüber dem Verstand. Was völlig fehlt, ist hingegen eine diskursive Begründung. Es wird nicht klar, warum Marinetti eigentlich alles abschaffen will. Genauso wenig sind Gründe dafür erkennbar, warum das Manifest sich so sehr in der eigenen Frauenfeindlichkeit feiert. Auf jeden Fall ist ihm das Thema wichtig genug, um zu bestimmen, wer auf Grund des Geschlechts zu seiner Bewegung gehören darf, und wer nicht – womit er sich wiederum sehr wohl mit dem Gegeben beschäftigt, obwohl er es eigentlich hinter sich lassen will.
Das Manifest zeigt reaktionäre Elemente auf und gibt sich gleichzeitig ultra-liberalistisch. Es ist in sich widersprüchlich und inkonsequent. Dennoch hat es Erfolg; zumindest werden zahlreiche Künstler Teil von Marinettis Bewegung. Doch ist die Kriegsbegeisterung der Gruppe nicht so bedingungslos, wie sie öffentlich verkündet wird. Thomas Hecken vermutet, dass Marinetti viel zu sehr an einem Sieg Italiens interessiert war: »Die Grenze der Gewalt sollte das unbegrenzte Italien sein« Thomas Hecken, Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld 2006, 21.. Tatsächlich ist der Irredentismus, die italienische Variante der »Heim ins Reich« Theorie, für Marinetti die oberste Priorität. Auch wenn er sich sehr aktiv dafür eingesetzt hat, den Futurismus europaweit bekanntzumachen, so ist seine Bewegung letztlich Kunst im Dienste der italienischen Nation. Der Krieg wurde zwar als ästhetischer Selbstzweck verkauft – und doch war er alles andere als ein Wunsch nach »interesselosem Wohlgefallen« á la Kant, da er ausschließlich mit einem erfolgreichen Sieg der Nation verbunden wurde. Hecken geht sogar davon aus, dass Marinetti einen Krieg zurückgestellt hätte, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass Italien als Siegermacht hervorgeht.
Die Futuristische Praxis beschränkte sich nicht nur auf das Schreiben von Manifesten. Die Futuristen organisierten mit Vorliebe Veranstaltungsreihen, die auf Krawall gebürstet waren. Sie beschimpften ihr Publikum und setzten alles daran, Aggression zur erzeugen. Das künstlerische Mittel der Provokation wurde ausschweifend erprobt. Auch der Grundstein für Marinettis Engagement für den italienischen Faschismus wird in dieser Zeit gelegt. Die Verbindung zwischen dem künstlerischen Nationalismus des Futurismus und der organisierten nationalistischen Bewegung wurde allerspätestens 1914 besiegelt, als Marinetti zusammen mit Mussolini eine Gefängnisstrafe verbüßte. Grund dafür war die gemeinsame Verbrennung einer österreichischen Fahne während der Interventionskampagne, die den Kriegseintritt Italiens forderte. Dieser folgte 1915 auf Seiten der Entente, sodass die Futuristen 1916 nun endlich Praxiserfahrung mit Kriegsgeschehen sammeln konnten. Allerdings führte diese eher zu einer mittelschweren Krise des italienischen Futurismus, da ein Großteil seiner Personalaufstellung diesem Krieg zum Opfer fiel, denn zur Verwirklichung der futuristischen Hoffnungen.
Der Übergang vom Futurismus zu Dadaismus
Die schillernde Hoffnung einer Kulturerneuerung durch den Krieg war zunächst auch in der deutschen Kulturelite verbreitet, verblasste nach dessen Ausbruch aber zunehmend. Viele der Kunstschaffenden hatten bereits die militärische Grundausbildung nur schwer überstanden, ganz zu schweigen von den eigentlichen Fronteinsätzen. Im gleichen Jahr als der Futurismus dank des Personalmangels aufgrund von Frontverlusten seine erste Phase beendete, manifestierte sich in Zürich eine neue künstlerische Bewegung: der Dadaismus. Die Schweiz war zu einem beliebten Zufluchtsort für Kriegsgegner_innen aus ganz Europa geworden, ein Umstand, der sich sowohl der geographischen Lage im Zentrum Europas als auch der Kriegsneutralität des Landes verdankte.
Die Beschäftigung mit dieser Bewegung bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Erschwerend ist bereits die Tatsache, dass sie sich gar nicht als Bewegung verstanden wissen will. Ihre zeitliche Eingrenzung erstreckt sich von 1916 bis 1923, die räumliche verteilt sich über europäische Großstädte in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Italien und den Niederlanden. Die Gruppierungen haben keine deckungsgleiche Programmatik, wie sie der Futurismus aufweisen konnte. Im Gegenteil: Der Dadaismus ist eine Anti-Bewegung, er steht nicht für etwas Bestimmtes, sondern richtet sich gegen alles Bestimmte.. Er verwehrt sich so jeder Festlegung auf ein einheitliches Programm. Schon die Frage, was Dadaismus überhaupt sei, wurde als »undadaistisch« diskreditiert. Ganz entschieden richtete er sich jedoch gegen alles, was den Ersten Weltkrieg hervorgebracht hatte: die bürgerliche Gesellschaft, ihre moralischen Selbstgewissheiten, ihre künstlerischen Vorstellungen und vor allem ihren Nationalismus. Insofern war Dada keinesfalls etwa eine inhaltsleere Bewegung, die Nonsens als reinen Selbstzweck zelebrierte. Sie nutzte ihre Kunst, um politischen Protest auszudrücken.
Der Anspruch, die Trennung von Kunst und Lebenspraxis aufzuheben, ist es nun, der Futurismus und Dadaismus verbindet. Nicht nur auf der theoretischen Ebene des eigenen ästhetischen Selbstverständnisses, auch in der Wahl der künstlerischen Mittel gibt es zwischen den beiden etliche Parallelen. Zusammen etablierten sie die Provokation des Publikums als künstlerische Methode; der Skandal war ihr Erfolg. Die Ähnlichkeit in der Wahl der Mittel war nicht zufällig. So waren zum Beispiel die Mitbegründer des Dadaismus Hugo Ball und Richard Huelsenbeck am Anfang ihrer künstlerischen Aktivitäten dem Futurismus nicht nur in der künstlerischen Form, sondern auch im politischen Inhalt verbunden. Dies änderte sich erst mit den Konsequenzen des Ersten Weltkrieges und führte schließlich dazu, dass Ball und Huelsenbeck mit anderen Gleichgesinnten in Zürich 1916 den Dadaismus ins Leben rufen konnten, der zwar formal und thematisch immer noch an den Futurismus anknüpfte, jedoch die inhaltlichen Schwerpunkte Krieg und Nationalismus unter umgekehrten Vorzeichen behandelte.
Huelsenbeck und Ball lernten sich 1912 in München kennen, kooperierten in den nachfolgenden Jahren immer wieder innerhalb ihrer künstlerischen Arbeit, bis Hugo Ball 1915 beschloss nach Zürich zu gehen. Ihr vorerst letzter gemeinsamer Auftritt in Deutschland war die Gedächtnisfeier für gefallene Dichter. Zu diesem Anlass hatten sie sich bereits von ihrer Kriegsbegeisterung abgewandt, die sie mit dem Futurismus anfänglich teilten. Der Gesinnungswandel lag an der eigenen Fronterfahrung, die beide auf unterschiedlichen Wegen gemacht hatten und die sie letztlich innerhalb von kurzer Zeit zu Kriegsgegnern werden ließ. Während der Gedächtnisfeier würdigten sie sogar den französischen Autoren Charles Péguy – eine Provokation gegenüber dem deutschen Publikum, das zum Beispiel noch ein halbes Jahr zuvor Thomas Manns Gedanken im Kriege und dessen Legitimation des Krieges gerade gegen Frankreich aus Sicht eines deutschen Künstlers studieren konnte. Wenn das Publikum eine auch nur annähernd zu Thomas Mann ideologisch verwandte Veranstaltung erwartet hat, muss die Würdigung eines französischen Autors mit antideutschen Positionen wie Vaterlandsverrat gewirkt haben. Hier kündigte sich bereits eine neue inhaltliche Ausrichtung avantgardistischer Kunst an, die im Dadaismus ihre Form fand.
Die Geburt des Dadaismus im Cabaret Voltaire
Der Gründungszeitpunkt des Dadaismus lässt sich nicht so eindeutig datieren wie der des Futurismus. Dafür ist der Gründungsort umso eindeutiger: Es ist das Züricher Cabaret Voltaire. Insofern gilt es nun nachzuzeichnen, wie dieser Ort in Zürich entstanden ist und welche Bedeutung es für die Entwicklung des Dadaismus trug. Das Cabaret Voltaire wurde am 5. Februar 1916 von Hugo Ball und seiner Lebensgefährtin Emmy Hennings gegründet. Diese Kleinkunstbühne war aus der Not geboren und diente zunächst in erster Linie dazu, den Lebensunterhalt der beiden zu finanzieren. Schon bald wurde das Cabaret Voltaire zu einem Anlaufpunkt für Kunstschaffende in Zürich, an dem die Ablehnung von Krieg und Nationalismus zusammengeführt wurde. Huelsenbecks beschrieb es folgendermaßen:
»Wir hatten alle keinen Sinn für den Mut, der dazu gehört, sich für die Idee einer Nation totschießen zu lassen, die im besten Fall eine Interessengemeinschaft von Fellhändlern und Lederschiebern, im schlechtesten eine kulturelle Vereinigung von Psychopathen ist, die, wie im deutschen »Vaterlande«, mit dem Goetheband im Tornister auszogen, um Franzosen und Russen auf die Bajonette zu spießen.« Richard Huelsenbeck, En avant Dada: Eine Geschichte des Dadaismus, in: Herbert Kapfer (Hg.), DADA-LOGIK 1913–1972, München 2012, 113–144, 115.
Auch die Einstellung zur Funktion von Kunst teilten viele der dort verkehrenden Künsterinnen und Künstler. Als Kunstproduzierende begriffen sie ihre Tätigkeit als gesellschaftliche Praxis und hatten die Absicht, ihre Kunst politisch einzusetzen. Im Gegensatz zu dieser Auffassung standen zum Beispiel Expressionist_innen aus Deutschland, von denen ebenfalls einige nach Zürich kamen, aber hauptsächlich mit dem Erhalt der deutschen Kultur im Ausland beschäftigt waren.
Jenseits des Ortes herrscht bis heute in der Forschung Unklarheit über die Entstehung von Begriff und Strömung des Dadaismus. Allerdings ist diese Verwirrung Teil des Programms und den Protagonist_innen dieser Anti-Bewegung selbst zu verdanken, die unterschiedlichste Gründungsmythen in die Welt setzten und beanspruchten, mit der je eigenen Variante die Entstehungsgeschichte des Begriffs »Dada« treffend wiederzugeben. Gleichzeitig spielen die Gründungsmythen des Dadaismus mit ihrer völligen Banalität: Demnach war Dada angeblich eine Schweizer Markenbezeichnung für Seifenprodukte, die zu dem Zeitpunkt beliebt war; oder aber das Wort wurde durch einen zufälligen Blick in ein Wörterbuch gefunden; im Deutschen wurde der Begriff mit Kindersprache verbunden, im Französischen war es schließlich das Wort für »Steckenpferd«. Huelsenbeck selbst war Vertreter der letztgenannten Version. In seinem Text »Dada siegt! Eine Bilanz des Dadaismus« von 1920 geht er in dieser Metaphorik sogar so weit, dass er das Cabaret Voltaire als einen Pferdestall bezeichnet, und eine Parallele zu Jesus Christus zieht, der auch in einem Pferdestall geboren wurde.
Klar ist, dass Dada nicht durch einen Willensakt ausgehoben wurde, wie Marinetti dies für seinen Futurismus inszenierte. Das, was da als »Dadaismus« auf die Welt kam, ist eher ein Label für die politische Haltung der Mitwirkenden als eine künstlerische Bewegung. Die Schöpfung des Dadaismus machte sich ihre angebliche Sinnlosigkeit zum Programm und hielt sie als künstlerische Protestform der bürgerlichen Gesellschaft vor.
In der Rezeption wird Dada häufig als ähnlich vergangenheitsfeindlich wie der Futurismus wahrgenommen. Dabei wird unterstellt, dass der Dadaismus wie der Futurismus mit der Vergangenheit brechen wollte – eine Interpretation, die Dada höchstens in Momenten seiner Erscheinung, aber nicht im Wesen fasst. Schon allein der Name der Geburtsstätte des Dadaismus sollte einen deutlichen Gegensatz zum Futurismus und seiner Sehnsucht nach einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit aufzeigen: Das Cabaret Voltaire wurde nicht zufällig nach einem der bekanntesten französischen Philosophen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts benannt. Dada mag vom Futurismus die Auffassung vom Verhältnis von Kunst und Gesellschaft sowie die Provokation als ästhetisches Mittel gelernt haben, keineswegs aber hat er dessen Verlangen nach einem einfachen Abschaffen von allem Gegebenen übernommen.
Die Geburtsmythen geben außerdem einen Eindruck von der Internationalität des Dada Projektes – dem Dadaismus ist es offensiv gleichgültig, ob der Begriff aus dem Französischen oder dem Deutschen entliehen ist. Beides wird ebenso verneint wie bejaht. So ist überhaupt der Begriff ‚Dada‘ an keine Einzelsprache gebunden. Auch das wohl bekannteste künstlerische Mittel des Dadaismus, das Lautgedicht, funktioniert international, da es sich ebenfalls jeder Notwendigkeit des Verständnisses von einzelnen Sprachen entzieht.
Bereits im Juli 1916 schließt das Cabaret Voltaire wieder; zum einen, weil es kaum noch rentabel ist, zum anderen, weil Ball und Hennings Zürich wieder verlassen wollen. Beide wenden sich vom Dadaismus ab und ziehen ins Tessin, um sich dem Studium des Katholizismus zu widmen. Die anderen Akteure des jungen Dadaismus verlassen ebenfalls spätestens zum Kriegsende Zürich wieder, um sich in unterschiedlichen europäischen Großstädten niederzulassen und Ableger des Dadaismus zu gründen.
Vom Rennwagen zum Steckenpferd
Vergleicht man abschließend die beiden besprochenen Bewegungen, so wird deutlich, wie sehr sie sich inhaltlich unterscheiden. Wo der Futurismus alles, was nach Zukunft aussieht, mit einem schreienden »Ja!« begrüßt, will Dada zeigen, dass es so nicht weitergehen darf. Das wird auch deutlich, wenn man die Gesamtheit der schriftlichen Arbeiten von Marinetti und Huelsenbeck in ihrer Ausrichtung vergleicht. Marinetti will das »Damals« und das »Jetzt« abschaffen, ihn interessiert nur seine Version der ästhetischen Zukunft, die er mittels Krieg herbeiführen will. Huelsenbeck dagegen beginnt bereits 1920 damit, als Chronist der dadaistischen Bewegung tätig zu werden – die Bibliotheken, die Marinetti zum Abriss freigibt, will Huelsenbeck mit Dada auffüllen. Dem Futurismus konnte es gar nicht schnell genug gehen. Es musste mindestens mit der Geschwindigkeit eines Rennwagens in Richtung Krieg voran schreiten, damit dieser alles Vergangene auslöscht und von sich wirft. Dada negierte solche festgesetzten Richtungsbestimmungen, indem es das Spielzeug Steckenpferd zu einem seiner Symbole ausruft und damit das radikale Spiel zu seinem Programm erhebt. Die Infantilität dieses Symbols ist bezeichnend und zeigt hervorragend die dadaistische Strategie: Das Dada des Krieges wird mit Dada des Nonsens konterkariert. Der Krieg im Zeichen der Nation ist Dada, also ist Dada das, was ihm entgegenzusetzen ist, um genau darauf hinzuweisen.
Heute wird der Begriff »avantgardistisch« einigermaßen inflationär eingesetzt, gerade auch im künstlerischen Kontext. Der Bezug zur Historischen Avantgarde wird dabei meistens nicht ersichtlich. Doch waren es diese Bewegungen, die den Begriff erst im Kunstkontext etablierten und versuchten, Kunst als Angriffswerkzeug gegen die bürgerliche Gesellschaft zu denken. Davon zeugen die auch heute noch verwendeten Begriffe Intervention oder auch Kommunikationguerilla, die genau wie der Begriff Avantgarde einen militärischen Ursprung haben. Avantgarde hieß Angriff, in erster Linie Angriff auf die Trennung von Kunst und Lebenspraxis. Der Futurismus begann diesen Kampf, Dada setzte ihn unter einer anderen inhaltlichen Ausrichtung fort. Dabei setzten beide auf die Schockwirkung. Der Futurismus wollte damit Menschen für die selbstgesetzten politischen Ziele motivieren. Dada verneinte solche Absichten offensiv, setzte zwar auf ähnliche künstlerische Mittel, allerdings um gegen das Gegebene zu protestieren. Das Konzept von Dada ging sogar so weit, dass seine Bewegung konsequenterweise behaupten kann, sie könne selbst gar keinen Dadaismus verkörpern, da sich Dada jeder Sinngebung entzieht. Nicht zuletzt deshalb löst sich der Dadaismus nach wenigen Jahren von selbst wieder auf, das Projekt wird von seinen Initiator_innen für beendet erklärt. Der Futurismus hingegen bleibt bis zum Tod seines Erschaffers im Jahre 1944 bestehen. Marinetti blieb seinem Projekt treu und verdankte ihm seine spätere Karriere in der Kulturpolitik des faschistischen Regimes unter Mussolini. Beim Dadaismus sah es anders aus: Das Publikum hatte sich Anfang der zwanziger Jahre an die dadaistischen Provokationen gewöhnt, sie verloren ihre schockierende Wirkung und wurden erwartungsvoll vom Bürgertum gefeiert. Damit fand der Dadaismus sein Ende.
Max Upravitelev
Der Autor forscht zum Verhältnis von Satire und subversiver Kunst. Dieses Jahr gibt er ein Buch über das Post-Dada Format »Front Deutscher Äpfel« im Fruehwerk Verlag heraus