Hozan Ibrahim kam im Mai 2011 als politischer Flüchtling aus Syrien in die Bundesrepublik und lebt derzeit in Berlin. Als Oppositioneller wurde er in Syrien politisch verfolgt. Er ist Mitglied des Syrian National Council (SNC) und arbeitete im politischen Büro der Local Coordination Committees (LCC). Die Mitglieder des Council leben derzeit in verschiedenen Ländern im Exil; die Kommunikation findet über periodische Treffen, Konferenzen via Skype und Telefongespräche statt. Wir trafen Hozan am 22. Februar 2012 das Interview wurde in englischer Sprache geführt und von der Redaktion übersetzt.
Phase~2: Wenn wir von außen auf Syrien schauen, fällt uns zweierlei auf: Die Aufstände haben vergleichsweise spät begonnen, gleichzeitig ist die internationale Kritik am Regime – obwohl mindestens genauso brutal vorgegangen wird wie in Libyen – bisher eher zurückhaltend gewesen. Fangen wir vielleicht beim Kontext an – welche Bedeutung hat die Lage Syriens in der Region für die Aufstände?
Hozan Ibrahim: Für die Antwort werde ich zu der Zeit vor den Aufständen zurück gehen müssen: Womit wir in Syrien konfrontiert sind, ist die sogenannte »Kurden-Frage«, die immer der Schlüssel war für die Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei, dem Iran und dem Irak vor dem Regimewechsel. Alle diese Länder teilen sich geografisch die kurdische Region. Schon vor dem Beginn der Aufstände in Syrien war das Hauptthema zwischen Syrien und der Türkei die »Kurden-Frage«, gefolgt von Fragen des Zugangs zu den Wasserreserven der Region und letztlich vom israelisch-palästinensischen Konflikt. Hinzu kommt, dass es in den Kurdengebieten Ölvorkommen gibt.
Ferner ist Syrien ein Brennpunkt des selbsternannten Widerstands der Hisbollah, den wiederum der Iran finanziert. Das Land hat die Funktion einer Brücke für den Iran in Bezug auf die Finanzierung und Unterstützung der Hisbollah im Libanon und spielte auch die Rolle des sicheren Hafens, besonders nachdem Syrien offiziell aus dem Libanon abgezogen war. Trotz des Abzugs haben wir immer noch die Situation, dass Syrien den Libanon dominiert und wir haben immer noch den ungelösten Konflikt mit Israel. Der Friedensdialog mit Israel ist nie zu einem Ende gekommen, weil die syrische Seite diesen letztlich immer blockierte, um eine kriegsähnliche Situation aufrecht zu erhalten. Dass es keinen Friedensvertrag gibt, macht die Situation kompliziert. Hinzu kommt außerdem, dass Syrien im Irak die Jihadisten und Jihadistinnen unterstützte – um die Lage dort instabil zu halten und um die USA abzulenken, sie dort sozusagen beschäftigt zu halten. Wir wissen zum Beispiel, dass es Ausbildungslager für JihadistInnen in Syrien gibt. Ich persönlich kenne einen der Ausbilder. Das gilt auch für Hisbollah und Hamas: Ihre KämpferInnen wurden in Syrien ausgebildet, und die der Hamas beispielsweise nach Israel auf Selbstmordmission geschickt. Nach 2000 kamen die Trainingslager für Kämpferinnen und Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Syrien hinzu. Noch während der Zeit der syrischen Besatzung im Libanon wurden die Ausbildungslager der PKK mit denjenigen der PalästinenserInnen zusammengelegt. Nach dem Rückzug Syriens aus dem Libanon wurden einige Trainingslager in den Bergen bei Damaskus errichtet. Öcalan zum Beispiel war lange an einem sicheren Ort in Syrien und wurde erst verhaftet, nachdem es zu Spannungen zwischen Syrien und der Türkei gekommen war. Aber das ist eine lange Geschichte.
Was zählt, ist, dass Syrien immer schon großen Einfluss auf die Geschicke seiner benachbarten Länder gehabt hat. Die Stabilität dieser Länder war immer auch abhängig von der Politik Syriens. Dies sind Gründe, weshalb die geopolitische Situation äußerst kompliziert ist und das wirkt sich auch auf die Aufstände aus.
Phase~2: Wie schätzt Du die derzeitige Situation im Land ein? Wie sind die Machtverhältnisse und welche Gruppen verfolgen welche Ziele?
Hozan Ibrahim: Auch dazu ein kurzer Rückgriff auf die Geschichte: Syrien ist seit 1963 eine totalitäre Diktatur; wir sprechen somit von einer bereits 50 Jahre andauernden Repression durch die Baath-Partei. Es lassen sich innerhalb der Diktatur verschiedene Phasen erkennen, die ich kurz nennen möchte: Als die Baath-Partei auf der politischen Bildfläche erschien, hatte sie zunächst interne Probleme zu lösen. Es folgte eine Zeit der Sondierung der eigenen Schwächen und Konflikte. Diese Phase endete in den siebziger Jahren, als Hafiz al-Assad an die Macht kam und eine, sich zunächst langsam etablierende und dann härter werdende, zehnjährige Phase der Repression begann. Die achtziger Jahre waren dann die gewalttätigste Periode des Regimes, besonders gegenüber KommunistInnen und IslamistInnen: Während dieser Periode wurden mehrere zehntausend Menschen umgebracht – 1982 allein in der Stadt Hama bis zu 40.000. Mehr als 25.000 wurden dort verhaftet.
Danach folgte eine Periode relativer Ruhe. Bashar al-Assad kam an die Macht, versprach Reformen und öffnete somit wenigstens für kurze Zeit ein kleines Fenster der Freiheit und der politischen Auseinandersetzung. Dieses Fenster existierte etwa ein Jahr lang und dann begann die Repression erneut. Es gab zu jener Zeit Versuche, gegen das Regime aufzubegehren, allerdings nur innerhalb bestimmter ethnischer Gruppen. Dann kam der Arabische Frühling und brachte den Syrern und Syrerinnen von außen etwas Hoffnung auf Veränderung. Als die USA im Irak intervenierten, hat dies niemand befürwortet. Jetzt allerdings wird allen Menschen gezeigt, dass sie selbst an der Veränderung teilhaben können. Diejenigen, die fünfzig Jahre unter einem repressiven Regime gelitten haben, spüren einen Funken der Veränderung.
Die Aufstände stehen unter dem Motto: Freiheit, Würde und BürgerInnenrechte. Der erwartete Zusammenbruch des Regimes ließ die Menschen die Techniken und Mittel, die sie zur Verfügung haben, realistisch durchdenken. Von außerhalb ist erst einmal keine Unterstützung zu erwarten – nicht von den benachbarten Staaten, nicht einmal von der Türkei, die eigentlich den Anspruch formulierte, die syrische Bevölkerung zu unterstützen. Ein Grund für die zaghafte Unterstützung der syrischen Aufstände ist die bereits dargestellte schwierige geopolitische Lage Syriens, die dem Regime mehr Zeit einräumt, ihre GegnerInnen zu ermorden.
Was wir nun nichtsdestotrotz sehen können, ein Jahr nach dem Beginn der Aufstände, ist, dass die Mehrheit der Aufständischen ihren Wunsch nach Freiheit weiter verteidigt. Doch aufgrund der täglichen Repression, die diesen Wunsch permanent in Frage stellt, sehen sich die Demonstrierenden genötigt, ihre Freiheit notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Diese Verteidigung ist in ihrer Form neu für Syrien: Ziviler Widerstand wird durch bewaffneten Widerstand desertierter Soldaten unterstützt. Ein Problem besteht allerdings weiter: Die internationale Gemeinschaft lehnt es nach wie vor ab, die Aufstände zu unterstützen und wir müssen deshalb unsere Selbstverteidigung allein aufrechterhalten. Innerhalb dieses Prozesses gehen einige den radikaleren Weg, andere gehen denjenigen des stillen Protestes. Die Unterschiedlichkeit der syrischen Gesellschaft spiegelt sich in der aktuellen politischen Situation wider.
Phase~2: Kannst du diese Unterschiedlichkeit der syrischen Gesellschaft, von der du gerade gesprochen hast, etwas spezifizieren? Meinst du damit eine Unterschiedlichkeit in Bezug auf Ethnizität, politische Einstellungen oder Religion?
Hozan Ibrahim: Wir haben den Zahlen nach zwei dominierende ethnische Gruppen, wobei es darunter verschiedene kleine Untergruppen gibt: AraberInnen und Kurdinnen und Kurden. Wir sprechen von ungefähr 60-65 Prozent AraberInnen, die anderen Gruppen machen ungefähr 35-40 Prozent aus. Zudem gibt es verschiedene Religionen, die in Syrien vertreten sind: Muslime darunter SunnitInnen, AlewitInnen; ChristInnen und Drusinnen und Drusen. Schon immer haben alle zusammen gelebt, ohne dass eine ethnische oder religiöse Segregation gegeben hätte. Obwohl es teilweise eine ethnische Konzentration in bestimmten Regionen gibt, ist Koexistenz üblich in so einem relativ kleinen Land wie Syrien.
Diese Diversität, über die wir hier sprechen, wurde aber vom Regime instrumentalisiert. Es bevorzugte bestimmte Gruppen, um gleichzeitig andere zu unterdrücken. Das ist auch ein Grund, warum die Aufstände in den Regionen wesentlich stärker zum Ausdruck kamen, wo beispielsweise mehr AraberInnen leben, die von größerer Unterdrückung betroffen sind. Auf der anderen Seite sehen wir aber, dass auch Kurdinnen, Kurden, Alewitinnen und Alewiten und sogar die Drusinnen und Drusen aktiv an den Protesten teilnehmen. Und natürlich sind die Aufstände an den Universitäten, wo alle gemeinsam in den Vorlesungen sitzen, ein großes Thema. Hier findet diversity sozusagen auf der sozialen Ebene statt. Auf der politischen Ebene haben wir die IslamistInnen, die allerdings immer schon von außerhalb Syriens operierten und wir haben die Linken – die in Syrien traditionell eine große Rolle spielen. Das meine ich nicht nur formal, weil die Baath-Partei als eine linke Partei angesehen wird. Ich spreche über die unterschiedlichen linken Parteien, die immer schon innerhalb der Minderheitengruppen stark waren, besonders unter den KurdInnen. Dann haben wir die Neoliberalen, falls man das überhaupt so sagen kann, weil es diese politische Kultur in Syrien bisher so nicht gab. Die größte Mehrheit allerdings, die an den Protesten teilnimmt, ist ohne klare politische Richtung. Sie handeln nach dem genannten Motto: Freiheit, Würde und BürgerInnenrechte, indem sie auf der Straße protestieren, militärisch in der Freien Syrischen Armee (Free Syrian Army) oder vereinzelt als Rebellen kämpfen.
Phase~2: Kommen wir auf die ökonomische Situation und ihre Bedeutung für den Beginn der Aufstände zu sprechen: Würdest Du sagen ein Zusammenspiel aus ökonomischen und politischen Gründen ist für den Beginn der Aufstände verantwortlich gewesen? Und wie bedeutend ist der ökonomische Missstand gegenüber dem politischen?
Hozan Ibrahim: Die Repression, über die ich gesprochen habe, ist mit der Ökonomie verlinkt. Politische Bewegungen existieren in Syrien bereits seit langer Zeit und es war letztlich immer Gewalt, die diese Bewegungen unterdrückte und beendete. Dies ist einer der Gründe dafür, wie das Regime eine Lücke zwischen der politischen Entscheidungsebene und den Menschen, die sich politisch engagieren, schaffen konnte. Zusätzlich lebt der Großteil der syrischen Bevölkerung auf dem Land und ist nicht Teil der sozialen und politischen Öffentlichkeit in den urbanen Ballungsräumen. Es war somit nie möglich, die Sphären zu verbinden, auch weil die Leute in permanenter Angst vor dem Mukhabarat, dem Militärischen Nachrichtendienst Syriens, lebten. An dieser Stelle kommen wir zum zweiten und wichtigsten Aspekt der politischen Situation: Der syrische Staat ist kein regulärer Staat. Das politische System – die Ministerien, die unterschiedlichen politischen Abteilungen – funktioniert zwar, jedoch nur durch Bestechung. Die Institutionen erfüllen keine regulären unabhängigen Funktionen, haben keine klaren Aufgabenbereiche. Diese, sagen wir, »leere Struktur«, in der Minister bloße Angestellte für ihre jeweiligen Abteilungen waren, ist nie entscheidungsfähig gewesen. Die politischen Entscheidungen wurden innerhalb einer kleinen Gruppe gefällt: dem Assad-Clan und einigen seiner Geschäftspartner. Ihre Macht war allerdings nicht nur eine ökonomische. Sie umfasste alles, auch Teile der Sicherheitskräfte und wurde durch diese relativ kleine Gruppe kontrolliert. Die Sicherheitskräfte verfolgten die Strategie, jedeN zu verhaften, der oder die dieses korrupte System bedrohte. Andersherum konnte jeder Offizier – durch Vitamin B – eine Stelle in jeder entscheidenden Abteilung des Staatsapparates bekommen. So wurden zentrale Positionen im Staat besetzt, die in ihrer Machtfülle über die Verfassung und das Recht hinaus weisen. Eine kleine Gruppe ist in der Lage, alles nach ihren eigenen Gesetzen zu bestimmen. Dies ist die reale politische oder besser: repressive Situation des Landes. Diese korrupte Struktur hat natürlich Einfluss auf die wirtschaftliche Lage des Landes: 60 Prozent der syrischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und etwa 20 Prozent leben von weniger als einem Dollar am Tag. Das ist die sozio-ökonomische Situation des Landes. Angestellte können nur schwer von ihrem Lohn leben, weshalb sie entweder einen zusätzlichen Job oder Bestechungsgelder annehmen. Korruption war bisher aufgrund der großen wirtschaftlichen Not quasi offiziell geduldet. Dies hatte zur Folge, dass die Mittelklasse zu Gunsten einer mehr und mehr verarmenden Unterschicht schrumpfte. Die höheren Schichten beziehungsweise diejenigen, die vom Import und Export profitieren, und alle NutznießerInnen der Korruption, die hohen Offiziere und die einflussreichen Familien, all diese Leute leben in einem anderen Syrien.
Phase~2: Auf einen Punkt möchten wir genauer eingehen: Du sagst, die Mehrheit der Protestierenden sei nicht politisch. Aber es werden ja doch Ziele verfolgt und die Leute organisieren sich?
Hozan Ibrahim: Am Anfang ging es darum, die wirtschaftliche und die politische Situation zu verändern – genauso wie bei den Aufständen in Ägypten und in den anderen Ländern. Mit diesen Ländern stehen wir jetzt im Vergleich zu vorher in einem besseren Kontakt. Wir können die Situation also durchaus genau beurteilen. Man könnte sagen, es gab und es gibt ein menschliches Bedürfnis nach Freiheit und Würde. Die Sicherheitskräfte demütigen alle, die sich nicht regimekonform verhalten – egal, ob sie MinisterInnen irgendeiner Abteilung sind oder zum Klerus gehören. Was die Menschen also wollen, ist Freiheit und Würde. Alle, die Minderheiten in Syrien wie auch die Mehrheit, leiden unter der ungerechten Behandlung durch die Gesetze der Baath-Partei. Und alle wollen dasselbe: demokratische BürgerInnenrechte und Grundrechte, eine Gleichbehandlung als BürgerInnen. Die Mehrheit will aber auch einfach einen höheren Lebensstandard. Viele sind nicht im eigentlichen Sinne politisch motiviert, aber sie kennen ihre Menschenrechte. Es gibt in Syrien keine politischen Gruppen wie IslamistInnen auf der einen Seite, Liberale und Konservative auf der anderen. Die Organisation der Proteste ist einfach und funktional: Über die wichtigsten Ziele muss Einigkeit herrschen.
Phase~2: Wir würden gerne Deine Meinung hören zur Perspektive eines Teils der bundesdeutschen Linken auf die Konflikte in Syrien: In Zeitungen, namentlich in der Jungen Welt, wird argumentiert, ihr – die Aufständischen – wärt nicht repräsentativ. Die Mehrheit der syrischen Gesellschaft stehe nach wie vor hinter Bashar al-Assad. Bist Du hier mit solchen Urteilen konfrontiert worden und was hältst du davon?
Hozan Ibrahim: Die erste Frage kann ich leicht beantworten. Natürlich vertreten wir nicht jedeN einzelneN SyrerIn, aber wir wollen dieselben Rechte für alle. Wir wollen Rechte für diejenigen, die den Mut haben, auf die Straße zu gehen, damit wir an die Macht kommen, damit wir das Regime stürzen können, die sich für Freiheit, für freie Wahlen und Demokratie den Kugeln Bashar al-Assads entgegenstellen und der Unterdrückung und der Folter in den Gefängnissen aussetzen. In Ägypten haben zehn Prozent ausgereicht um das Regime zu stürzen. Natürlich beteiligen sich nicht alle an den Aufständen. Wir wissen, dass sich ein großer Teil ruhig verhält und abwartet. Die wollen dasselbe wie wir, aber sie sehen, wie das Regime auf unsere Forderungen reagiert. Der Grund, warum man sie bei den Demonstrationen nicht sieht, ist Angst. Man kann also nicht sagen: So und so viele Leute sind für Bashar al-Assad. Es gibt ja keine fairen Wahlen und keine Statistiken, anhand deren man erkennen könnte, wer für und wer gegen uns ist. Was man sagen kann, ist, dass hunderttausende Protestierende auf die Straße gehen, und dass ihnen tausende Soldaten entgegenstehen. Wir sehen aber keine Demonstrationen von UnterstützerInnen Assads. Es gibt Menschen, die riskieren erschossen zu werden, für ihre Freiheit. Aber mit welchem Grund Bashar al?Assad unterstützen? In den letzten Monaten gab es dreizehn oder vierzehn Pro-Assad-Demonstrationen. Die waren vom Regime geplant. Aber warum gibt es nicht an jedem Tag welche, wo doch jedeR die Freiheit dazu hätte?
Zur zweiten Frage: Ja, ich bin hier mit solchen Positionen konfrontiert worden. Wenn Bashar al?Assads AnhängerInnen wirklich so überzeugt sind, dann sollten sie alles dafür tun, dass die Gewalt gegen die Aufständischen beendet wird – vor allem die von der Armee in den Städten. Wir wollen Freiheit, wir sind gut organisiert. Wir haben keine Angst, verhaftet zu werden und wir werden bei den Wahlen antreten. Wir werden auch das Ergebnis akzeptieren, denn ein demokratisches Ergebnis ist, was wir wollen. Aber wir befinden uns nicht in einer Situation für einen Dialog. Man kann nicht sagen, wer Recht hat. Das einzige Vergleichsmaß sind momentan die Massen auf der Straße. Und wir können uns selbst mit den Massen vergleichen, die bereits in vier Ländern ihre Regierungen gestürzt haben.
Phase~2: Wir möchten noch einmal genauer auf ein Argument eingehen. Es gibt hier Linke, die meinen – das ist freilich keine Auffassung, die wir so vertreten – es sei falsch, die Aufständischen in Syrien zu unterstützen und eine politische Veränderung anzustreben. Assads Syrien sei, so die eine Begründung, eines der letzten existierenden sozialistischen Länder. Und das Ergebnis der Aufstände könne, so eine zweite Begründung, nur ein weiterer Bürgerkrieg sein, wie man jetzt bereits sehen könne. Was ihr macht, sei also falsch…
Hozan Ibrahim: Das sind in der Tat zwei Punkte, aber ich werde versuchen, sie zu verbinden. Zum Sozialismus: Sozialistisch zu sein, ist nichts Heiliges, wofür es gerechtfertigt wäre, Menschen zu unterdrücken. Wir haben seit fünfzig Jahren ein sozialistisches Regime, aber im Grunde war es nie wirklich sozialistisch. Denn die Anführer, die herrschenden Familien, die Offiziere sind alle korrupt. Eine kleine Gruppe profitiert und ist im Besitz des gesamten Kapitals – es geht um riesige Summen. Auf der anderen Seite gibt es viele arme Menschen: Bäuerinnen, Bauern und ArbeiterInnen haben nicht genug zum Leben. Man kann also kaum sagen, Syrien sei ein sozialistisches Land. Und falls Sozialismus doch die Lösung aller Probleme in Syrien sein sollte, sollen die Menschen das selbst entscheiden. In Syrien gibt es viele Expertinnen und Experten, die in den sozialistischen Ländern studiert haben, die die Idee einer sozialen Marktwirtschaft vertreten und auch die Ansicht, dass sie es wert sei, in Syrien eingeführt zu werden. Wenn das der richtige Weg für Syrien sein sollte, muss er aber ohne Gewalt gegangen werden. Menschen zu töten und zu unterdrücken, führt nur dazu, dass sie sich fürchten und sich zurückziehen und sich anderen Ideen als dem Sozialismus zuwenden. In unseren Köpfen haben wir eine Vorstellung vom Sozialismus, die durch Assads Herrschaft geprägt ist. Sie ist mit Unterdrückung verbunden und funktioniert nicht ohne sie. Das ist der Fehler, der hier seit fünfzig Jahren begangen wird. Wenn es eine starke Linke und einen sozialistischen Flügel gibt und falls sie die Wahlen gewinnen, werden sie sozialistische Ideen ohne Repression umsetzen.
Die andere Seite ist, dass das Regime seit Jahren den Mythos pflegt, ohne es gäbe es nur Chaos. Seit dem 11. September 2001 bis zum Beginn der Aufstände wurde behauptet, das Regime würde sich gegen den Terrorismus engagieren. Assad nannte sich selbst einen Kämpfer gegen den Terrorismus und etablierte so gute Kontakte zu allen möglichen Ländern weltweit. Seitdem ist Syrien der Himmel für alle, die die Folter lieben. Überall wird gefoltert, Menschen sterben unter Folter und alle wissen davon. Nach dem Irakkrieg beispielsweise wurden Jihadisten aus der ganzen Welt in syrische Gefängnisse geschickt.
Das sind alles zunächst nur Behauptungen – aber wenn wir auf die Fakten schauen, lässt sich sagen, Syrien ist ein Ort, an dem es viele verschiedene Gruppen – Ethnien, Sekten und Religionen – gibt und dass es zwischen ihnen bisher keine Konflikte oder Bürgerkriege oder etwas in der Art gab. Was ist also der Grund für diesen Bürgerkrieg, der jetzt gerade stattfinden soll? Assad behauptet, dass das Regime, dass Repression die beste Lösung sei, um all die Differenzen zu deckeln. Nach elf Monaten konnten wir noch immer keine überzeugenden Hinweise darauf finden, dass dieser Bürgerkrieg stattfindet. Wir sehen keine Konflikte zwischen Kurdinnen, Kurden und AraberInnen oder zwischen SunnitInnen und ChristInnen, obwohl sie alle in denselben Städten miteinander leben. Es gab vereinzelte Vorfälle, aber soweit wir wissen, wurde niemand aus ethnischen oder religiösen Gründen getötet. Und wenn es doch vereinzelte Fälle gegeben haben sollte, ist das – so hoffe ich – noch kein Bürgerkrieg. Das ist unsere Antwort auf die Behauptungen des Regimes.
Phase~2: Du hast bei Diskussionsveranstaltungen in Dresden und Berlin, die beispielsweise von Avanti und anderen linken Gruppen organisiert wurden, zu den Aufständen in Syrien gesprochen. Dabei bist Du mit vergleichsweise vielen Linken in Kontakt gekommen. Was hast Du gesehen und gehört und wie ist Deine Meinung über die deutsche Linke oder über einzelne Teile?
Hozan Ibrahim: Ich kann nicht sagen, dass ich mich mit der Szene sehr gut auskenne. Aber ich war natürlich schon ein paar Mal hier und habe hier einige Freundinnen und Freunde. Mir ist durchaus aufgefallen, dass die deutsche Linke nicht einheitlich ist. Und sie spielt sicher keine dominante Rolle in der deutschen Politik. Aber man könnte vielleicht sagen, sie spielt eine Rolle des Gewissens der deutschen Politik und für die politischen Ideen. Ein Teil der Linken scheint mir aber in der Sowjetischen Phase und im Kalten Krieg stecken geblieben. Vielleicht vergleiche ich das am besten mit den Gruppen, in denen ich mich lange bewegt habe. In Syrien gibt es auch einige Linke und KommunistInnen, die immer noch dem Traum von der Sowjetunion anhängen. Die denken noch immer, die beste Interpretation der Marxschen Ideen war die Sowjetunion. Ihr Feind ist der Westen – nicht der Kapitalismus oder die sozialen Strukturen. Sie ignorieren noch immer die gegenwärtigen sozialen Bedürfnisse ihrer eigenen Gesellschaft und lasten alle Probleme irgendwelchen mächtigen, unerkannten StrippenzieherInnen an, die die Welt angeblich lenken. Das ist ein Problem, das ich bei einigen Linken sehe. Es gibt aber auch andere, die ich respektiere. Sie stehen noch immer für die Ideale der Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre, die sich für Freiheit und für die Revolution einsetzten. Die Mehrheit der Menschen will soziale Gleichheit und Unabhängigkeit von nationalen Entscheidungen, könnte man vielleicht sagen. Es geht nicht darum, gegen jemanden zu sein, sondern darum, individuelle Bedürfnisse zu befriedigen.
Wenn wir uns also die Probleme in Syrien aus einer linken Perspektive anschauen, dann erscheint uns die syrische Regierung natürlich nicht als letzte Verteidigerin einer linken Sache oder des Sozialismus. Stattdessen hat sie linke und soziale Gleichheitsideen missbraucht und dem Land nur Unterdrückung gebracht. Wir müssen nun die Menschen unterstützen, die nach ihren Rechten verlangen, weil wir auf einer menschlichen Ebene mit ihnen verbunden sind. Und natürlich geht es da nicht nur um Syrien. Es geht auch um den Iran, wo die Revolution gerade wiederbelebt wird.
Ich war auch bei einigen Veranstaltungen und habe dort widersprüchliche Positionen von der Linkspartei gehört. Ich war wirklich schockiert, als ich mit Mitgliedern der Partei gesprochen habe, von denen einige sogar Bashar al-Assad unterstützten. Die meinen, man müsse eine internationale Intervention stoppen – dabei war bisher überhaupt nichts Derartiges geplant, obwohl die syrischen Oppositionellen die internationale Gemeinschaft dazu aufgerufen haben. Ich finde, sie könnten eine hilfreichere Einstellung unserer Sache gegenüber haben.
Phase~2: Sprechen wir noch einmal über Syriens Beziehungen zu anderen Ländern, insbesondere über den Iran. Wie würdest Du dessen Rolle für die gegenwärtige Situation in Syrien beschreiben?
Hozan Ibrahim: Der Iran ist der stärkste unmittelbare Unterstützer des syrischen Regimes. Er kann und will diese Verbindung nicht aufgeben, weil er über Syrien Israel entgegentreten und die Hisbollah unterstützen kann. Der Iran unterstützt das syrische Regime beispielsweise finanziell, indem er syrisches Öl in der syrischen Währung, statt in Dollar, vertreibt. Die Leute sind so gezwungen, syrische Lira zu kaufen, um damit das Öl bezahlen zu können. So nimmt der Iran über den Umweg der Wirtschaft Einfluss auf die syrische Regierung. Außerdem sendet der Iran so genannte Militärexperten. Bisher hat er allerdings keine Truppen zur Unterstützung des Regimes geschickt.
Phase~2: Eine Resolution des UN-Sicherheitsrates ist am Veto Russlands und Chinas gescheitert. Russland verfolgt eigene politische Absichten in der Region, wie sieht es aber mit China aus? Und wie bewertest Du die Rolle der Europäischen Union im Konflikt?
Hozan Ibrahim: China will lediglich seine wirtschaftlichen Interessen in der Region wahren. Darum geht es. China fördert in Syrien Öl, nicht im großen Maßstab zwar, Syrien ist aber ein Markt. Ich glaube nicht daran, dass das Land irgendeine direkte politische Rolle in der Gegend spielt. Es war im Gegenteil eine ziemliche Überraschung für uns, dass China sich auf die Seite Russlands gestellt hat, weil wir im Vorfeld einige – natürlich nicht direkte – Gespräche geführt hatten. Und da sah es zunächst nach einer neutralen Position aus. Ich schätze, China würde wohl seine internationale politische und wirtschaftliche Position riskieren, wenn es uns unterstützen würde. Da geht es eher um ein breiteres strategisches Gleichgewicht, als um die wirtschaftlichen Beziehungen mit Syrien. Ein Regimewechsel könnte auch den internationalen und den arabischen Blick auf Syrien verändern. Das Rad der Geschichte rollt.
Im Zusammenhang mit der EU sprechen wir über eine ganz neue Situation. Die Arabische Liga und auch die EU haben ziemlich langsam reagiert. Die EU als politische Vereinigung war nicht sonderlich aktiv, nicht mal auf dem Balkan, der ja direkt vor ihrer Haustür liegt. Es vergingen drei Jahre, bevor etwas unternommen wurde, sei es politisch oder militärisch. Ich denke, die Hauptakteure Frankreich, Großbritannien und jetzt auch Deutschland versuchen politischen und wirtschaftlichen Druck aufzubauen, aber nicht direkt. Sie versuchen es durch die Arabische Liga und durch die Türkei. Die EU schiebt Frankreich und Großbritannien und, was humanitäre Hilfe betrifft, auch Deutschland in die erste Reihe. Vielleicht hat die EU aus dem Beispiel Libyens gelernt, da wurde schneller gehandelt, aber es kam nicht zu den erhofften Ergebnissen. Vielleicht ist man deshalb in Syrien zögerlicher. Jetzt wird auch langsam klar, dass sich die Lage vielleicht in Richtung Krieg entwickelt und deshalb fängt man an, etwas zu tun.
Phase~2: Mit Blick auf Ägypten und Tunesien, wo neue islamistische politische Bewegungen auf dem Vormarsch sind – wie schätzt Du hier die Entwicklungen in Syrien ein?
Hozan Ibrahim: In Syrien gibt es keine wirkliche politische islamistische Bewegung außer der Muslimbruderschaft. Sie sind die einzigen und sie sind ein politisches Problem. Die Muslimbrüder haben bereits früher das syrische Spiel zusammen mit der Baath-Partei gespielt. Seit den Aufständen sind ein paar neue islamische politische Kräfte entstanden. Aber das ist alles vage. Sie werden noch nicht als Problem wahrgenommen. Eine »Phobie« haben die Menschen nur gegenüber den SalafistInnen, aber die haben hier keine Mehrheit. Ich würde sagen, es gibt noch keinen politischen Islam, sondern einfach ein normales religiöses Umfeld. Aber das ist gerade alles noch unklar.
Das Interview führte Phase~2, Berlin