Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme hat man sich daran gewöhnt, dass überall in Europa neue Staaten (wieder-)entstanden sind: von Estland, Lettland bis Georgien, Armenien, Moldawien, dann Slowenien, Kroatien, zuletzt Mazedonien und Kosovo. Nur das alte Europa schien davon unberührt. Europas frühere Nationalstaaten rühmen sich nun, ihre Minderheiten zu schützen und deren Traditionen zu achten. Dabei hat der europäische Integrationsprozess die Bedeutung der Nationalstaaten zwar reduziert, aber nicht aufgelöst. Als die europäische Einigung vor Jahrzehnten immer mehr Gestalt annahm, träumten einige von einem Europa der Regionen, von einem Europa, in dem die Nationalstaaten schrittweise ihre Bedeutung verlieren und sich vielleicht irgendwann auflösen würden - oben die Europäische Union, die sich um das große Ganze kümmert, um Außen- und Sicherheitspolitik, um die Währung, um Umweltschutz - und darunter die Regionen, die sich mit den Fragen des täglichen Zusammenlebens beschäftigen. Die Nationalstaaten, die in der Vergangenheit soviel Unheil angerichtet hatten, würden einfach austrocknen, so dachte man. Einerseits folgte die EU damit dem Weg der Moderne – ihrer Tendenz, historische Entwicklungen auf den Weg zu bringen, der das Subjekt aus dem Partikularen ins Universale, aus vor-modernen Gemeinschaften, Ordnungen, Hierarchien, Traditionen und kulturellen Identitäten in Universalität, freie Kommunikation und Staatsbürgerschaft befördert. Andererseits förderte sie eine Auslegung des Mitbestimmungsrechts der Völker, wie es heute als Recht auf die Verteidigung vor-moderner kultureller Identitäten in Kerneuropa und den osteuropäischen Ländern erkennbar ist.
Auf dem Weg zum eigenen Natiönchen
Mit dem Aufstieg der europäischen Regionen wie beispielsweise Bayerns, Schottlands, des Baskenlands oder Flanderns steigt auch der Einfluss einer ethnisch-nationalistisch orientierten Politik. Die SchottInnen sind frustriert darüber, von London repräsentiert zu werden, weil die Interessen des Königreichs einfach andere sind als die Interessen Schottlands, denn die SchottInnen hätten eine andere Landwirtschaft und eine andere Fischerei, heißt es. Schottland hat inzwischen sein eigenes Parlament und spätestens in zwei Jahren werden die SchottInnen per Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit entscheiden. Belgien wird schrittweise nach Sprachzugehörigkeit aufgeteilt, das betrifft die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Schulen und Universitäten. Flandern betreibt seine eigene Außenpolitik. Belgische Sportverbände gibt es so gut wie nicht mehr, nur noch flämische und frankophone. Derzeit wird die Spaltung des belgischen Fußballverbandes vorbereitet. Das Ergebnis ist, dass sich vor allem in Flandern gefragt wird, wofür Belgien noch gut sein soll. Belgien soll zerbrechen, brüllen hin und wieder flämische DemonstrantInnen vor dem Parlament in Brüssel. Im Baskenland wird ernsthaft darüber gestritten, ob ein in Bilbao geborener dunkelhäutiger Fußballer genügend baskisches Blut haben könne, um bei Atletico spielen zu dürfen. Denn bei Atletico dürfen nur baskische Fußballer antreten.
Ähnlich wie andere separatistische Strömungen in Korsika, Katalonien oder Norditalien wollen Flamen, Basken und SchottInnen alles andere als eine Schwächung der europäischen Nationalstaaten. Im Gegenteil, sie wollen selbst Nationalstaaten werden. Wahlweise wird davon ausgegangen, dass nur eine ethnische, religiöse oder sprachliche Gleichheit die Menschen zusammenhalten könne. Der lokale Nationalismus, wie er von den Regionen ausgeht, unterscheidet sich vom Nationalismus und den Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts in seiner gegenwärtigen ethnisch-sprachlichen Version erheblich. In der »entwickelten« Welt des 19. Jahrhunderts war der Aufbau einer Reihe von Nationen, in denen sich ein Nationalstaat und eine nationale Wirtschaft miteinander verbanden, »schlicht eine zentrale Tatsache des historischen Wandels« im Zusammenhang mit einer Revolution. Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M. 1991. 194. Selbst Marx und Engels waren angesichts der Einigung Deutschlands von 1871 der Meinung, dass Bismarck »jetzt wie 1866, ein Stück von unserer Arbeit in seiner Weise« Zitiert nach Hobsbawm, 202. erledigt habe. In den kolonialisierten Regionen waren die Bewegungen für eine nationale Befreiung und Unabhängigkeit hauptsächlich Instrument politischer Emanzipation von der Militärherrschaft der imperialen Mächte. Und selbst kleinstaatliche Bewegungen, die sich gegen das Habsburger, das Osmanische und das Zarenreich wandten, richteten sich gegen Formen der politischen Organisation, die in Anbetracht eines Modells der politischen Moderne – des Nationalstaates – als überholt angesehen wurden. Der lokale oder regionale Nationalismus hingegen konstituiert sich vor dem Hintergrund der steigenden Mobilität der Bevölkerung und tiefgreifender sozio-ökonomischer Veränderungen aus der Ablehnung moderner Formen der politischen Organisation heraus und ist daher mit dem Ressentiment verwandt. Die sprachliche oder völkische Verbundenheit wird zum Ersatz der Idee klassischer nationaler Emanzipation. Diese nationalistischen Bewegungen sind insofern negativ, als dass sie auf ethnische Zugehörigkeit, sprachliche Unterschiede und spirituell-religiöse Exklusivität setzen und somit einen ausdrücklich anti-pluralistischen Protest gegen die »Anderen« und die Bürokratie der Zentralregierungen darstellen, die die ethnisch definierte Gruppe bedrohen. Als Resultat haben sich die Konflikte zwischen diesen Gruppen verschärft. Kulturelle Freiheit und Pluralismus sind gegenwärtig nach wie vor am ehesten in größeren Staaten gewährleistet, die bewusst Vielvölkerstaaten sind und in denen viele Kulturen nebeneinander bestehen.
Die Europäische Union scheint beim Unabhängigkeitsstreben von Regionen eine zwiespältige Rolle zu spielen. Zum einen bedeutet die europäische Integration: Es ist nicht mehr so wichtig, in welchem Land man ist und lebt, denn man kann überall hinreisen, hat die gleiche Währung, eine ähnliche wirtschaftliche Situation. Insofern könnte man sagen, dass es weniger Grund für einzelne Regionen gibt, sich loslösen zu wollen. Andererseits scheint die EU separatistische Strömungen geradezu zu ermutigen, da die postnationale Kleinstaatenbewegung die supra-nationalistische Apparatur der EU stützt, indem sie die wirtschaftliche, politische und militärische Abhängigkeit der Kleinstaaten fördert. Dieses politische Kalkül lag im Zusammenhang mit der jüngsten Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovos auf der Hand, offensichtlich sollte der Einfluss des potenziell EU-feindlichen Serbiens weiter geschwächt werden. Die Konsequenzen dessen, was man heute als universelle »Balkanisierung« bezeichnen könnte, sind jedoch schon seit der Trennung der Slowakei von Tschechien vor 15 Jahren bekannt. Zwar forderten die slowakischen NationalistInnen als allererstes, Slowakisch zur einzigen offiziellen Sprache zu machen, um rund eine halbe Million aus Ungarn stammende Menschen zu zwingen, im Umgang mit Behörden ausschließlich Slowakisch zu sprechen. Dennoch gilt der Fall Slowakei bis heute als Paradebeispiel, wie eine solche Trennung in Europa idealerweise ablaufen kann. Die Verwaltungslasten sind zwar gestiegen, denn zwei Regierungen kosten mehr als eine, aber sonst macht die Trennung kaum noch Probleme. Dabei bleibt festzuhalten, dass die brisanten nationalen Fragen Europas nach 1989 exakt dieselben waren, die man 1918 bis 1921 geschaffen hatte und die vor 1914 entweder nicht existierten oder die kaum politische Probleme bereiteten. SlowakInnen gegen TschechInnen, die Spannung zwischen den nationalen Bevölkerungen Ex-Jugoslawiens, Rumäniens und den baltischen Staaten sind nur einige Beispiele. ~Die Neufassung des Begriffs der Nation in Osteuropa ~Der Versuch einer Neufassung des politischen Begriffs der Nation nach dem Zerfall der Sowjetunion ist mit Blick auf Europa mehrfach schwierig. Wie bereits oben gezeigt wurde, ist in der europäischen Union nicht nur die gerade wieder gewonnene Souveränität der neuen osteuropäischen Staaten potenziell geschwächt, indem einzelne Regionen ihre Eigenheiten betonen. Zudem hat die Öffnung der Märkte gravierende Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und das Konzept der Nation. Die politisch-ökonomischen Gebilde, die während der Zeit des realexistierenden Sozialismus entstanden, können heute weder in einem internationalen noch in einem postnationalen Rahmen interpretiert werden. Veränderungsbestrebungen, die beispielsweise bereits bei Unruhen und Aufständen ab den fünfziger Jahren in Polen und Ungarn laut wurden, bedienten sich der ideologischen Grundlagen des Nationalismus und Antikommunismus und sind als solche nicht – wie heute gerne behauptet wird – als Konfrontation zwischen Demokratie und Totalitarismus zu lesen, zumal in der direkten Nachkriegsphase wenig demokratisches Engagement vorhanden war. Obwohl die Kräfte des Widerstands gegen die deutsche Besatzung und die übrigen Achsenmächte in allen betroffenen osteuropäischen Ländern überwiegend prosowjetisch waren, wurde der Bolschewismus vor allem in Ungarn, Polen und Rumänien als jüdische Bedrohung nationaler Interessen aufgefasst. Die Linke war nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend aufgerieben und hatte in der Zwischenkriegsphase im Gegensatz zur Rechten, deren Einfluss sich auch auf eine solide Basis in der Arbeiterschaft und der Bauernklasse stützen konnte, kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Für die paternalistischen, autoritären und konservativen Kräfte war der Antikommunismus nicht gleichbedeutend mit demokratischen Ansichten, sondern meinte in erster Linie die Ablösung einer ungläubigen, jüdisch-kommunistischen Diktatur. Selbst die sowjetischen Machthaber wussten, dass sie als Wahrer nationaler Interessen auftreten mussten und dass der »sozialistische Patriotismus« den verbreiteten Antikommunismus der Bevölkerung teilweise kompensieren würde. Stephan Fischer-Gelati, Mensch, Staat und Gesellschaft in Osteuropa. Die kommunistische »Machtübernahme« im historischen Kontext, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hrsg.), Kommunismus und Osteuropa. Konzepte, Perspektiven und Interpretationen im Wandel, München 1994. Vor diesem Hintergrund gilt es jene Aspekte der Unterdrückung und Vernichtung demokratischer Werte in Osteuropa durch den Sozialismus zu überdenken, die gegenwärtig einen erheblichen Anteil an gemeinschaftsstiftenden Vorgängen der Selbstviktimisierung und Vorstellungen der Wiedergeburt nationaler Kulturen in diesen Ländern haben. Ulrike von Hirschhausen/ Jörg Leonard, Europäische Nationalismen im West-Ost-Vergleich: Von der Typologie zur Differenzbestimmung, in: dies. (Hrsg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001. Als Opfer der »kolonialistischen«, »imperialistischen« und »totalitären« Sowjetmacht intensivieren sich seit Beginn der Neunziger die Bemühungen, im Rückgriff auf Folklore und Mythen neue Nationalmythen zu schaffen, wobei Darstellungsformen aus autoritären Traditionen Europas und Klischees von Führergestalten bemüht werden. Neu errichtete nationale Denkmäler orientieren sich an der Formensprache des 16. und 17. Jahrhunderts, orthodoxe Kirchen oder die Teile der osteuropäischen Städte, die wie Abbildungen aus dem 19. Jahrhundert aussehen, werden im Gegensatz zum reichlichen grauen, minimalistischen, funktionalistischen Erbe der modernen Avantgarde als Bezugspunkte nationaler Identität aufgewertet. Anne von der Heiden, Postcommunist ergo sum, in: Boris Groys u.a. (Hrsg.), Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a.M. 2005, 13. Parallel zu den regionalen und lokalen Nationalismen kehrt die neue Geschichtsschreibung der osteuropäischen Staaten zurück in vorkommunistische Zeiten, in denen Bestrebungen nationaler und ethnischer Segregation kaum unterscheidbar waren. Demgegenüber ist zu betonen, dass es zu einer der wenigen Leistungen der sozialistischen Regime gehörte, die verheerenden Auswirkungen des Nationalismus in deren Inneren zu begrenzen. Die Rumänisierung unter Ceau?escu gehörte zu den wenigen Ausnahmen. Bekanntermaßen konnte die jugoslawische Revolution die Nationalitäten innerhalb ihres Staates für einen längeren Zeitraum erfolgreich daran hindern, sich gegenseitig umzubringen. ~Das Wiederempfinden der Wurzeln ~Es bleibt eine Frage der Zeit, wann in Westeuropa der ethnisch-sprachliche Separatismus zur Spaltung von Staaten führt. In Flandern, Katalonien oder Schottland hat jeder Zuwachs an Autonomie den bornierten Kampf um Unabhängigkeit weiter verstärkt. Die separatistisch-nationalistischen Regionen in Europa ziehen es mittlerweile vor, sich an ihren nationalen Regierungen vorbei unmittelbar an Brüssel zu wenden. Seit 1992 im Vertrag von Maastricht der europäische Ausschuss der Regionen eingesetzt wurde, kämpfen unter anderem auch Bayern und Nordrhein-Westfalen für mehr Einfluss auf die europäische Politik. Allein die französischen Regionen zeigen weniger Interesse daran, der Zentralregierung immer mehr Kompetenzen abzuringen, und wehren sich gegen die Aushöhlung des Nationalstaats. Selbst wenn man behauptet, dass Regionen sinnvolle wirtschaftliche Untereinheiten einer größeren wirtschaftlichen Gesamtheit wie der EU darstellen, zeigt das französische Beispiel jedoch, dass eine Wirtschaftsregion nicht notwendigerweise mit einer politischen Einheit zusammenfallen muss, deren Grenzen aufgrund ethnisch-sprachlicher oder historischer Kriterien gezogen werden. Ohnehin sind die nationalen Ökonomien von transnationalen Wirtschaftsmechanismen überformt, und deshalb ist beispielsweise eine baskische »Volkswirtschaft« ohne Teilhabe an einer globalen Gesamtwirtschaft ein sinnloses Konzept und die Ideologie des Nationalismus für die wirtschaftliche Entwicklung im 21. Jahrhundert ohne Relevanz. Die wirtschaftliche Zwecklosigkeit erklärt aber scheinbar nicht die angebliche Unwiderstehlichkeit des Wunsches nach der Bildung homogener Nationalstaaten.
Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber glaubt trotzdem, dass das Konzept des Europa der Regionen nach wie vor eine Zukunft hat: »Die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts sind in der Empfindung der Menschen nicht mehr sinnstiftend, alle Probleme auch lösen zu können. Für die großen gibt es Institutionen wie die Europäische Union, die die Globalisierung bearbeiten und gestalten kann. Das kann der Nationalstaat schon nicht mehr, aber die Identifikation mit einem Gemeinwesen, das kann der Nationalstaat auch schon nicht mehr, das ist die Region eher. Die Europäisierung vieler Politikbereiche braucht die Regionalisierung der Identitätsstiftung für die einzelnen Menschen.« Zitiert nach: Alois Berger, Auf dem Weg zur eigenen Nation http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/825497/ 5. Februar 2009. Globalisierung und wachsende Unübersichtlichkeit der Politik werden für die neuerliche Sehnsucht nach Heimat und Nähe oder den Wunsch nach Repräsentation – wie es im Jargon der Demokratie heißt – verantwortlich gemacht. Offenbar setzt sich also auch innerhalb der europäischen, politischen Elite eine kulturalistisch verkürzte Betrachtung des Nationalismus und der Nation immer mehr durch. Im Rahmen dieser Perspektive gilt die Nation allgemein als eine gesellschaftliche Konstruktion, als Imagination und Erfindung, die nur so lange ihre politische Wirkung behält wie sie im kulturellen Gedächtnis und vor allem in der gesellschaftlichen Werteordnung lebendig bleibt. An dieser Deutung haben Eric J. Hobsbawn und Benedict Anderson wesentlichen Anteil. Hobsbawm, siehe auch Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreiches Konzepts, Frankfurt a.M./New York 1988. Gegenüber postmodernistischen Ansätzen ist jedoch hervorzuheben, dass Hobsbawn und Anderson der Symbolkonstruktion des Nationalismus gegenüber den ökonomischen und politischen Ebenen im historischen Nationsbildungsprozess keine privilegierte Stellung einräumen. Ebd. Die Nation ist zwar eine imaginierte Gemeinschaft, sie ist deshalb jedoch nicht bloß imaginär. In Teilen der sich postmodern gerierenden Wissenschaft hingegen reduziert sich der Versuch, das Gesamtphänomen Nationsbildung zu erfassen, programmatisch auf eine virtuelle Bezugnahme. Geschichte gilt als ein Prozess unzusammenhängender Teile, der sich nur noch in Form von Geschichten von Geschichte und demnach nicht mehr als Einheit, sondern nur als eine »Vielzahl alternativer Selbstbeschreibungen« mitteilen lässt. Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius, Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, in:Elisabeth Bronfen u.a. (Hrsg.), Hybride Kulturen, Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen, 1997, 22. Homi K. Bhabha versteht Nation aus einer dekonstruktivistisch literaturtheoretischen Perspektive als narrative Strategie, durch die jene Gruppen aus dem Selbstbild ausgegrenzt werden, die sich dem nationalen Homogenisierungsgebot entziehen. Dieser performative Akt kann angeblich nur von den Rändern und von Minderheiten, den Frauen und den Kolonialisierten erkannt werden. Homi K. Bhabha, DisssemiNation: Time, narrative and the margins of the modern nation, in: ders. (Hrsg.): The Location of Culture, London/New York, 1994, 139–70. Um die Rituale nationaler Vergemeinschaftung zu verfremden, setzt Bhabhas Dekonstruktionsarbeit darauf, die Nation vom Rand her zu lesen, im »strange cultural surivival of the people« an der »borderline of history and language, on the limit of race and gender« entsteht dann »a kind of solidarity«. Bhabha, 170. Was stets im Kern nationaler Selbstdeutung stand, nämlich die Nation als Solidargemeinschaft, kehrt hier als beschworene kulturelle Kraft der Peripherien zurück. Unterscheidet sich dieser Mythos vom Kitsch der Selbstbespiegelung und Eigenliebe der (separatistischen) Nationalismen des 21. Jahrhunderts? Sind die Helden nationaler oder folkloristischer Mythologien nicht schon immer dem Fundus einer Vielzahl, unter Umständen vorpolitischer, alternativer Selbstbeschreibungen der Unterdrückung und des Kampfes entsprungen? Das postkoloniale wie das postmoderne Subjekt erfahre sich als »Knotenpunkt einer Vielzahl von Diskursen in einer hybriden, polykontextualen Welt«, Bronfen/Benjamin, 22. scheinbar bleibt in dieser Krise der Selbstbestimmung nichts anderes, als aus der Vergangenheit übrig gebliebene facta durch ficta neu zu verbinden, wodurch sie gleichsam die Aura der Fakten annehmen. Dem Diskurs von Differenz und Heterogenität verpflichtet, argumentiert man auch seitens der Europäischen Union, die Regionen würden als Anker benötigt, um sich nicht in der globalisierten Welt zu verlieren. Das Recht, seine vor-moderne Gemeinschaft, Ordnung, Hierarchie und Tradition in die Zukunft mitzunehmen oder neu zu erfinden, leitet sich aus dem Primat des Schutzes der so genannten unterentwickelten Kulturen gegen ihre Marginalisierung und Unterdrückung durch die Erfordernisse der modernen uniformen demokratischen Ordnung ab. Der Anspruch, eine universale Demokratie über die Gesamtbevölkerung der Europäischen Union zu errichten, wird hierdurch nicht nur konterkariert, sondern wirkt zusehends unrealisierbar, sofern hiermit ein Eingriff in traditionelle und kulturelle Partikularinteressen verbunden ist.
Die zeitgemäße Pflicht, eine kollektive Identität zu haben
Hobsbawn konstatiert, dass sich seit 1989 die Konflikte zwischen ethnischen Gruppe verstärkt und separatistische Bewegungen an Einfluss gewonnen hätten, der politische Nationalismus in seiner ethnisch-sprachlichen Version jedoch schwächer geworden sei als es zunächst den Anschein gehabt hätte, weil er keine wirklichen Lösungen für gegenwärtige Probleme liefere, sondern diesbezüglich entweder belanglos sei oder die Dinge unnötig verkompliziere. Zudem sei der Nationalismus nur Nutznießer der Auflösung der bipolaren Welt 1989/90, aber in keiner Weise entscheidende Kraft gewesen. Hobsbawm, 201/2. Boris Groys ist hingegen davon überzeugt, »dass der Diskurs wie auch die Politik der kulturellen Heterogenität und Differenz nicht richtig gesehen und interpretiert werden können, ohne mit der marktgesteuerten Praxis kultureller Diversifizierung und Differenz […] in Beziehung gesetzt zu werden.« Groys, 46. Die Ausweitung des kulturellen Marktes mache es demnach möglich, die eigene kulturelle Identität auf den internationalen Medien- und Tourismusmärkten zu verkaufen. Der Diskurs der Heterogenität, der gegenüber dem homogenen Raum des modernen Staates eine extrem kritische Haltung einnimmt, tendiert hier dazu, gegenüber den heterogenen Marktpraktiken vollkommen unkritisch zu sein. Die Vorliebe für die postmoderne bunte Vielfalt entspringt also nicht nur moralischen und politischen Erwägungen, sondern ist gleichzeitig Marktgeschmack. Die Diversifizierung des Angebots kultureller Identitäten auf den heterogenen pluralistischen Märkten – auf den ersten Blick sehr inklusiv, tolerant und demokratisch – trägt in Verbindung mit der Wertsteigerung traditioneller, pathetischer Symboliken auch zur Schließung (utopischer) Gemeinschaften bei. Von dieser Entwicklung beeinflusste radikale Projekte, wie der Separatismus der Regionen, oder der ethnisch-sprachliche Nationalismus, tragen auch weiterhin dazu bei, dass das Konzept kollektiver Identität Indikator emphatischer Verbergung bleibt.
Wahrscheinlich ist es hoffnungslos zu fragen, wie nun die Solidarität mit einem lächerlichen, pathetischen, realitätsfremden, regionalen »Wir«, gegen ein symbolisches »Sie« letztendlich doch zustande kommt. Die einheimische Bevölkerung Cornwalls beispielsweise hat das Glück, ihre regionale Unzufriedenheit in den attraktiven Farben der keltischen Tradition darstellen und vermarkten zu können, wodurch sie besser sichtbar wird, auch wenn so einige verleitet werden, eine Sprache wiederzubeleben, die seit über 200 Jahren nicht mehr gesprochen wird. Auffallend ist, dass man nirgendwo in Europa so viele nationale und nationalistische Symbole findet wie in den Regionen, die Nationalstaaten werden wollen. Bei diesen monströsen Inszenierungen stellt man sich unweigerlich Frage, ob auch nur irgendjemand die Symbolik ernst nehmen kann? Wird wirklich die symbolische Bedeutung mit ihrem materiellen Träger verwechselt? Könnte man eine Reihe regionen-spezifischer fetischistischer Illusionen diagnostizieren? Slavoi Žižek würde unter Umständen einlenken, diese Frage gehe von falschen Annahmen aus. Menschen wüssten sehr wohl, dass Gegenstände nicht mit »bestimmten Eigenschaften und theologischen Mucken« begabt sind. »Das Paradoxe ist, dass die Menschen so tun, als wüßten sie dies nicht und an der fetischistischen Illusion festhalten. Dieser fetischistische Glaube – die fetischistische Inversion – wird auf die Dinge verschoben, verkörpert sich in dem, was Marx »soziale Beziehung zwischen Dingen« nennt, und der Fehler, den man dabei vermeiden muss, ist die im eigentlichen Sinne »humanistische« Vorstellung, dass dieser Glaube, der Dinge verkörpert, auf Dinge verschoben wird, nichts als eine verdinglichte Form des menschlichen Glaubens sei.« Slavoj Žižek, Liebe deinen Nächsten? Nein Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, 22. Das Phänomen des Subjekts, dem unterstellt wird zu glauben, ist universell, dabei verschiebt das sprechende Subjekt seine Glaubensüberzeugung von Anfang an auf den (dezentrierten) Anderen, dem er/sie diesen Glauben zuschreibt. Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a. M. 2001, 9. »Alle konkreten Versionen dieses Subjekts, dem unterstellt wird, dass es glaubt, sind Platzhalter für den großen Anderen« Dies erklärt sich bei Žižek durch die inhärente Reflexivität des Glaubens, das heißt, er ist immer der Glaube an den Glauben des Anderen: Ich glaube, wenn jemand an meiner Stelle glaubt. Dies gilt auch für pathetische Symbolik. Diejenigen, die sich die schottische Fahne auf die Heckscheibe kleben, vollziehen einen performativen Akt für den Anderen, der als Garant für die Wahrheit des Glaubens erscheint. Die Verwechslung von ideeller mit realer Beziehung muss also nicht wirklich Glaube daran sein, dass die ideelle gegen die reale Beziehung austauschbar ist, jemand kann aber die Täuschung, es werde eine Verwechslung geben, als durchaus angenehm empfinden. Dank Žižek würde man also auf die nicht ganz neue These kommen, dass Volkstum kein Soloakt ist. Warum dies aber im Gegensatz zu der Fähigkeit, sich unabhängig von den eigenen Wurzeln bewegen zu können, angenehmer sein soll, bleibt weiterhin unklar.
~ Von Jennifer Stange.