Die Aufhebung der Avantgarde

Die Situationistische Internationale (S.I.) ist aus versprengten Resten der französischen Kunstavantgarde nach dem zweiten Weltkrieg hervorgegangen. Sie richtete sich gegen die Borniertheit der Künstler-Kreise und die Szene linker Polit-Spezialisten, um außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs eine umfassende Kritik der kapitalistischen Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu formulieren. In diesem Zusammenhang war es eines ihrer zentralen Anliegen, eine von Hegel ausgehende marxistische Theorietradition zu rekonstruieren und daraus eine Kritik der »Gesellschaft des Spektakels« zu entwickeln. Deren Augenmerk ist besonders auf die Bildhaftigkeit kapitalistischer Warenproduktion und -konsumtion gerichtet, begreift das Alltagsleben als Hauptfeld der Auseinandersetzungen, setzt sich intensiv mit Zeitstrukturen und Geschichtsschreibung in der Warengesellschaft auseinander und widmet sich der Ordnung des urbanen Raums als einem wichtigen Aspekt der Disziplinierung rund um die Lohnarbeit. Da es der S.I. darum ging, die Revolution neu zu erfinden, lohnt es sich heute, im Rückblick anzuschauen, wie diese Gruppe mit dem zentralen Vermittlungsproblem dieses Versuchs umging: dem von Theorie und Praxis.

Im Transcript Verlag erschien dieses Jahr Situationistische Internationale – Eintritt, Austritt, Ausschluss von Max Jakob Orlich, das sich mit der Gruppenpraxis der S.I. auseinandersetzt. Mit über 600 Seiten stellt es eine der bisher umfassendsten Untersuchungen der S.I. im deutschsprachigen Raum dar. In seiner Dissertation widmet sich Orlich vor allem der organisatorischen und personellen Gruppenstruktur der S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Einzigartig dürfte bisher der Versuch sein, die Theoriebildung und die Dynamik der Gruppenstruktur in ihrer wechselseitigen Bedingtheit mit solcher Akribie zu rekonstruieren. Dennoch ist die Geschichte, die Orlich erzählt, relativ schnell zusammengefasst: Während die S.I. in ihrem Anfangsstadium, seit sie sich 1957 als Fusion verschiedener europäischer KünstlerInnengruppen gegründet hatte, im Prozess der Theoriebildung noch Widersprüche innerhalb der Gruppe zulassen konnte, erstarrte die Gruppenstruktur zunehmend ab dem Zeitpunkt, als die inhaltlichen Punkte geklärt zu sein schienen (um 1963). Die rigide Ausschlusspolitik der S.I. verkam nach 1968 zu einem Ritual. Es gelang ihr nicht mehr, den eigenen Anspruch der Hierarchielosigkeit umzusetzen, bis schließlich Guy Debord als eines der letzten verbleibenden Mitglieder die Gruppe Anfang 1972 auflöste.

In ihrer theoretisch-methodischen Ausrichtung ist die Untersuchung jedoch von Anfang an problematisch: anstatt materialistisch zu rekonstruieren, warum in einer bestimmten Entwicklungsphase des modernen Kapitalismus bestimmte Probleme in einer Kritik dieser Verhältnisse zentral wurden, legt Orlich einen mikrosoziologischen Filter über seine Betrachtung dieser Gruppe. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist für ihn vor allem ein Verhältnis von Organisationsanspruch und dessen tatsächlicher Umsetzung in der Gruppenpraxis, die er in ein Netz interpersoneller Beziehungen auflöst. Damit gelingt es ihm zwar, ein sehr genaues Bild der Verhältnisse der einzelnen Personen untereinander und zur Gesamtstruktur der Gruppe nachzuzeichnen. Ein Interesse an der Gesellschaft als Ganzer und der Verwobenheit der Akteure in diese findet sich dagegen nicht. So bleibt die S.I. als eine außergewöhnliche künstlerische und politische Gruppe übrig, die sich um die Entwicklung einer »Idee« herum konstituierte und die ein gruppensoziologischer oder ideengeschichtlicher Forschungsgegenstand zu sein scheint, dem sich Orlich offensichtlich interesselos nähert. Sein Desinteresse für den gesellschaftshistorischen Weg, den die S.I. erschloss, und der sozialen Entwicklung, die im Aufstand der proletarischen »Bewegung der Besetzungen« der Fabriken usw. in ganz Frankreich im Mai 1968 resultierte, ist eklatant.

 Dass in dieser Blickverengung die Darstellung der S.I. nur äußerlich bleiben kann, zeigt sich schon am Untertitel des Buches, der das hartnäckige Missverständnis reproduziert, dass die S.I. eine »ästhetisch-politische Avantgarde« gewesen sei. Dass die S.I. das Konzept der Avantgarde ablehnte und es einer ihrer Hauptansprüche war, die bisherige Borniertheit der Kunst-, Polit- oder gar Partei-Avantgarden aufzubrechen, nimmt Orlich zwar zur Kenntnis. Doch versucht er sie geradezu gewaltsam dennoch unter diese Kategorie zu subsumieren – dies gelingt ihm nur, indem er ihre revolutionäre Perspektive durchstreicht. Hierzu kritisiert er zunächst Peter Bürgers »Theorie der Avantgarde«, derzufolge die historischen Avantgarden ihrem eigenen Anspruch nach gescheitert sind. Bürger attestiert den Postavantgarden, dass sie die Gesten der historischen Avantgarden nur hilflos wiederholen könnten, weil deren sprengender Charakter historisch einmalig gewesen sei und fruchtlos würde, nachdem die Avantgarden selbst in die Institution der Kunst reintegriert worden wären. Dagegen verkauft Orlich das Scheitern der Avantgarden als deren eigentliches Konzept: Ihm zufolge sollte das »Ziel einer Untersuchung der Avantgarde sein, ›ihren […] für die Kunst unseres Jahrhunderts grundsätzlich innovativen, auch in ihrem Scheitern noch anregenden Charakter zu erfassen.‹ In diesem Zusammenhang ist zudem zu überlegen, inwiefern das Scheitern bzw. das Verschwinden eine produktive Funktion für die Fortsetzung des Projekts Avantgarde besitzt und daher eher verbindet als trennt […].« Damit setzt er auf das Nullsummenspiel sich ewig ablösender Neo-Avantgarden und bringt den historischen Bruch der S.I. mit den Avantgarden zum Verschwinden. Dies kann ihm jedoch nur gelingen, indem er den Anspruch der Avantgarden verschwinden lässt, dass die Aufhebung der Kunst nur durch eine Revolutionierung der gesamten Lebenswelt gelingen kann. Dass dieser Anspruch gerade nicht in den Formen der alten Avantgarden gelingen kann und daher die Trennungen in spezialisierte Institutionen und Disziplinen zu überwinden sind, war aber die Einsicht der S.I., die meinte, aus den Niederlagen der vergangenen Kämpfe gelernt zu haben.

So spannend Orlichs anekdotische Ausführungen auch im Detail sein mögen und so lohnenswert es zweifellos ist, sich mit dem Verhältnis von kritischem Anspruch und Privatsphäre sowie dem Anspruch einer Gruppe an ihre Mitglieder auseinanderzusetzen (gerade, weil hier eine typische Dynamik linker Gruppenbildung zum Vorschein kommt) – den situationistischen Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis wird Orlich nicht gerecht. Das Lesen des Buches ist zudem anstrengend und wirkt bei aller Detailfülle redundant. Wenn Orlich am Schluss zu dem Ergebnis kommt, dass die S.I. mit ihrer Auflösung zu »[e]inem Ende« findet,  »das der Ausgangspunkt weiterer Fragen ist«, ihm aber selber keine einzige Frage einfällt, die zu stellen wäre, fragt man sich, wozu er sich überhaupt die Mühe gemacht hat, über 600 Seiten mikrosoziologische Studien zu produzieren, und gelangt zu dem Schluss: diese Arbeit ist eine rein akademische Indienstnahme der S.I.

Wer sich selbst ein direktes Bild von der Ausschlusspolitik, der Beziehung zu anderen politischen Gruppen, dem Prozess der Selbstverständigung der S.I. und insbesondere von der Bedeutung Guy Debords, dem wohl bekanntesten Situationisten, machen möchte, sei auf dessen ausgewählte Briefe verwiesen, die 2011 in der Edition Tiamat erschienen sind. Die Dynamik des Gruppenprozesses, die Orlich in seinem Buch nachzeichnet, lässt sich hier in direkter Verbindung mit den theoretischen Auseinandersetzungen der S.I. nachvollziehen. Besonders interessant sind hierbei die Briefe an den radikalen Flügel der Gruppe Socialisme ou barbarie und an die Anarchistische Internationale, teilweise erstmals auf Deutsch ungekürzt vorliegende Quellentexte, in denen Debord die Beziehung der S.I. zu diesen Gruppen sowohl in theoretischer als auch organisatorischer Perspektive klärt. Debord selbst erscheint in den Briefen als eine Person, die sowohl gegenüber anderen Gruppen als auch gegenüber anderen Mitgliedern der S.I. stets auf einer gewissen Disziplin beharrt, im Fall von Differenzen kein Blatt vor den Mund nimmt und seine Ablehnung gegenüber Kompromissen konsequent durch Abgrenzungen umsetzt. Der Eindruck, den die Härte seines Tonfalls, die sich oftmals in knappen, gebieterischen Anweisungen zeigt, erzeugt, und die das Bild Debords als »Chef« der S.I. zunächst zu bestätigen scheint, wird jedoch dadurch ein Stück weit korrigiert, dass er stets und bis zum Kontaktabbruch fair bleibt, auch unvermutete  Geduld, Höflichkeit und Frustrationstoleranz an den Tag legt. Gerade die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen und der Ausschluss einzelner Mitglieder der eigenen Gruppe zeugen davon, dass diese als selbständig Denkende und autonom Handelnde anerkannt werden. Leider ist eine Reflexion auf Debords Rolle in der S.I. dahingehend erschwert, dass seine Briefe, die bisher vollständig nur auf Französisch und in Auszügen auf Englisch veröffentlicht wurden, keinen Briefwechsel darstellen: zugänglich sind nur die Briefe, die Debord an seine Briefpartner geschrieben hat. Bei Orlich kann man erfahren, dass dies darauf zurückführbar ist, dass Debords Witwe die Antwort-Briefe zurückhält, um ein Bild Debords in ihrem Sinne zu konstruieren. Dem weiteren Personenkult um Debord wäre damit Tür und Tor geöffnet. Für eine Rekonstruktion der Geschichte der S.I., in der eine revolutionäre Perspektive nicht verloren ginge, bleibt noch allerhand zu tun. Wenn die S.I., die immer noch als Bild umhergeistert, jedoch ihrer eigenen Forderung entsprechend endlich »aufgehoben werden« soll, müsste sie vielschichtig, d.h. auf allen Ebenen (ästhetisch, politisch, sozial) aktualisiert werden, und dann kann es nicht bei einer weiteren anekdotischen »Rekonstruktion der S.I.« bleiben.

LUKAS HOLFELD

Max Jakob Orlich: Situationistische Internationale – Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957–1972), transcript Verlag, Bielefeld 2011, 630 S., € 42,80.

 Guy Debord: Ausgewählte Briefe 1957–1994, Edition Tiamat, Berlin 2011, 336 S., € 28,00.