Der folgende Aufsatz von Thomas Ebermann basiert auf seinem Vortrag, den er auf dem Antifa-Kongress in Göttingen hielt. Die Abweichungen vom gesprochenen Wort können erheblich sein.
Wie ersichtlich, hatte ich mich entschieden, meine Differenzen zur Autonomen Antifa (die selbstverständlich höchst plural ist, eigentlich nur aus Individuen originellster Art besteht) kaum zu benennen. Ob das richtig war, weiß ich nicht, denn die behauptete Offenheit für einige Fragestellungen, bildet doch einen erstaunlichen Kontrast zu beinharten Festlegungen, die nach dem Kongress zu lesen waren.
In der Zeitschrift ak zum Beispiel, weiß Maren aus Berlin (und ihre Genossen aus Leipzig und Göttingen widersprechen nicht): »der so genannte Antifa-Sommer hat zumindest deutlich gemacht, dass sich die rot-grüne Koalition im Gegensatz zur vorherigen konservativen Bundesregierung um eine ›Normalisierung‹ der deutschen Innen- und Außenpolitik, sprich Angleichung an westeuropäische Standards bemüht«. Das Datum, der Antifa-Sommer, ist eine neue Note im großen Konzert der vielen Stimmen, die Deutschlands Normalität besingen. Dass es bei diesen Kundgebungen auch um Außenpolitik ging, ist mir glatt entgangen. Auch dass eine Regierung, die antritt, nichts anders, aber vieles besser als ihre Vorgänger zu machen, so grandios von der alten differiert, ist ein kleines Wunder, welches ich gerne mal am Unterschied von Kanther und Schily bebildert hätte. Waren es Christ- und Freidemokraten, die Walser stehend applaudierten, während Grüne und Sozies schwiegen? Kann ein beliebiges Zitat aus der Nationalstolz-Debatte, dessen Urheber unbekannt ist, einer Parteizugehörigkeit zugeordnet werden? Macht Rot-Grün die Vertriebenenverbände zur Schnecke?
Und noch etwas: Was ist eigentlich der »westeuropäische Standard«, der so oft bemüht wird, wenn man nicht über Deutschland reden will? Handelt es sich hier um eine Meßlatte, die man sich in Italien so gut ausborgen kann wie in Frankreich?
Deutschland ist normal, aber über Sonderweg-Theorien reden wir mal, zum Zwecke der Schließung einer Bildungslücke.
Das war mein Interesse - nicht.
Als der Terminus »Sonderweg« noch ein positiv besetzter Kampfbegriff war, also ungefähr in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Nationalsozialismus, las sich eine Begründung zum Beispiel so: »So oft eine Welle westeuropäischen Denkens unsere geistige Entwicklung gleichsam überflutet hat: in dem Rationalismus und den humanitären Ideen der Aufklärungsperiode, in den Wirtschaftslehren, dem naturwissenschaftlich orientierten Positivismus und Empirismus und den sozialistischen Weltbeglückungstheorien des 19.Jahrhunderts - immer wieder sieht man den deutschen Geist sich dagegen zur Wehr setzen, unablässig den Versuch erneuern, das fremde Gedankengut im Sinne Luthers zu ethisieren, die Unbedingtheit unserer Kulturideale zu behaupten gegen allen Ansturm mechanistischer Theorien der Welterklärung und endämonistischer Morallehren, die das materielle Wohl, das Glück und die Nützlichkeit an Stelle rein geistiger Werte zum Maßstab sittlichen Handelns erheben möchten.«
1925 wurde das verzapft, vom Historiker Gerhard Ritter, der gegen die Weimarer Republik eine Oppositionsideologie verkündete (bis 1918 wäre das Zitat als Legitimation des bestehenden Staatswesens verstanden worden), sich aber zugleich in Übereinstimmung mit der überwältigenden Mehrheit seiner Zunft, mehr noch, mit der Majorität der damaligen Eliten wusste. Details, andere Nuancen katholischer Patrioten zum Beispiel, vernachlässige ich hier.
Bleiben wir bei der Zunft der Historiker (und bedenken ihren Einfluss auf die massenwirksamen Medien), dann stand nach 1945, nachdem sie fast alle dem Nationalsozialismus gedient hatten, keine Revision ihrer positiven Theorien vom deutschen Sonderweg, wohl aber eine Bereinigung ihrer Schriften von offen rassistischen, antisemitistischen oder demonstrativ parlamentarismusfeindlichen Blüten auf ihrer Tagesordnung.
Schließlich konnte ihr Deutschland nur erneut aufsteigen, wenn es sich der westlichen Wertegemeinschaft anschloss, was die zähneknirschende Akzeptanz einer gewissen Bevormundung, die den Namen »begrenzte nationale Souveränität« trug, implizierte. In dieser Konstellation liegt die speziell deutsche Kunst begründet, dem Kalkül zu gehorchen, sich aber dennoch über das gemeinsame Gefühl zu verständigen. Rücksicht aufs Ausland ist seither Metapher für das eigentlich Abgelehnte. Jedenfalls musste, wer die deutsche Geschichte insgesamt als herrliche Veranstaltung beschreiben wollte - mit all dem daraus zu saugenden Gewinn für Stolz, Ewigkeit und Schicksalsgemeinschaft, - den Nationalsozialismus als dunkles Kapitel ohne Vorgeschichte, als Betriebsunfall eben, vorstellen. Man war also in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten (nur 21 Historiker kehrten bis 1965 aus dem Exil in die Bundesrepublik zurück) Außenseiter, wenn man die Konstanten deutscher Geschichte, beispielsweise die Kontinuität der gesellschaftlichen und politischen Strukturen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus erforschte. Man trug, so der Vorwurf, zur »Selbstverdunkelung des deutschen Geschichtsbewusstseins« bei.
Wenn ich nun die in kritischer Absicht verfassten Theorien zum deutschen Sonderweg erst würdigen und dann kritisieren will, dann nicht, weil ich ein Mann der Mitte und des Ausgleichs bin. Ich erlaube mir - zugegeben ungern - eine Trennung des von den bekannten Autoren vorgelegten Materials von ihrer jeweiligen Pointe, also der theoretischen oder politischen Zusammenfassung. Wenn also Norbert Elias in seinen »Studien über die Deutschen« beschreibt, wie »bürgerliche Menschen die Lebenshaltung und die Normen des Militäradels zu den ihren machen«, oder wenn er beobachtet, wie der spezielle »Aufbau des Gewaltmonopols« die einzelnen daran »gewöhnte, von klein auf in höherem Maße an eine Unterordnung unter andere, an den Befehl von außen« sich zu orientieren - dann ist das ein Mosaikstein, den deutschen Weg zu begreifen. Die Präzision, mit der Heinrich Mann den »Untertan« der Kaiserzeit porträtierte, lehrt ähnliches. Wenn Hannah Arendt die völkische Definition der deutschen Nation, der eine spezifische Stoßrichtung gegen die Juden innewohnt, herausarbeitet, dann ermittelt sie eine Besonderheit, die das Grauen (mit) vorbereitete, denn »psychologisch gesprochen ist der Unterschied zwischen dem verrücktesten Chauvinismus und diesem völkischen Nationalismus immer noch der, dass der eine sich immerhin mit der Welt und ihren greifbaren Realitäten beschäftigt, während das Völkische selbst in seiner harmlosesten Form (...) sich nach innen richtet und anfängt, die menschliche Seele als die ›Verkörperung‹ allgemeiner Stammeseigenschaften anzusehen; und da die Seele ja offenbar nicht etwas sein kann, was ›verkörpert‹, findet man seine Aushilfe im Blut«.
Als Kritiker des in Deutschland besonders verbreiteten Irrationalismus hat Lukacs Hervorragendes geleistet, und seine Überlegungen zur »verspäteten Nation« sowie zur nie erfolgreichen bürgerlichen Revolution, die eine feindliche Haltung zur bürgerlichen Demokratie, eine Unterordnung unter die Revolution von oben (unter deren Regiment prächtig Kapital akkumuliert wurde) zur Folge hatte, sind lesenswert. Fritz Fischer hat allen, die die Mär vom Hineinschliddern aller europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg glauben oder propagieren wollten, faktenreich die Leviten gelesen, indem er die Zielstrebigkeit deutscher Kriegspolitik - und damit die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus bewies. In seinem Gefolge haben Wehler und Kocka den Zusammenhang zwischen Wilhelminismus und Nationalsozialismus an vielen Beispielen bebildert.
Außenseiterisch, wie zu Beginn der 60er Jahre, ist das sicher heute nicht mehr, aber wer zum Beispiel die Würdigungen, die kürzlich Bismarck zu seinem 100. Todestag in den Massenmedien erfuhr, aufmerksam verfolgte, erlebte den Eisernen Kanzler als großartigen Staatsmann (mit kleineren Schwächen vielleicht) - keineswegs aber als Glied einer Kontinuität, die in Bismarck, Hindenburg und Hitler ihre Personifizierung hat.
Zugegeben, die aufgeführten Beispiele sind etwas willkürlich und so stichwortartig, dass sie kaum mehr als Anregung zum eigenen Studium sein können. Aber sie dienen in diesem Zusammenhang auch nur einem einzigen Zweck: »So wenig (...) Hitler als Schicksal dem deutschen Nationalcharakter zuzuschreiben ist, so wenig zufällig war doch, dass er in Deutschland hinaufgelangte«, schreibt Adorno. So wenig zufällig, nicht zufällig!
Vor der Kritik der Sonderweg-Theorien muss meines Erachtens die Ablehnung aller (mal von links, mal von rechts vorgetragenen) Versuche erfolgen, die nationalsozialistische Vernichtungspraxis in einem »großen bösen Urheber, der die Verbrechen einer totalitären Moderne ins Werk setzt« verschwinden zu lassen. Ich hasse bestimmte Gretchenfragen, in denen das »Entweder - Oder« nur eine Entscheidung erzwingen soll, wenig über Deutschland und viel über die westliche Moderne, die ja genug Hässlichkeiten zu bieten hat, zu reden: »Entscheidend dabei ist, ob der Holocaust ein Produkt der besonderen deutschen Geschichte oder ein Produkt des warenfetischistischen Modernisierungsprozesses in Deutschland war.« (Robert Kurz)
Es ist nun einmal Produkt der deutschen Geschichte, in der die »großen deutschen Konzeptionen (...) derart überschwänglich verherrlicht« wurden, dass es eine ebenso verherrlichende »Vergottung des Staates gebar (...) Drang zu unendlicher Herrschaft begleitete die Unendlichkeit der Idee (...) Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt, (...) hätte Hitler nicht gedeihen können. In den westlichen Ländern, wo die Spielregeln der Gesellschaft den Massen tiefer eingesenkt sind, wäre er dem Lachen verfallen.« Woanders, sagt Adorno, wäre Hitler ausgelacht worden, obwohl doch auch dort die Moderne am Ruder war. Schon in dem Verweis auf die Vergottung des Staates in Deutschland liegt allerdings eine Kritik, die über die Erkenntnisse der Sonderwegs-Theoretiker hinausweist. Damit komme ich zur Kritik, bei der ich mich auf drei exemplarische Komplexe beschränken will.
Erstens ist in der Sonderweg-Theorie das Bürgertum stets Träger eines Maximums an Vernunft. Es ist »eigentlich« liberal, wird aber ausgeschaltet, entmachtet, zur Ohnmacht verdammt. Es wird seiner »eigentlichen« Mission, seiner historischen Bestimmung nicht gerecht. Es versagt aus Furcht vor dem Proletariat oder aus anderen Gründen. Was in diesem Konstrukt nicht gedacht werden kann: Das Bürgertum besitzt keine »eigentlich« liberale Einstellung oder Mission. Das Gedeihen des Kapitalismus ist nicht prinzipiell an eine bürgerlich republikanische Verfasstheit geknüpft. Er verstößt gegen kein harmonisches Zusammenspiel von Produktivkraftentwicklung und »Überbau«, wenn er halb- oder undemokratische Staatsformen etabliert. Sein Aufstieg ist also an keine Regel geknüpft - und wenn schon eine Regel aufgestellt werden soll, wäre noch die plausibelste, dass, wer nach- oder aufholen will, in diktatorischen Momenten seine passenden Instrumente findet.
Zweitens, eng mit dem Gesagten zusammenhängend, wird der deutsche Sonderweg bis zum Nationalsozialismus nur als etwas Rückwärtsgewandtes verstanden, als »eigentlich« tradiert, als das Nachzucken einer untergehenden Epoche, als das Fortleben feudaler Strukturelemente, die ihren Platz auf dem Misthaufen der Geschichte, der ihnen gewiss ist, einfach nicht einnehmen wollen. Das Wort vom Rückfall in die Barbarei kündet von dieser Sichtweise ebenso wie der Terminus »Ewiggestrige«.
Drittens - mein wichtigster Punkt - ist dadurch der Gedanke völlig verstellt, dass neue gefährliche Wahnbilder durch die kapitalistische Produktionsweise und die ihren Anforderungen dienenden, aus ihr entspringenden Ideologien erst entstehen. Ist in einer Gesellschaftsordnung, in der jeder in der Konkurrenz sich zu bewähren hat, in der jeder etwas zu verkaufen haben muss (meist seine Arbeitskraft) oder untergeht, in der ständig Sieger und Besiegte ermittelt werden, in der der Siegreiche gut und der Besiegte schuldig ist, nicht angelegt, dass zwischen wertem und unwertem Leben unterschieden wird? Produziert das Wissen (oder Ahnen) um die Tatsache, dass jeder ein jederzeit ersetz- und auswechselbares Stück variablen Kapitals ist, nicht die Sehnsucht, doch wenigstens einem - dem nationalen - Kollektiv anzugehören, welches Schutz zwar nicht bietet, aber immerhin verspricht und die Imagination bedient, nicht ganz umsonst gelebt, sondern etwas Höherem gedient zu haben? Und wirkt in dieser schrecklichen, die Selbstaufgabe bis zum Tod fürs Vaterland implizierenden Sehnsucht nicht schon der Hass auf den Fremden, Ausländer, nicht zum Volkskörper gehörenden, Feind im Krieg? Hat diese Sehnsucht nicht befördert, dass im starken (aber gerecht soll er sein!) Staat auch der sozialdemokratische Arbeiter sein Ideal erblickte? Weshalb Lasalle dem Kaiser und Bismarck manch (ausgeschlagenes) Angebot machte und Bebel (1889) einen Vorsprung der Klasse, für die er sprach, in puncto nationaler Zuverlässigkeit bescheinigte: »Und wenn wir gehetzt und verfolgt werden und viel Unangenehmes zu erdulden haben, dann zeigen wir viel mehr Patriotismus und Vaterlandsliebe als diejenigen (... ), die aus den heutigen Staats- und Gesellschaftszuständen die größten Vorteile für sich und ihre Klassengenossen herauszubringen wissen.« Auch Karl Liebknecht geißelte in mancher Rede das Kapital als vaterlandslos - da wurde sozusagen mit gleicher Münze zurückgezahlt.
Ist in der kapitalistischen Produktionsweise nicht angelegt, dass die Zirkulationssphäre als die böse, spekulierende, »raffende« erscheint, während eine produktive Arbeit des Kapitalisten, der für Lohn und Brot sorgt, behauptet wird? So wurde und wird der ausbeuterische Charakter des ökonomischen Systems zugedeckt, das ökonomische Unrecht den Juden aufgebürdet (man nennt das Prinzip heute oft Shareholder Value oder anonymer, internationaler Finanzmarkt) - und der konformistischen Revolte der Adressat geliefert.
Auch wenn ich hier nur andeuten, kaum argumentieren kann, so sollen die dünnen Beispiele doch vermitteln, dass die ökonomischen Grundlagen einer Produktionsweise einen bewusstseinsprägenden Einfluss besitzen. »Nationalcharakter, die moderne Version des Volksgeistes, verharmlost das Unbegreifliche (...). Eine gesellschaftliche Auflösung ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich.« Die hier gemachte Feststellung betrifft einerseits die notwendige Scheu von Linken gegen den Begriff des Nationalcharakters, der ja eine (Zwangs-) Kollektivierung vornimmt (der übrigens all die Landsleute freiwillig zustimmen, wenn sie »Wir sind ein Volk« brüllen). Das Erkennen besonders ausgeprägter, haushoch majoritärer Gesinnungen ist allerdings unbedingt nötig, hat jedoch zum blödesten aller Vorwürfe an die Antideutschen, sie seien »antideutsche Rassisten«, geführt.
Doch zurück zum vorgestellten Zitat. Die Kritik der Verharmlosung meint ja, dass »das Unbegreifliche« als Möglichkeit der kapitalistischen Produktionsweise innewohnt. Also unter bestimmten Umständen zukünftig scharf gemacht werden kann - nicht nur in Deutschland. Wenn also Horkheimers Diagnose, dass »diejenige Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, (...) von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich trug«, richtig ist, dann muss falsch sein, dass 1945 jede Gefahr beseitigt wurde, durch erzwungene Westeinbindung und die sie begleitende »Umerziehung«. Diese »Verharmlosung« ist allerdings das Credo (fast) aller Sonderweg-Theorien, deren Apologie der westlichen, bürgerlich-kapitalistischen Nationen nie zu wanken drohte.
Dass ihnen die Grausamkeiten, die der, von ihnen als »normal« beschriebene, Betrieb so mit sich bringt, keine Kritik wert war, versteht sich von selbst. Das sind die Gründe - um auch einmal aus einem Buch von Rainer Trampert und mir zu zitieren (»Die Offenbarung der Propheten«) -, warum radikale Linke mit Blick auf die Konflikte zwischen Germanophilen und Pro-Westlern »zwischen ihnen so wenig Raum wie auf einer der beiden Seiten haben. Sie würden zwischen den Mühlsteinen des antiwestlichen und des westlichen Kapitalismus zermahlen werden«.
Ich vermute, dass sich gerade bei vielen Zuhörern (jetzt Lesern) die Frage stellt: Warum macht der erst so viel Aufhebens um die Sonderweg-Theorien, wo doch zum Schluss ein fundamentaler Verriss steht.
Also drehen wir die Runde erneut, diesmal am Beispiel Goldhagen. Seine Wirkung in Deutschland ist schnell erzählt. Im ersten Zug hat ihn die hiesige Geschichtswissenschaft und Publizistik gehasst, unter anderem, weil seine Untersuchung ihr Bild vom eher harmlosen, zum Mitmachen gezwungenen, selbst nicht recht einverstandenen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus materialreich zerstörte. Er wurde hier zu Lande immer beliebter, je mehr er betonte, seine historische Studie habe keineswegs die Intention, dem heutigen Deutschland eine Kontinuität anzulasten. Es sei vielmehr vorbildlich geläutert. Eine geistesgeschichtliche Episode, ein System von Überzeugungen und kulturellen Prägungen sei abgeschlossen, eben durch den demokratischen Verfassungsstaat - ein militärischer Niederwurf zum Zwecke der Umerziehung gebühre nunmehr den Serben.
Man mag sagen, das sei die logische Konsequenz jeder Sonderweg-Theorie, träfe damit die halbe Wahrheit, nicht aber die Unbedingtheit, mit der Goldhagen sich in Gegensatz zu jenen begab, die periodisch erhebliche Zweifel an der deutschen Läuterung anmelden - Ignaz Bubis tat das zeitlebens und stellte vor seinem Tode das Scheitern der Hoffnungen, die er ja mit Goldhagen teilte, fest. Ist Goldhagen deshalb ein »toter Hund«, ein unbeachtlicher Autor? Ich verneine dies nicht nur mit Blick auf die radikale Linke nach `68, deren nicht außenseiterischer Bestandteil ich war, nicht nur mit Blick auf die Geschichtsschreibung in der DDR, die ein gutes aber betrogenes Volk zu kreieren hatte, mit dem prächtig Sozialismus zu machen sei. Ich meine, Goldhagen stellt komplizierte Fragen an mich, auf der Höhe meiner heutigen Erkenntnisse. Indem er die Lust an der Grausamkeit, die Emotionalität, den ausgetobten Hass, das vom einzelnen Volksgenossen erbrachte »Übersoll«, den Vollzug des »mehr als nur befohlenen« so stark herausarbeitet, ist er tatsächlich ein Widerpart etwa der Schrift von Hannah Arendt über »Eichmann in Jerusalem« . Hier, aber auch in Hilbergs »Die Vernichtung der europäischen Juden« habe ich gelernt vom bürokratischen Charakter, von der nüchternen Organisiertheit der Vernichtungsmaschine, betrieben von gleichgültigen Untertanen ohne Spontaneität; kalkulierenden, kalten Gestalten, die routiniert töten, wie sie auch einer anderen Arbeit nachgehen könnten. Und wer eben seinen Broterwerb nicht im Töten findet, jedoch im Bewusstsein schon jedes Ding und jeden Menschen auf die Tauglichkeit zur industriellen Verwertung prüft, den geht dies alles nichts an: »Die Angehörigen anderer Sparten der Arbeitsteilung können mit der Gleichgültigkeit zusehen, die der Zeitungsleser angesichts der Meldung über Aufräumarbeiten am Schauplatz der Katastrophe von gestern nicht verliert.« (Adorno/Horkheimer)
Die Gleichgültigkeit der instrumentellen Vernunft ist dem Hass nicht entgegengesetzt, sondern Hass und Indifferenz gehen eine Verbindung ein, sie fusionieren. Es entlädt sich eine Wut gegen den »existenziellen Feind«, die Juden, die ohne Nutzen für den Täter ist. Das Kollektiv, das »weder ökonomisch noch sexuell auf seine Kosten kommt, hasst ohne Ende«. Die grausame Spontaneität der Täter befördert die Effizienz der industriellen Vernichtung. Was ich hier andeuten wollte - wer mehr als Andeutungen will, muss nachlesen -, ist das Verhältnis von Kalkül und Wahn, welches im Nationalsozialismus seine Zuspitzung oder Verwirklichung fand. Es begegnet uns täglich, natürlich in drastisch abgeschwächter Form. In den Wochen des Kriegs gegen Jugoslawien sah ich in den Einkaufsstraßen Menschenmassen, die weder fanatisiert gegen Serbien pöbelten, noch bedrückt waren - sie suchten halt nach günstigen Angeboten im Sortiment der Supermärkte. Die gleichen sachlichen Gestalten können Mordphantasien absondern, wenn die Stimmung gegen »schwarze Dealer« bei mir im Schanzenviertel in Hamburg wieder einmal hoch kocht. Beide Charaktere vermitteln mir die Einsamkeit von Emanzipationsbestrebungen in der heutigen Gesellschaft, auch wenn die Autonome Antifa gerade wieder ganz viele Widersprüche und neue Arbeitsfelder in hoch brisanten Teilbereichen entdeckt.
Im »Manifest der Kommunistischen Partei«, dieser großartigen Agitationsschrift von Marx und Engels, sind Hoffnungen ausgedrückt ( die Autoren hielten sie für wissenschaftliche Erkenntnisse), die wir heute verwerfen müssen. Für meinen Zusammenhang sind hier die Prognosen wichtig, die ein Verschwinden von religiösen, nationalen, rassistischen oder auf das Verhältnis der Männer zu den Frauen bezogenen Bewusstseinsformen vorhersagen. Ich meine Feststellungen wie: »Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie«, oder an anderer Stelle: »Je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der Weiber verdrängt. Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse.« In diesen Feststellungen wird, vereinfacht ausgedrückt, die Arbeiterklasse jeden Tag etwas klüger - auch dank der Produktivkraftentwicklung durch die Bourgeoisie. Heute können wir besser als die Klassiker erkennen, wie tief sich die kapitalistische Produktionsweise in jeder Faser der Malocher einprägt (besonders in Zeiten, da Befreiung so unendlich entfernt erscheint). Auch das meint Marcuse, wenn er reflektiert, dass (auch das »Manifest«) »noch zu sehr dem Begriff des Kontinuums des Fortschritts verhaftet war«. Wenn also richtig ist, dass »die Integration der Gesellschaft (...) die Subjekte immer ausschließlicher als Teilmomente im Zusammenhang der materiellen Produktion bestimmt, dann setzt die Veränderung der technischen Zusammensetzung des Kapitals in den durch die technologischen Anforderungen des Produktionsprozesses Erfassten und eigentlich überhaupt erst Konstituierten sich fort. Es wächst die organische Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich selber Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.«(Minima Moralia) Wer sich derart selbst getötet hat, seine lebendigen Zwecke liquidiert hat, sich diesen schmerzhaften Prozess der Entsagung auch noch hoch anrechnet, der muss fast zwangsläufig von wahnhaftem Hass auf alle, in denen er noch Leben vermutet, getrieben sein. Ob - was er sich nicht erlaubt - auf den lässigen Schwarzen, den keine Steuern zahlenden Zigeuner, den ohne Arbeit durchkommenden Juden, den in Saus und Braus lebenden Sozialschmarotzer projeziert, ob zu Recht oder (meist) zu Unrecht,der Hass der Normierten ist den Stigmatisierten gewiss. Er kann vom Staat scharf gemacht oder gedeckelt werden. Diese Latenz ist es, die schaudern lässt.
P.S. Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich mit der hier hervorgehobenen Kategorie des Wahns weder alles erklären will noch kann.
Die Senkung der Lohnnebenkosten, geostrategische Optionen und Kriege, Rekrutierung benötigter Arbeitskräfte auf dem Weltmarkt, Staatenbündnisse und Währungsschlachten sind kühl kalkulierte Notwendigkeiten zur Sanierung der Profitrate, zur Verfügung über Rohstoffe und Menschenmaterial.
Wer zu allem, was der marktwirtschaftliche Alltag so bietet, nur »Wahnsinn« zu bemerken weiß, hat weniger als die Hälfte begriffen.
Thomas Ebermann