Ein Schlagwort, das aus der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur nicht mehr wegzudenken ist, ist das der Authentizität. Zwei Dinge sind dabei bemerkenswert. Erstens, dass einige der wichtigsten (Erinnerungs-)Debatten über die deutsche Geschichte in den vergangenen Jahren durch Blockbuster angestoßen wurden, die den Anspruch erhoben, Geschichte authentisch und wahr darzustellen. Dieses Phänomen bietet bereits genug Stoff für eine Auseinandersetzung: Wie kann man auf die Idee kommen, dass in einem Kinofilm Geschichte so dargestellt wird, wie sie gewesen ist? Ein zweiter Aspekt verkompliziert die Angelegenheit noch weiter: Zielsicher widmen sich die Blockbuster historischen Daten und Themen, die durchaus konfliktträchtig sind und bei denen der Vorwurf der Verfälschung der Geschichte bzw. der Einseitigkeit des Blickes sehr schnell bei der Hand ist. Zugleich sind dies die Themen, deren Virulenz zentral für die deutsche Nachkriegsidentität ist: Das gescheiterte Attentat auf Hitler (Operation Walküre), Hitlers letzte Tage im Führerbunker (Der Untergang), die Fußballweltmeisterschaft 1954 (Das Wunder von Bern) und der Baader-Meinhof-Komplex. Die Filmstarts hatten den Status eines nationalen Ereignisses, das von PolitikerInnenstatements, Sondersendungen und Schulklassenbesuchen gerahmt wurde.
Es gibt offensichtlich einen Zusammenhang zwischen dem Anspruch der Authentizität, der an die Filme angelegt (und in ihnen vermeintlich umgesetzt) wird und ihrem nationale Identität stiftenden Effekt. Die Energie, mit der Fragen der Authentizität diskutiert werden – hat Hitlers Hand tatsächlich so gezittert? Wo genau fuhr Stauffenbergs Auto entlang? Hat Andreas Baader gelispelt? –, lässt sich als eine fast manische Abwehr der banalsten Erkenntnis begreifen: Filme sind Zeichensysteme, die keine Referenz in der Realität haben. Ein Spielfilm kann Geschichte nicht darstellen, wie sie tatsächlich gewesen ist. Auch ein Dokumentarfilm kann dies übrigens nicht; er erzeugt durch verschiedene Darstellungstechniken lediglich einen dokumentarischen Effekt, wie sich am Histotainment von Guido Knopp bestens beobachten lässt. Das Gleiche gilt auch für literarische Auseinandersetzungen, wie Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 eindringlich gezeigt hat: Dabei handelt es sich um ein vermeintlich autobiographisches Buch eines der jüngsten Überlebenden der Shoah, dessen Authentizität in der öffentlichen Rezeption als besonders beeindruckend wahrgenommen wurde, bevor sich herausstellte, dass der Autor die Geschichte erfunden hatte. Gerade der Fall Wilkomirski macht ein grundlegendes Problem sichtbar: Es ist offenbar möglich, ein glaubwürdiges Fake zu verfassen, ohne Zeuge zu sein.
Neben der völlig angebrachten moralischen Empörung über eine solche, wie es Ruth Klüger nennt, Enteignung von Geschichtserfahrung, gilt es, ein solches Phänomen analytisch zu begreifen. Die Möglichkeit zu einem solchen Fake ist in der Zeichenhaftigkeit aller Geschichtsdarstellung angelegt: Von den schriftlichen Zeichen kann man keineswegs auf die »Echtheit« dessen, was sie erzählen, schließen. Die Zeichen tragen die Bedeutung, die man in ihnen lesen kann, nicht in sich, als wären sie eine Materialisierung des Geschehenen; die Bedeutung entsteht erst im Zusammenspiel mit den anderen Zeichen (in diesem Fall) innerhalb eines Textes. Dies ist eine der Grunderkenntnisse des linguistic turn. Damit wird die Faktizität geschichtlicher Erfahrungen nicht in Frage gestellt, wie es postmodernen Geschichtstheorien auch von Linken häufig unterstellt wird. Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang die Debatte, die sich im Anschluss an Goldhagens Thesen in der Jungle World durch das ganze Jahr 1998 zog, und an der sich von Traditionslinken über Antideutsche bis zu Postmodernen sämtliche Fraktionen der damaligen Linken beteiligten. Man kommt aber nicht umhin, sich mit der Einsicht zu konfrontieren, dass es eine uneinholbare Differenz zwischen der Geschichtserfahrung und der Möglichkeit gibt, sie (in welcher Form auch immer) darzustellen und somit zu verstehen.
Authentizität und Identität
Dass die Erkenntnis von der Differenzialität sprachlicher Zeichen im öffentlichen Diskurs so offensiv ignoriert wird, ist gerade die Bedingung für die Identität stiftende Funktion der genannten Filme: Sie bieten vermeintlich neutrale Lesarten zu extrem aufgeladenen historischen Ereignissen an. Indem sie durch filmische Darstellungsstrategien, aber auch durch die sie rahmenden Stellungnahmen von DrehbuchautorInnen, SchauspielerInnen, HistorikerInnen und ZeitzeugInnen einen Effekt des Authentischen erzeugen, stellen sie einen bequemen Fluchtpunkt ohne jeden Ideologieverdacht zur Verfügung. Hier sei noch auf Fernsehproduktionen wie Die Gustloff oder Die Flucht verwiesen, die inzwischen inflationär gesendet werden. Letztere Produktion macht anschaulich, in welchem Ausmaß der Authentizitätsanspruch (der immer mit Identifikationsfiguren für die ZuschauerInnen arbeitet) die Rollen von SchauspielerInnen und PolitikerInnen verwischt bzw. zu identifikatorischen/identitären Kurzschlüssen führt: Maria Furtwängler forderte nach den Dreharbeiten zu Die Flucht eine Entschuldigung von Putin für die Verbrechen russischer Soldaten.
Authentizität scheint Neutralität zu verbürgen, während Fiktionalisierungen stets der Verharmlosung, Trivialisierung und, aus einer linken Perspektive, der (kulturindustriellen) Verpoppung verdächtigt werden. Man sollte hier jedoch nicht ideologiekritisch im Sinne einer Kulturindustriekritik argumentieren: Die Filme sind keine geschickten Blendwerke. Die Sache verhält sich komplizierter: Zwar werden die Filme als »authentische« verhandelt und rezipiert, zugleich weiß aber jedeR, dass es sich um Kinofilme mit fiktionalem Charakter handelt, dass also nicht der echte Hitler, sondern Bruno Ganz in der Rolle des Hitler über die Leinwand zittert. Ebenso glaubt niemand ernsthaft, dass die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges nur zweieinhalb Stunden gedauert haben.
Das Spannungsfeld zwischen »Authentizität« und Fiktion liegt eigentlich offen zutage, es wird aber – zumindest im hegemonialen Diskurs – nicht ausgesprochen, um den Schein der Authentizität zu wahren. Dieser ist nämlich bedeutsamer, als man es zunächst glauben mag. Mit Slavoj Žižeks Ausführungen zu Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider lässt sich dies veranschaulichen: Der Clou des Märchens besteht ja darin, dass alle sehen, dass der Kaiser nackt ist, es aber niemand ausspricht. In dem Moment, in dem es dann ausgesprochen wird, sind alle peinlich berührt, weil es unmöglich wird, die Nacktheit zu leugnen. »Man sollte niemals die Macht des äußeren Scheins unterschätzen. Wenn wir manchmal versehentlich den äußeren Schein zerstören, dann fällt das Ding hinter der Erscheindung selbst ebenfalls auseinander.« Slavoj Žižek, Lacan. Eine Einführung, Frankfurt/Main 2008, 39. Wer das Offensichtliche benennt, stellt eine symbolische Ordnung in Frage, die von der Selbstpräsenz der Zeichen und damit auch der filmischen Darstellung ausgeht.
Die Idee der Selbstpräsenz ist die Voraussetzung für Historisierungsprozesse und damit schließlich auch dafür, die Wirkmächtigkeit der Vergangenheit zu bannen und so einen Schlussstrich zu ziehen.
Um eine Kritik daran zu systematisieren, lohnt ein Blick auf die Funktionsweisen menschlicher Kommunikation. Der Linguist Roman Jakobson hat in seiner Analyse von Kommunikationsakten auf die phatische Funktion der Sprache hingewiesen. Damit ist gemeint, dass es in der Kommunikation nicht nur um den bloßen Austausch von Informationen geht, sondern immer auch um die Vergewisserung, dass Kommunikation überhaupt möglich ist. Die phatische Funktion beschreibt er als eine »psychologische Verbindung zwischen Sender und Empfänger« Roman Jakobson, Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. v. Elmar Holensteinn/Tarcisius Schelbert, Frankfurt/Main 1979, 83/121, hier: 88. und macht damit deutlich, dass das Gelingen von Kommunikation davon abhängt, ob die Kommunizierenden innerhalb der gleichen symbolischen Ordnung kommunizieren. Im Zusammenhang mit geschichtlichen Ereignissen bedeutet das: Um über sie sprechen zu können, muss Einigkeit darin bestehen, wie über sie gesprochen werden kann. In der »authentischen« Darstellung wird, so kann man daraus folgern, nie nur eine Information über die Geschichte transportiert, sondern immer auch ausgehandelt bzw. festgelegt, wie man sich auf Geschichte bezieht. Objektivität ist der Kommunikation über Geschichte nicht vorgängig, sie ist ein Modus des Sprechens. Das bedeutet für eine Kritik an den gegenwärtigen Ausprägungen der Erinnerungskultur, Objektivität nicht außerhalb, sondern innerhalb der Ideologie zu verorten.
Die Konsequenz daraus ist, dass jeder Versuch der authentischen Darstellung von Geschichte zum Scheitern verurteilt ist. Insofern kann man sich im Hinblick auf die Filme in gewisser Weise entspannen: Sie tragen die Brüchigkeit ihrer Authentizitäts-Fiktion so offen vor sich her, dass es ein Leichtes ist, sie zu dekonstruieren und in ihnen das imaginäre Verhältnis zur eigenen Geschichte lesbar zu machen. Trotzdem müssen sie natürlich kritisiert werden: Sie sind ja inzwischen fester Bestandteil von Lehrplänen an Schulen und produzieren in diesem Rahmen die Masse von Menschen, die eben nicht ausspricht, dass der Kaiser nackt ist.
Eine linke Kritik an solchen Filmen sollte sich von der Vorstellung lösen, die Filme böten eine falsche Version der Geschichte an, der man die richtige Version, gleichsam die Wahrheit, entgegenstellen müsse. Das ist nicht möglich. Die Kritik an diesen Produktionen ist erst dann stichhaltig, wenn sie die Inszenierungen der Authentizität zu ihrem Gegenstand macht. Der an einer Kritik der Kulturindustrie orientierte Verdacht bleibt in der gleichen symbolischen Ordnung und ihrer Imagination von der selbstpräsenten Abbildbarkeit historischer Wahrheit verfangen, wie die ProduzentInnen der Filme.
Wahrheit als kommunikative Konstellation
Die hier formulierten grundlegenden Vorbehalte gegen authentische Darstellungen der Geschichte provozieren die Frage: Was bedeutet das für eine Auseinandersetzung mit der Shoah? Im Folgenden soll plausibilisiert werden, dass diese Vorbehalte auch hier angebracht sind. Und zwar aus zwei Perspektiven: einer historiographiekritischen und einer zeugenschaftstheoretischen.
Der Psychoanalytiker Dori Laub, der das Holocaust Trauma Project an der Yale-University leitet, zeigt an einem Beispiel aus seiner Praxis, welche verheerenden Auswirkungen ein faktenzentrierter Blick auf die Verbrechen der Shoah haben kann. Er führte ein Interview mit einer Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz. Als sie vom Aufstand in Auschwitz berichtete, wurden ihre ansonsten im Flüsterton gehaltenen Schilderungen lebhaft: »Plötzlich sahen wir vier Schornsteine explodieren und in Flammen aufgehen. Die Flammen schossen in den Himmel, Menschen rannten. Es war unglaublich.« Dori Laub, Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens. In: Ulrich Baer (Hrsg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt/Main 2000, 68/83, hier: 70. Laub berichtete auf einer Konferenz vor HistorikerInnen von dem Interview mit der Frau und löste damit eine heftige Debatte aus. Die HistorikerInnen stellten die Aussage der Frau in Frage, da bei dem Aufstand nur ein Schornstein gesprengt worden war, und zweifelten daher an der Glaubwürdigkeit des gesamten Berichts. Mit folgendem Argument: Gerade beim Thema Auschwitz sei Genauigkeit unerlässlich, um nicht Auschwitz-LeugnerInnen in die Hände zu spielen. Laub widerspricht mit allem Nachdruck dieser Position und entwickelt die grundsätzliche Differenz zwischen einem auf Objektivierbarkeit ausgerichteten historiographischen Diskurs, dem es in diesem Fall um die Anzahl der Schornsteine geht, und einem Verständnis von Zeugenschaft: »Die Frau legt Zeugnis davon ab, wie der alles bezwingende Rahmen von Auschwitz gesprengt wurde, der keine bewaffneten jüdischen Aufstände erlaubte. Sie bezeugt, wie die Grundlagen des Systems zerbrachen. Darin besteht die historische Wahrheit ihres Berichts.« Dori Laub, Zeugnis ablegen, 71.
Was Laub als die historische Wahrheit bezeichnet, ist der Bedeutungsüberschuss, den die Erzählung der Frau im Vergleich zu einem faktographischen Ansatz beinhaltet. Dieser Überschuss liegt jenseits des dokumentarischen Zugriffs. Die historische Wahrheit wird nur in der kommunikativen Konstellation zwischen ZeugIn und ZuhörerIn sichtbar – eine Konstellation, die in den neunziger Jahren von der US-amerikanischen Trauma- und Literaturtheorie als Szene der Zeugenschaft konzeptualisiert wurde. Es drängt sich hier die Frage auf, ob damit nicht auch die Erzählungen von z.B. DresdnerInnen über die angeblichen Tiefflieger über den Elbwiesen, die es nicht gegeben hat, Gültigkeit besitzen. In der Tat sollte man anerkennen. dass es natürlich auch bei denjenigen, die die Bombardierungen erlebten, zu Traumatisierungen gekommen ist. Das nicht anzuerkennen, wäre eine argumentative Sackgasse. Das bedeutet keineswegs, über die Kategorie »Trauma« unvergleichbare Ereignisse zu vergleichen (die Shoah und die Bombardierung Dresdens), sondern macht nur deutlich, wie wichtig eine politische Traumatheorie ist (wie sie bspw. von David Becker formuliert wird), die Traumata in ihren jeweiligen historischen Kontexten begreift und nicht in der Rede von der posttraumatischen Belastungsstörung auflöst. Dieser Begriff von Zeugenschaft ist unbedingt von dem juristischen Zeugen zu unterscheiden. Auf eine Vorstellung von faktischer, objektivierbarer Wahrheit zu bestehen, kann, wie Laubs Beispiel zeigt, den Effekt haben, die Geschichtserfahrung von Überlebenden der Shoah in Frage zu stellen. Die Zeugin wird einem Paradigma unterworfen, in dem sie die Wahrheit ihres Zeugnisses beweisen muss.
In diesem Zusammenhang ist Claude Lanzmanns drastische Aussage zu verstehen, dass er, hätte er während der Arbeit an Shoah einen Film gefunden, der die Ermordung von Juden in den Vernichtungslagern zeigt, diesen »nicht nur nicht gezeigt [hätte]. Ich hätte ihn zerstört.« Claude Lanzmanns Filmprojekt zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es keine einzige historische Film- oder Fotoaufnahme zeigt, die sich der Shoah aus einer Position der radikalen Gegenwärtigkeit zuwendet. Es vermeidet, die ZeugInnen lediglich zur Beglaubigung der in Dokumentarbildern festgehaltenen Wahrheit zu machen. Durch diese Verfahrensweise verschiebt Shoah den Begriff historischer Wahrheit aus dem Bereich der (faktographischen) Evidenz in den gegenwärtigen Sprechakt der ZeugInnen. Lanzmanns Projekt nähert sich über die szenische Erinnerung den Traumatisierungen und steht deutschen Produktionen wie etwa Guido Knopps Serie Holokaust diametral entgegen. Das ist insofern bedeutsam, als Knopps Produktionen zum Zweiten Weltkrieg und zur Shoah zu großen Teilen aus Interviews mit ZeitzeugInnen bestehen. Trotzdem sind seine Serien strukturell unfähig zur Zeugenschaft. Aus zwei Gründen: Die ZeitzeugInnen nehmen in den Sendungen, die ein stetes Wechselspiel von historischen Aufnahmen, einer erklärenden Stimme aus dem Off und Interviews sind, lediglich die Position der Beglaubigung des angebotenen Narrativs ein. Michael Elm, Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Berlin 2008. Zweitens und daraus resultierend, werden dabei TäterInnen, Opfer und ZuschauerInnen strukturell zu gleichberechtigten ZeitzeugInnen, die jeweils ihre Sicht der Dinge schildern. Dieser häufig subtile Prozess ist auch in Bernd Eichingers Produktion Der Untergang sichtbar, in dem Statements von Hitlers Sekretärin als »tragischer« Figur den Film rahmen und damit dessen authentischen Tragödien-Narrativ legitimieren. So wird der TäterInnenblick zum neutralen Blick der Zeitzeugin.
Entwürfe von Zeugenschaft sind mit dieser strukturellen Einebnung jedoch unvereinbar, wie die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman zeigt. Sie weist darauf hin, dass in der westlichen Kultur dem AugenzeugInnenbericht die höchste Beweiskraft beigemessen wird. Die Shoah habe durch die unvereinbaren Positionen des Sehens der Opfer, der TäterInnen und der ZuschauerInnen jedoch eine »Zersplitterung der Augenzeugenschaft« erzeugt, welche die Möglichkeit eines »Rückgriffs (den Anspruch) auf visuelle Bestätigung (auf die Deckungsgleichheit zweier verschiedener Sichtweisen) radikal auslöscht und so jede Möglichkeit einer Gemeinschaft des Bezeugens, einer Gemeinschaft der Zeugenschaft, auflöst.« Shoshana Felman, Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah. In: Ulrich Baer (Hrsg.): »Niemand zeugt für den Zeugen«, 173/193, hier: 181. Eben an dieser Gemeinschaft des Bezeugens halten Knopps Produktionen fest. Felman zieht aus ihrer Analyse die Konsequenz, dass die Shoah ein derart überwältigendes Ereignis ist, dass es die Beweiskraft des Sehens zerstört hat und damit paradoxerweise ein »Ereignis ohne jeglichen Beweis« ist.
Es war Primo Levi, der als einer der ersten Überlebenden auf diese Prekarität des Zeugnisses nachdrücklich hingewiesen hat. In seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten beschreibt Levi die Situation, in der sich die Überlebenden befinden, als Aporie. Die Überlebenden hätten im Lager »den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt«, schrieben aber mit ihren Zeugnissen maßgeblich die Geschichte der Konzentrationslager. Auch er hebt die Bedeutung des Sehens hervor: »Wir sind die, die […] den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer das Haupt der Medusa erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.« Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München, Wien 1990, 83. (Hervorhebung J.B.) Das bedeutet, dass jedes Zeugnis stets auf eine Abwesenheit verweist, auf das, was nicht bezeugt werden kann. Das Zeugnis kann nicht gelesen werden, als stünden die sprachlichen Zeichen und die traumatischen Ereignisse in einer direkten, unverbrüchlichen Beziehung zueinander. Vielmehr muss die Beziehung zwischen dem Ereignis und dem schriftlichen Zeugnis als eine paradoxe verstanden werden; sobald über die Ereignisse geschrieben wird, erhalten sie zwangsläufig eine Kohärenz und es erscheint, als sei das »Trauma ihrer Nichtassimilierbarkeit […] gelindert.« James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/Main 1997, 18. Darstellerische Verfahrensweisen, die auf Authentizität abzielen, missachten daher immer die Problematik des Blicks und die aporetische Position der ZeugInnen.
Nimmt man diese Positionen ernst, dann ist es zu wenig, nur den Inhalt der jeweiligen Filme oder Serien zu kritisieren (das ›Was‹ ihrer Erzählung). Das Problem liegt woanders: in den inszenatorischen Verfahrensweisen, mit denen ›Authentizität‹ erzeugt wird (das ›Wie‹ ihrer Erzählung). Diese Inszenierungen der Authentizität müssen auch aus einer zeichentheoretischen Perspektive kritisiert werden.
Zeugenschaft und die Wahrheit der Fiktion
Der Historiker Hayden White, der den linguistic turn für die Geschichtswissenschaft operationalisiert hat, formuliert dies deutlich: Jeder Repräsentation historischer Ereignisse wohnt eine unhintergehbare Differenz inne, die aus der sprachlichen Verfasstheit dieser Repräsentation resultiert. Man kann dem emplotment, also der Einbettung der Fakten in narrative Muster, nicht entkommen, weil narrative Zugriffe auf Geschichte – egal, ob in dokumentarischer oder fiktionalisierter Form – nicht die »wahre Natur« der Geschehnisse repräsentieren. Denn was historische Studien zu leisten beanspruchen, ist ja mehr als eine bloße Aufzählung von unverbundenen Ereignissen. Sie interessieren sich für Kausalitäten und, noch mehr, für einen bestimmten Sinn von Geschichte. Die bloßen Ereignisse tragen überhaupt keine Bedeutung in sich, weder im kausalen noch im teleologischen Sinne, weshalb jede Darstellung, die über eine bloße Chronik hinausgeht (und diese Chronik trifft schon Entscheidungen über die Form und die Auswahl der Auflistung) als ein narrativer Versuch zu betrachten ist, die Kontingenz der Ereignisse zu bannen. Hayden White, Historical Emplotment and the Problem of Truth. In: Saul Friedländer (Hrsg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the "Final Solution", Cambridge 1992, 37/53. Und allgemeiner: Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986.
Ausgehend von Whites Ansatz hat sich James E. Young mit den Darstellungen der Shoah in den Tagebüchern und anderen schriftlichen Zeugnissen von Ermordeten und von Überlebenden auseinander gesetzt. Er weitet Whites Überlegungen auf die Dimension der Geschichtserfahrung der ZeugInnen aus. Es müsse verstanden werden, »daß das Handeln der Holocaust-Opfer oder auch der Mörder selbst nicht durch ›die Fakten‹ an und für sich determiniert wurde, sondern daß es das strukturell mythologische und metaphorische Begreifen dieser Fakten war, das sie dazu gebracht hat, so oder so zu handeln.« James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/Main 1997, 18. Er arbeitet aus den Aufzeichnungen der ZeugInnen heraus, dass diejenigen, die von der antisemitischen Verfolgung betroffen waren, diese Verfolgung nicht in einem »objektiven« Sinne erfassten, sondern ihr aus unterschiedlichsten »Narrativen« heraus Bedeutung gaben und daraus Konsequenzen zogen. So entschieden sich ZionistInnen aufgrund ihrer Deutung des politischen Geschehens womöglich schon frühzeitig zum Weg ins Exil bzw. zur Ausreise, während es assimilierte JüdInnen gab, die diesen Weg nicht wählten.
Das alles bedeutet nun aber nicht, den Begriff der Authentizität vollends aufzugeben. Es bedeutet, Authentizität nicht als eine positivierbare, nachweisbare und evidente Größe zu begreifen. Der Literaturwissenschaftler Ulrich Baer schreibt, dass man Authentizität nicht mehr so verstehen kann, »als ›gehöre‹ sie den Augenzeugen oder kennzeichne diese wie das unsichtbare Wasserzeichen in einem von der Geschichte selbst abgestempelten imaginären Paß. Authentizität ereignet sich vielmehr erst durch die Mitteilung des Zeugnisses an andere.« Ulrich Baer, Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): »Niemand zeugt für den Zeugen«, 7/31, hier: 16.
Was mit einer Theorie der Zeugenschaft in den Mittelpunkt des Interesses rückt, sind die Bedingungen zur Möglichkeit, sowie die Grenzen historischen Wissens und Verstehens. Fiktionalisierte Darstellungen, die nicht den Anspruch erheben, objektive historische Wahrheit abzubilden, haben diesbezüglich einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem historiographischen Diskurs: sie können die Bedingungen historischen Wissens selbstreflexiv zum Gegenstand ihrer darstellerischen Verfahrensweisen machen. Dieses selbstreflexive Potential ist der Grund, warum etwa Art Spiegelmans Maus. A Survivor's Tale eine so herausragende Stellung in der Auseinandersetzung mit der Shoah zukommt. In Spiegelmans Comic könnte der dokumentarische Anspruch kaum ferner liegen: erzählt wird die Shoah in einer Allegorie eines Katz-und-Maus-Spiels, in dem die Juden/Jüdinnen als Mäuse, die Deutschen als Katzen und die PolInnen als Schweine gezeichnet sind. Zugleich rückt die Rahmenerzählung die Schwierigkeiten und Bemühungen des Ich-Erzählers in den Blick, von seinem Vater über dessen Verfolgungsgeschichte während der Shoah zu erfahren. Erst in der Binnenerzählung, der Erzählung in der Erzählung, werden die Verfolgungserfahrungen thematisiert. Was zur Sprache kommt, sind nicht die Fakten der Shoah, sondern Fragen der Erzählbarkeit und der Vermittelbarkeit einer traumatischen Geschichtserfahrung. Dabei wird durch die Rahmenerzählung deutlich aufgezeigt, dass die Dimension des Traumas die Möglichkeiten des Wissens derjenigen affizieren, die die Geschichte aufschreiben wollen, und durch die Familiengeschichte selber an sequentiellen Traumatisierungen leiden. Die Möglichkeit für historisches Wissen liegt demnach in der Konstellation zwischen dem Zeugen/der Zeugin und dem/der sekundären Zeugen/Zeugin.
Diese Konstellation steht auch im Zentrum von W.G. Sebalds Die Ausgewanderten und Austerlitz. W.G. Sebald, Austerlitz. Fischer, Frankfurt/Main 2003.; W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt/Main 2001. Beide Texte reflektieren das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und den Personen, deren traumatischen Lebensgeschichten er nachspürt bis in das Erzählverfahren hinein als eines der unmöglichen Identifikation und der Uneinholbarkeit der traumatischen Geschichtserfahrung. An Sebalds Texten lässt sich eine Poetik der Zeugenschaft ablesen, die sich der Unverfügbarkeit des historischen Geschehens bewusst ist, und die ihr Wissen über Geschichte und die Geschichtserfahrung der ProtagonistInnen immer nur aus dem gleichzeitigen Wissen um den Vermittlungscharakter des Erzählten beziehen kann. Das in den Texten Lesbare verweist somit immer auf einen Sprechort des Nicht-Wissen-Könnens und damit auf das traumatische Abwesende.
Die wohl expliziteste Auseinandersetzung mit dem Begriff des Dokumentarischen leistet Peter Weiss' Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen. Das sehr eng an den Protokollen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses orientierte Stück, das auch formal Anleihen am Verfahren der Gerichtsverhandlung nimmt (was ihm die Gattungszuschreibung »Dokumentarstück« einbrachte), sah sich über lange Zeit dem Vorwurf ausgesetzt, die Ermordeten der Shoah zu ignorieren bzw., noch schärfer, ein zweites Mal zu ermorden. James E. Young, Beschreiben des Holocaust, a.a.O., 123.; Elie Wiesel, Die Massenvernichtung als literarische Inspiration. In: Eugen Kogon/Ders. u.a. (Hrsg.), Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk. Freiburg i.Br. 1979, 48. Hintergrund des Vorwurfes ist die Verdichtung der Protokolle durch Weiss, wobei er konsequent das Wort »Jude« aus dem Text strich. Gerade mit dieser Bearbeitung leistet er jedoch eine dekonstruktive Arbeit an der Idee des Dokumentarischen. Weiss entwickelt durch die Einbettung des Textes in eine Gerichtsszene ein poetisches Verfahren, das diese Gerichtsszene gegen den Strich bürstet – es geht weder von der Möglichkeit des dokumentarischen Zugriffs auf die Geschichte, noch von ihrer vollkommenen Formulierbarkeit aus. Die Rede bzw. das Schweigen der überlebenden ZeugInnen der Shoah in der Ermittlung zeigt stets auf, dass ihre Geschichtserfahrung sich dem auf Objektivierung ausgerichteten juristischen Beweisverfahren entzieht. Dem Beweisverfahren bleibt die Krise der Zeugenschaft eingeschrieben.
Eine Kritik der deutschen Erinnerungskultur sollte sich daher nicht in einen aussichtslosen Kampf um die vermeintlich richtige und wahrheitsgetreue Darstellung der Fakten begeben. Vielmehr geht es darum, in der Fiktionalisierung die Möglichkeitsbedingung zu erkennen, jenseits vom Anspruch auf Authentizität die jeweiligen Bedingungen des Sprechens sowie die Uneinholbarkeit der Geschichte, für die es zu zeugen gilt, zu reflektieren. Nur so wird ein Konzept der Zeugenschaft denkbar, das jede ritualisierte Erinnerungskultur unterläuft, die von sich behauptet, »richtig« zu erinnern.
~Von Jesko Bender. Der Autor ist Germanist und arbeitet zurzeit an einer Dissertation über Terrorismus als Diskurs- und Textphänomen.